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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
... Gespräche in der Intensivmedizin
Kommunikation in der Intensivmedizin 
 
Kommunikation in der Intensivmedizin
Kommunikation auf der Intensivstation hat höchste Priorität, sie ist buchstäblich lebensnotwendig. Diesem hohen Kommunikationsbedarf stehen, wie kaum in einem anderen Bereich der Medizin, zahlreiche Kommunikationshindernisse entgegen:
  • organische und seelische Auswirkungen und Folgen der Krankheit selbst,
  • therapiebedingte Kommunikationshindernisse (Sedierung, Intubation, Beatmung)
  • Störungen im Beziehungsmuster zwischen Patient und Behandlungsteam,
  • sprachliche Barrieren (Fachsprache, ausländische Patienten)
  • Zeitdruck, Überbeanspruchung und Ausbildungsdefizite beim Behandlungsteam.
Die vorrangigen Kommunikationsziele in der Intensivmedizin lauten:
  • Orientierungsmarken setzen: Das heißt, den Patienten über Ort und Zeit informieren, über Zweck und voraussichtliche Dauer der Behandlung, über Name, 
  • Rolle und Funktion der einzelnen Mitglieder des Behandlungsteams; 
  • Wiederherstellung des Selbstwertgefühls, dessen tiefgreifende Störung ein wesentliches Merkmal der Wirklichkeit des Intensivpatienten ist;
  • Ängste verringern: Dominierend sind Trennungs- und Verlustängste, Leidens- und Zukunftsängste;
  • kontaktive Angebote: Präsent sein, Sicherheit signalisieren, Kontakte anbieten, nonverbale Signale verstehen und geben;
  • Hoffnung geben; das "Prinzip Hoffnung" darf niemals vernachlässigt werden, auch in den schwierigsten Situationen ist der berühmte "Funke Hoffnung" zu begründen.
Und selbst in ausweglosen Situationen erfüllt Kommunikation die Funktion des "Beistehens beim Untergehen" - und wird dann zur wesentlichsten Form intensivmedizinischer Betreuung.

Zu den Todsünden der Kommunikation in der Intensivmedizin (und nicht nur dort) zählen alle sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen und Verhaltensweisen, die die Verlorenheit und Anonymität des Patienten verstärken, die Störung seines Selbstwertgefühls intensivieren, ihn verunsichern, zusätzliche Ängste induzieren und Desinteresse an seinem Schicksal erkennen lassen.

Erfolgreiche Kommunikation in der Intensivmedizin setzt in besonders hohem Maße die Fähigkeit voraus, sich die 4 Botschaften des Sprechens (Information, Kontakt, Appell und Selbstdarstellung) bewusst zu machen. Dabei kommt häufig den Beziehungsaspekten (wie wir einander etwas mitteilen) größere Bedeutung zu als den Inhaltsaspekten (was wir einander mitteilen). Kommunikation zählt zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Der Wunsch nach Kommunikation ist daher gerade in Extremsituationen besonders stark ausgeprägt. Kommunikation kann dann die Funktion des "letzten Ankers" haben, an dem alles hängt und der alles hält.

Die Kommunikationswünsche des Intensivpatienten sind aber nicht nur auf die aktuelle Situation und die Zukunftsperspektiven ausgerichtet. Weil auf der Intensivstation das Leben aktuell bedroht und der Tod greifbare Realität ist, besteht auch der Wunsch, dieses möglicherweise zu Ende gehende Leben in der Rückschau wenn nicht zu werten, so doch zu sichten. Solche Rückblenden in die Lebensgeschichte stellen einen wichtigen Mechanismus zum Überstehen der Akutsituation dar und fordern vom Behandlungsteam die Fähigkeit des aktiven Zuhörens. Die in diesen Rückblenden manchmal geradezu rührende Darstellung dessen, was der jetzt hilflose und ausgelieferte Patient noch vor kurzem leisten und bewegen konnte, ist auch als Versuch zur Stabilisierung des bedrohten Selbstwertgefühls zu verstehen.

Der Unerfahrene kann leicht unterschätzen, wie viel schwerstkranke, scheinbar nicht mehr zur Kommunikation fähige Patienten wenn nicht verstehen, so doch noch aufnehmen und registrieren können. Deswegen ist verbale und nonverbale Zuwendung auch dann noch sinnvoll, wenn der Patient keine gezielten Reaktionen mehr aufweist. Es spricht vieles dafür, dass auch in diesen Situationen der Kommunikationsfluss zwar nur einseitig verläuft, aber doch noch "ankommt".

Kommunikation zwischen Patient und Behandlungsteam ist über 5 Wege möglich:

  • Wort, 
  • Schrift, 
  • Mimik, 
  • Hautkontakt, 
  • Symbole.
Besteht keine Kommunikationsbehinderung, so läuft die Kommunikation über 10 Kommunikationskanäle ab. Welche Störungen der Kommunikation speziell im Intensivbereich auftreten können zeigen die folgenden Abbildungen. 

Zehn Abbildungen: Die Zeichnungen stammen aus Hannich/Wendt/Lawin: Psychosomatik in der Intensivmedizin, Stuttgart 1983

Für den nicht mehr sprechfähigen, also z. B. den intubierten Patienten ist die schriftliche Kommunikationsform von großer Bedeutung. Als Schreibmaterial kommen in erster Linie Filzstift (keine Kugelschreiber) und Papier oder Tafel und Kreide in Frage. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Kommunikationsmethode (Schreibwunsch äußern, Schreibmaterial zureichen, schreiben lassen, Schrift entziffern) relativ viel Zeit, im Durchschnitt 5 - 9 Minuten, benötigt. Kommunikationstafeln, die immer wiederkehrende wichtige Bedürfnisse des Patienten enthalten und von ihm nur durch Fingerhinweise auf das Wort "ja" oder "nein" zu beantworten sind, können die Verständigung deutlich erleichtern. Selbst beim sprechunfähigen und weitgehend bewegungsunfähigen Patienten können beispielsweise noch Augenzeichen ausgemacht werden, die zumindest eine Antwort nach ja oder nein erlauben, wie z. B. blinzeln = ja bzw. Augen langsam zumachen = nein. Es ist selbstverständlich, dass in dieser Situation nur geschlossene Fragen gestellt werden dürfen.

Schriftliche Äußerungen von sprechunfähigen (meist intubierten oder beatmeten) Patienten auf Intensivstationen.
 
Bild 1 1. "Herr Dr., nicht so eilig."
Bild 2 2. "Bitte kalt abwaschen. Ich bin nicht so krank wie Sie glauben. Ich muss von den Schläuchen runter."
Bild 3 3. "Die Krankheit ist so schlimm."
Bild 4 4. "Ich habe früher viel mehr Luft bekommen, als ich am Apparat lag. Rhythmus etwas schneller."
Bild 5 5. "Ich will heute noch sterben."
Bild 6 6. "Meine Tochter hat mich verkauft, bin noch nicht tot."
Bild 7 7. "Raus, raus."
Bild 8 8. "Ich bin im Mai und Juni auf der Inneren Station gewesen, da wurde mir ein Herzkatheter vom Hals ins Herz gelegt. Ferner bin ich pflaster- und spritzenempfindlich, ich musste dieserhalb nach Essen in die Hautklinik. Vorübergehend. Es röchelt so im Hals oder der Lunge, als wenn noch etwas darin wäre."
Bild 9 9. "Das Personal ist fleißig."
Für das Gespräch zwischen Arzt und Patient auf der Intensivstation gelten eine Reihe von einfachen Grundregeln:

1. Grundregel: Den Patienten mit Namen ansprechen und den eigenen Namen nennen.

Dazu ein ehemaliger Intensivpatient (G. HENSEL): "Jedes Wort, das an den Patienten auf der Intensivstation gerichtet wird, jedes Wort, und sei es noch so simpel, holt ihn aus dem Gefühl, vereinsamt und verlassen zu sein. Und kein Wort hört der Patient so gern wie seinen Namen. Obwohl es sich niemand gern eingesteht, jedem Menschen ist sein Name in gewisser Weise heilig. Wird sein Name vergessen, verwechselt oder verstümmelt, so trifft ihn dies wie eine körperliche Verletzung. Dieses Gefühl verstärkt sich verständlicherweise noch in der Extrem- bzw. Ausnahmesituation der Intensivstation. Wer mit Namen angesprochen wird, ist kein "Namenloser" mehr, er ist keine Nummer, er wird als Individuum behandelt, er bleibt nicht in einer beängstigenden Anonymität. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Gerade der hilflose Patient fürchtet die Verwechslung ganz besonders: Denn die Angst, verwechselt zu werden, gehört zu den Urängsten des Patienten."

Wird der Patient mit Namen angesprochen, dann ist das für ihn ein Signal, dass man ihn als Person, seine speziellen Probleme und seine spezifische Situation kennt. Durch das Nennen des eigenen Namens und der Funktion können Arzt und Helfer wiederum ein Stück Anonymität und Hintergrundangst abbauen. Das System der Intensivstation mit ihrem hohen Personalaufwand, dem Schichtdienst und einem rasch wechselnden Behandlungsteam erschwert die Orientierung in besonderem Maße. Bei länger dauernder intensivmedizinischer Betreuung ist es sehr wichtig, dass der Patient zumindest eine feste Bezugsperson aus dem Ärzteteam und eine aus dem Pflegeteam dem Namen nach kennt.
 

2. Grundregel: Rasch die notwendigen Orientierungshilfen geben.

Dazu gehört, dass der Patient ruhig und unmissverständlich über Ort, Uhrzeit und Zweck der intensivmedizinischen Betreuung informiert wird. Nirgendwo kann das Zeitgefühl des Patienten so stark gestört sein wie in der Atmosphäre einer Intensivstation. Manche Unruhezustände von Patienten, die auf einer subjektiven Verwechslung von Tages- und Nachtzeit basieren, könnten durch diese einfachen Informationen vermieden werden. Meist ist es medizinisch unbedenklich, dem Patienten die eigene Uhr zu belassen; dennoch ist die Unsitte, Patienten auf der Intensivstation alle "persönlichen Gegenstände" abzunehmen, weit verbreitet.

Der Zweck der intensivmedizinischen Betreuung soll möglichst einfach dargestellt werden. Dazu genügen Termini wie "die Krankheit besser überwachen", "um Ihnen rasche Erleichterung zu bringen", "die Krankheit möglichst optimal in den Griff zu bekommen" usw. Auch sollte der Patient die voraussichtliche Dauer der Behandlung erfahren. Ist diese noch nicht konkret abzusehen, so kann es dennoch hilfreich sein, dem Patienten zu sagen, dass sein Aufenthalt "so kurz wie nötig" sein wird.

Sehr wichtig ist es, den Patienten darüber zu informieren, dass und inwieweit seine Angehörigen benachrichtigt worden sind. Unklarheit in diesem Punkt wirkt besonders quälend und beunruhigend. Eine Information wie: "Wir haben Ihre Frau angerufen und ihr gesagt, dass bei Ihnen alles gut verläuft" ist Beruhigung im doppelten Sinne.
 

3. Grundregel: Einfache und verständliche Sprache.

Diese Regel gilt auf der Intensivstation, wo die Auffassungsfähigkeit des Patienten oft durch die Schwere seiner Erkrankung und durch therapeutische Maßnahmen eingeschränkt ist, in besonderem Maße. Hier erhält jedes Wort ein eigenes Gewicht, und jede unverständliche oder missverständliche Äußerung kann intensive Angst induzieren. Es sollte selbstverständlich sein, dass bei der Visite auf der Intensivstation nur zum und nicht über den Patienten gesprochen wird. Das Sprechen über den Patienten, noch dazu im medizinischen Fachjargon, verstärkt sein Gefühl der Isolation, weckt neue Ängste und kann als Unsicherheit des Behandlungsteams ausgelegt werden.

Bedside-Diskussionen lassen sich nicht immer verhindern. Aber dann sollte man dem Patienten klar sagen, worum es geht: "Was wir hier jetzt besprechen, ist keine Geheimnistuerei, sondern wir überlegen, wie Ihre Behandlung möglichst optimal gestaltet werden kann."
 

4. Grundregel: Erklären, was geschieht und was geplant ist.

Jede noch so kleine Maßnahme (beispielsweise Blutentnahme, ZVD messen) sollte dem Patienten, sofern er sie nicht kennt, in groben Zügen erklärt werden. Dadurch werden Missdeutungen und Missverständnisse reduziert und vermeidbare Ängste verringert. Dass ein Patient wortlos zu einer Untersuchung gefahren wird, deren Zweck und mögliche Bedeutung ihm nicht mitgeteilt wird, gehört zu den kommunikativen Todsünden.
 

5. Grundregel: Positive Sprache.

Ängste, Resignation und Depression bestimmen häufig die Verfassung des Patienten auf der Intensivstation. Jede Information, die als "positive Nachricht" oder "gute Botschaft" formuliert werden kann, ist daher besonders wichtig. Der Patient will nicht nur sehen, sondern auch hören, dass er aus der schlimmsten Gefahrenzone heraus ist. Die Information muss keineswegs detailliert sein, sondern wirkt um so überzeugender, wenn sie klar und einfach formuliert wird:
"Die Operation ist gut verlaufen." 
"Die Röntgenaufnahme hat nichts Schlimmes ergeben
"Ich bin mit dem bisherigen Verlauf bei Ihnen sehr zufrieden."

Das Sprechen in Bildern ist manchmal besser geeignet, den Trend im Krankheitsverlauf zu verdeutlichen, als langatmige Erklärungen von Einzelbefunden. Sätze, wie: "Jetzt kommt Land in Sicht" oder "Bald können Sie wieder Bäume ausreißen, allerdings zunächst nur kleine", können häufig Fortschritte überzeugender signalisieren als der Hinweis auf hämodynamische oder biochemische Parameter.

Ähnlich wie in der Onkologie ist es auch in der Intensivmedizin sehr wichtig, die sogenannten "kleinen Probleme" des Patienten ernst zu nehmen und sorgfältig zu berücksichtigen. Denn die sog. kleinen Probleme können subjektiv quälender sein als das medizinische Hauptproblem. Zum anderen muss der psychologische Effekt berücksichtigt werden: Der Patient, der erkennt, dass man sich um verhältnismäßig kleine Anliegen ebenso sorgfältig kümmert wie um die anderen medizinischen Probleme, erlebt seine Situation möglicherweise als weniger hoffnungslos. Das Berücksichtigen der kleinen Probleme mindert den Druck der großen.

Ein ehemaliger Intensivpatient schildert exemplarisch eine derartige Begebenheit: Neben ihm auf der Intensivstation lag ein Italiener, der nichts von dem begriff, was um ihn und mit ihm geschah. Das einzige Wort, das er ständig wiederholte und das zunächst keiner richtig verstand, war: "Friedhof". Alles, was mit ihm geschah, erschien ihm nur als ein weiterer Schritt näher zum Grab. Verschiedene Versuche zur Beruhigung des von Angst überwältigten Patienten scheiterten. Die Erlösung aus dieser quälenden Situation gelang erst, als eine schlagfertige Schwester dem Italiener das Frühstück mit den Worten hinschob: "Nix Friedhof, mangiare!" und der behandelnde Chirurg sich auch noch nach der Qualität des Frühstücks erkundigte. "Wenn", so dachte der italienische Patient wahrscheinlich, "der Arzt keine größeren Sorgen hat, als wie mir das Frühstück schmeckt, dann kann es um mich nicht ganz so schlimm bestellt sein."
 

6. Grundregel: Hoffnung geben.

Alles, was geeignet ist, die Hoffnung des Patienten zu stärken, ist gerade auf der Intensivstation von besonderer Bedeutung. Dazu gehört auch, dass noch so kleine Fortschritte nicht nur registriert, sondern dem Patienten auch gesagt werden. Bei Rückschritten oder ungünstigen Verläufen ist es aber ebenso wichtig, die eigene Besorgtheit nicht erkennen zu lassen. Was der Patient braucht, ist ein stabil und sicher wirkendes Behandlungsteam, das im geeigneten Moment auch auf der Intensivstation mit Fröhlichkeit und sogar einer Spur Humor reagieren darf.

Wenn der Patient über Sinnfragen, "die letzten Dinge" oder auch über den Tod und Sterben sprechen möchte, sollen diese Gespräche nicht abgewehrt werden. 

Wann sonst, wenn nicht in der Extremsituation der vitalen Bedrohung, sollte der Mensch sich Gedanken um Dinge machen, die er meist ein Leben lang verdrängt? In diesen Gesprächen fällt dem Arzt und seinem Team weniger die Aufgabe zu, Antworten auf Fragen zu finden, die im Einzelfall nicht zu beantworten sind, sondern aktiv zuzuhören und präsent zu sein (s. Kapitel "Sprechen über Gott?" Link).
 
 

Grundzüge der Gesprächsführung bei Intensivpatienten
  1. intensives kontaktives Angebot!
  2. alle Kommunikationsmittel nutzen (Wort, Schrift, Mimik, Hautkontakt, Symbole)
  3. Orientierungshilfen anbieten
  4. informieren (Ort, Zeit, Team, Behandlung)
  5. keine Ängste induzieren, bestehende Ängste abbauen
  6. einfache, verständliche, positive Sprache
  7. zum Patienten, nicht über den Patienten sprechen
  8. Hoffnung geben
  9. Selbstwertgefühl des Patienten stützen
  10. Gesprächen über Sinnfragen nicht ausweichen
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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