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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
... Gespräche in der Intensivmedizin 
Betreuung der Angehörigen
 
Betreuung der Angehörigen
Die Behandlung eines Familienmitglieds auf der Intensivstation ist für Angehörige ein meist unvorhergesehenes Ereignis, das sie wie ein Schock trifft. Ihr Verhalten ist zunächst in hohem Maße emotional bestimmt. Es hängt ferner von der Qualität der Beziehung zu dem erkrankten Angehörigen ab und wird mitbestimmt durch das meist negativ geprägte Bild der Intensivmedizin in der Öffentlichkeit.

Die Betreuung der Angehörigen ist keine lästige Nebenaufgabe in der Intensivmedizin, sondern gehört zum Gesamtbehandlungskonzept. Die Betreuung der Angehörigen ist mittelbar auch eine Betreuung des Patienten, denn die Krise des Patienten ist vielfach auch eine Krise der Angehörigen. Der sorgfältig und vernünftig vorbereitete Angehörige kann für den Kranken zu einer nicht zu unterschätzenden Quelle der Kraft werden. Andererseits kann der Angehörige, der im Behandlungsteam und in der Intensivstation nur Feindbilder erkennt, die Betreuung des Patienten erheblich erschweren. Im Idealfall gelingt es, den Angehörigen im weitesten Sinne in das Behandlungsteam zu integrieren.

Der Arzt auf der Intensivstation, nicht selten physisch und emotional bis an die Grenzen belastet, sieht sich immer wieder vor die manchmal kaum lösbar erscheinende Aufgabe gestellt, eine tragfähige Brücke zu einem Angehörigen zu schlagen, den er vielleicht als schwierig oder zumindest als zusätzliche Belastung erlebt. Er wird mit den vielfältigsten Reaktionen und Verhaltensweisen konfrontiert: Aggression, Trauer, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Schuldgefühle, Ängste, Vorwurfshaltung und Anspruchsdenken. Er begegnet möglicherweise einer Feindseligkeit, die durch das Bild der Intensivmedizin in der Öffentlichkeit und durch die Medien bestimmt ist. In anderen Fällen bewegen den Angehörigen kindlichnaive, magisch anmutende Illusionen einer "totalen Machbarkeit durch den Einsatz des gesamten intensivmedizinischen Repertoires" (Monika DORFMÜLLER). Vielleicht wird er auch von apokalyptischen Visionen verfolgt, weil er in der Tagespresse das prolongierte Sterben prominenter Politiker, wie Franco in Spanien oder Tito in Jugoslawien, in allen Details mitverfolgen konnte.

Die Schwierigkeiten, in einer solchen psychologisch komplexen und emotional hochgespannten Situation Gespräche zu führen, die die Belange des Patienten berücksichtigen, den Ansprüchen der Angehörigen Rechnung tragen und die medizinischen Notwendigkeiten plausibel machen, können enorm sein. Sie sind der Grund dafür, dass häufig eingehenden Gesprächen mit Angehörigen ausgewichen wird oder Gespräche scheitern, weil eine gemeinsame Wirklichkeit zwischen Behandlungsteam und Angehörigen nicht gefunden werden kann.

Präsenz, Zuwendung, Empathie und Akzeptanz der entgegengebrachten Gefühle sind die Grundlage jeder Kommunikation zwischen Behandlungsteam und Angehörigen. Der nächste Schritt ist eine regelmäßige, verständliche, Angst abbauende und warmherzige Information. Was der Angehörige ganz entscheidend erwartet, ist das unmittelbare Eingehen auf seine aktuelle Situation und Hilflosigkeit.

Zunächst ist es wichtig, den Schock der ersten Konfrontation mit dem kranken Anverwandten zu mildern. Denn die Angehörigen sind "diejenigen, die zunächst am meisten erschrecken, mehr als der Patient selbst. Sie sind schockiert über den großen Aufwand der Apparaturen, hinter denen sie ihren kranken Angehörigen oftmals nur schwer finden können" (B. F. KLAPP). Dieses Erschrecken kann gemildert werden, wenn man den Angehörigen gut vorinformiert, ehe man ihn zum Patienten führt. Der Arzt sollte bei der ersten Begegnung dabei sein, um ggf. auftauchende Fragen gleich beantworten zu können. Das Gespräch soll bestimmt werden von einer behutsamen, einfachen Sprache, die immer auch Hoffnung signalisiert.

Es ist anzustreben, dass die Angehörigen auf einem möglichst gleichen Informationsstand gehalten werden, da sonst die Gefahr gegenseitiger Verunsicherung besteht. Günstig wirkt es sich aus, wenn bei mehreren Angehörigen ein Hauptansprechpartner gefunden werden kann, der für eine gleichmäßige Information, Beruhigung und Beschwichtigung innerhalb der Familie sorgt. Dies muss nicht immer der nächste Angehörige sein.

Wichtig ist es auch, zu analysieren, in welcher der oben geschilderten "Phasen" sich die Angehörigen befinden, um ihre Fragen und ihr Verhalten besser einordnen zu können, scheinbar irrationale Reaktionen besser zu verstehen und zu tolerieren, Anschuldigungen und aggressives Verhalten richtig einzuordnen und das emotionale Aufschaukeln von Spannungen zwischen Angehörigen und Behandlungsteam zu verhindern. Ob der Angehörige also zum "Freund" oder zum "Feind" des Behandlungsteams wird, liegt zu großen Teilen am Team selbst.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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