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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Sprechen über Gott?
Gott in der heutigen Zeit
Der Arzt als Gott?
Der kranke Mensch auf der Suche nach Gott
Fragen und Hoffnungen
Versuche und Wege
Auf Wunder hoffen?
Ewiges Leben?
 
 
Und Gott wird abwischen alle Tränen von
ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr
sein, noch Leid, noch Geschrei, noch
Schmerz wird mehr sein ...
Geheime Offenbarung, 21, 4
Sprechen über Gott?
Soll der Arzt mit seinen Patienten in der heutigen Zeit über Gott sprechen? Die Antwort lautet: ja. Das Leben eines Menschen zu retten oder zu verlängern, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist ebenso wesentlich, und der Arzt, der nur eine Seite sieht, ist auch nur halbsehend oder halbblind. KIERKEGAARD meint den gleichen Sachverhalt mit dem zunächst befremdlich klingenden Satz: "Der Spaß, eines Menschen Leben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß. Der Ernst ist, selig sterben."


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Gott in der heutigen Zeit
Aus mittelalterlichen Darstellungen können wir uns ein Bild damaliger Hospitäler machen: Die Kranken lagen an Längswänden in großen Sälen und wurden von Ordensbrüdern gepflegt. Der Priester ging im Hospital auf und ab, beugte sich zu den Sterbenden, betete mit ihnen und reichte ihnen die Kommunion. Der Arzt betrat nur selten den Raum, verordnete gelegentlich Medizin, und wenn die Grenze der ärztlichen Kunst erreicht war, trat er respektvoll zurück. So entstanden die Hospitäler aus den "Gottesherbergen", in denen der Priester dominierte und dem Arzt nur eine bescheidene Nebenrolle zukam.

Im Krankenhaus von heute - und Krankenhäuser sind immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Systeme und geistigen Strukturen ihrer Zeit - existiert der Krankenhausseelsorger zwar immer noch, ist aber nur noch einer unter den vielen nichtmedizinischen Helfern neben Sozialarbeiter, Bademeister oder Klinikfriseur. Vor allem von jüngeren Ärzten wird der Klinikpfarrer häufig als "Luxuserscheinung" angesehen (H. BEGEMANN, Tagung der ev. Akademie Tutzing, Januar 1986). Allenfalls wird dem Klinikseelsorger die Rolle des Psychologen, falls ein solcher im Krankenhaus nicht tätig ist, zugeschoben. Der Krankenhausseelsorger als Psychologenersatz - und der Arzt vielleicht ein Ersatzpriester?

In einem 1983 erschienenen Buch über Patientenführung im Krankenhaus werden die Aufgaben von Krankenpfleger über Hebamme, MTA, Krankengymnastin, Diätassistentin, klinischen Soziologen, Ergo- und Logopäden, Sozialarbeiter bis zum Bibliothekar beschrieben. Dem Krankenhausseelsorger ist nicht eine Zeile gewidmet. So stellt sich die Frage, ob der kranke Mensch von heute überhaupt noch einen "Bedarf" an Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten hat. Die Statistik spricht im ersten Anschein dagegen. ENGELKE führt in seinem Buch "Sterbenskranke und die Kirche" aus, dass nur 5% der Todkranken religiöse Fragen ansprechen und auch nur 5% um religiösen Zuspruch bitten. Sind andere Personen im Raum, schrumpft der Prozentsatz auf Null. Allerdings fragen 46% der Todkranken nach dem Sinn ihrer Krankheit. Elisabeth KÜBLER-Ross schildert zwar, dass Sterbende eine Phase des Verhandelns durchmachen, in der sie meistens versuchen, mit Gott einen Handel zu schließen. Diese Phase ist jedoch meist kurz, wird in der Regel streng geheim gehalten oder höchstens dem Seelsorger angedeutet.

Gott scheint in unserer Zeit weniger "gefragt" zu sein denn je. Dazu Hans SCHAEFER: "Wir sind eine glaubenslose Gesellschaft geworden, jedenfalls, was die religiöse und sicherlich die kirchliche Gläubigkeit anbelangt. Wir sind eine Gesellschaft geworden, in welcher das Bewusstsein wachsender Gefährdung immer mehr Angst erzeugt und immer weniger Hoffnung zulässt." Folgt man H. E. RICHTER (Der Gotteskomplex, 1979), dann hat sich der Mensch am Ende des Mittelalters, als er nicht mehr sicher war, Gott zu haben, angeschickt, selbst Gott sein zu wollen. "Nach Wegfall des göttlichen Schutzes wird das Selbstbewusstsein des individuellen Ich zum Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls." Und weiter: "Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist an die Stelle der Geborgenheit... getreten... das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes." Damit geht auch eine völlig veränderte Haltung gegenüber dem Leiden einher. RICHTER nennt es das "Konzept der projektiven Leidensvernichtung". Es geht davon aus, dass Leiden grundsätzlich etwas von außen Zugefügtes ist. Es stammt von Hexen, Asozialen, Extremisten, minderwertigen Rassen, Parasiten oder Giften. Damit verbindet sich die Illusion: "Mit der Ausschaltung der äußeren Verursacher wird das Leiden verschwinden. Die Leidensflucht wird praktiziert, indem das Leiden durch Überspielen oder Abspaltung verleugnet wird, mit Beschwichtigung durch Ersatzbefriedigungen, mit Verschleierung durch Sozialtechnik. Der heutige Mensch übt sich darin, sein Leiden zu verstecken, ein Phänomen, das besonders drastisch in den USA zu beobachten ist. Ein extremer und grotesker Ausdruck dieser Haltung ist die Unsitte, dass in Bestattungsinstituten Verstorbene durch Make-up zu scheinbar nur schlummernden, blühenden Jugendlichen hergerichtet werden. In einer phantastischen Illusion wird angenommen, dass man Leiden in Schach halten kann, indem man es sich und anderen nicht mehr zeigt."

Mit der Verdrängung des Leidens, mit der Abschaffung Gottes, mit dem Bemühen des Menschen, "selbst Gott sein" zu wollen (H. E. RICHTER), und einem verblendeten fortschrittssüchtigen Starren auf alle Möglichkeiten der High-Tech-Medizin hat sich auch das Verhältnis des Menschen zur Krankheit gewandelt. Gezüchtet wird eine Atmosphäre der Ansprüche, die natürlich, weil diese vielfach illusionär sind, zu bitteren Enttäuschungen führen muss. Propagiert wird, dass der Mensch "ein Recht auf Gesundheit" hat. Aber jeder weiß, "dass das Leben kein Amtsgericht ist, bei dem man seinen Anspruch auf Gesundheit einklagen könnte" (W. STROH, Krankenhausseelsorger). Diese Form der Leidensverdrängung gelingt natürlich nur oberflächlich und ist im weiteren Sinne inhuman. Schon PASCAL erkannte: "Die Größe des Menschen ist darin groß, dass er sich als elend erkennt. Der Baum weiß nichts von seinem Elend."

Aber das Leiden lässt sich nur unter die Oberfläche drücken, nicht jedoch durch selbsttäuscherische Praktiken "vernichten". Für körperliche Leiden sind die Ärzte da. Aber wohin mit den seelischen Problemen, den Leiden und Qualen, die sich dem Auto-Analyser und den elektronischen Messfühlern entziehen? Wenn schon nicht Gott, so doch vielleicht Ersatzgötter? Die Flucht zu Psychologen, Psychotherapeuten, Psychiatern? Dass fast jeder in den USA, der es sich leisten kann, seinen eigenen Psychiater hat, ist wahrscheinlich nicht Ausdruck dessen, dass Amerikaner psychisch besonders anfällig sind, sondern dass hier ein nach außen hin deutlicher "Adressatenwechsel" stattgefunden hat.



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Der Arzt als Gott?
Es liegt im Wesen der ärztlichen Tätigkeit, dass sie auch den Keim zur Verführung enthält, sich als Arzt gottähnlich zu erleben oder gottähnlich erlebt zu werden. Je mehr technische Macht der Arzt heute besitzt, um so mehr läuft er Gefahr, ohne sein Zutun in einer Art Flucht in eine gottähnliche Rolle zu geraten. A. B. BRENT beschreibt dieses Phänomen in seinem Artikel "Die Schwierigkeit, Gott zu spielen" ("The stress of playing god"): "Unsere einmalige Rolle im Leben unserer Mitmenschen plaziert uns auf die meist privilegierte Position innerhalb der sozialen Ordnung dieser Welt. Wir retten Leben und helfen, Leben in die Welt zu bringen. Vor kurzem wurde mein Leben durch einen Laien bei einem Unfall im Gebirge gerettet. Das ganze Ereignis war nach wenigen Stunden vorüber - in etwa derselben Zeit, die ich gebraucht hätte, um einen Patienten mit anaphylaktischem Schock zu retten... Ich sah meinen Retter als Heroen - und ich fühlte ihm gegenüber eine Dankbarkeit, die ich niemals zuvor irgend jemand gegenüber gefühlt hatte. Ich hatte Angst, wie ich den richtigen Weg finden könnte, für dieses gottähnliche Geschenk zu danken. Ich erkannte, dass vielleicht viele andere in der gleichen Situation mit mir gewesen sind. Nachdem ich nun auf beiden Seiten dieser Art von Dankbarkeit gestanden hatte, gewann ich Einblick in mein eigenes Verhalten als Arzt. Wie nimmt man den Dank eines Patienten an, dessen Leben man gerettet hat...? Manche Ärzte werden mit dieser Belastung fertig, indem sie ein omnipotentes, kontrollierendes und bestimmendes Verhalten ihren Patienten gegenüber einnehmen. Diese gottähnliche Haltung bedingt, dass wir für unsere gottähnlichen Taten gelobt und für unser nicht gottähnliches Versagen gescholten werden. Es ist ein Abwehrmechanismus, der uns isoliert, der verhindert, dass wirklich warmherzige und menschliche Interaktionen zustande kommen . . . Wie können wir in unserem Beruf vermeiden, dass wir ein derartiges Verhalten nicht annehmen, wenn wir tatsächlich doch in der Lage sind, unglaubliche Hilfe zu leisten, Schmerz dramatisch zu beseitigen und Leben zu retten - und dies alles als Teil unserer täglichen Arbeit? Indem wir teilnehmen am Leben und Sterben unserer Patienten. Vielleicht besteht der beste Weg, den Dank von Patienten, denen wir geholfen haben, anzunehmen, indem wir ihnen danken, dass sie uns Gelegenheit gegeben haben zu helfen. Dies könnte ihr größtes Geschenk an uns sein."


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Der kranke Mensch auf der Suche nach Gott
Der Blick hinter die Fassaden zeigt: Wahrscheinlich sucht und braucht auch der Kranke in der heutigen Zeit - wie zu allen Zeiten - Gott. Vielleicht ist heute Krankheit sogar eine der ganz wenigen Situationen, in denen der Mensch es wagt, nach Gott zu fragen. Eine Quelle dieser Gottessuche ist die Angst. Angst ist ein dominierendes Phänomen der heutigen Zeit, die geradezu als "Zeitalter der Angst" bezeichnet werden könnte.

In diesem Zeitalter der Angst wird Krankheit, wenn der Mensch sie konkret erlebt, dass ihn der Körper irreparabel im Stich lässt, dass das Leben unaufhaltsam zu Ende geht, zu einer besonders tiefen Quelle der Ängste. Der Arzt, der sich Zeit nimmt zuzuhören, stößt dann sehr wohl auf die uralten Fragen, die hinter diesen Ängsten stehen. Was ist der Sinn des Lebens und Leidens? Hilft beten? Existiert Gott? Gibt es das ewige Leben? Gibt es Wunder?

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn, der Möglichkeit von Wundern, die Gedanken an ein Weiterleben nach dem Tode können nicht mit vordergründigen Argumenten aus der Kompetenz des Arztes ausgeklammert werden. Der Arzt muss sich diesen Fragen stellen, gleichgültig, ob er selbst glaubt oder ungläubig ist. Nicht etwa, weil er auch noch die Rolle des Priesters zu übernehmen hat, sondern weil es im Wesen der ärztlichen Tätigkeit liegt, "Seelsorger" des Patienten zu sein.



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Fragen und Hoffnungen
Schwerkranke konfrontieren ihre Umgebung häufig mit 2 Fragen, die mit Glauben oder Nichtglauben zusammenhängen: Warum lässt (der liebe) Gott dieses Leid zu? Warum gerade ich?

Nirgendwo im Alten oder Neuen Testament gibt es einen Hinweis darauf, dass Gott Krankheiten oder Böses in dieser Welt "gewollt" hat. Die Evangelien zeichnen vielmehr ein Bild von Jesus von Nazareth, das geprägt ist durch Auflehnung und Kampf gegen die Krankheit. Nirgendwo im Neuen Testament erklärt Jesus einem Kranken seine Krankheit als tiefere göttliche Weisheit oder belehrt er Kranke, sie müssten ihr Leiden als Gottes Willen erdulden. Er hat im Gegenteil die Kranken ermutigt, sich ihrer Krankheit zu erwehren. Er hat Krankheiten nicht als Sache Gottes, sondern als etwas Widergöttliches dargestellt.

KÄUNICKE (1987, Seelsorger in einer Tumorklinik) sagt zu der Frage: "Warum gerade ich?": "Obwohl mit Vorliebe an den Pfarrer gestellt, ist diese Frage übrigens bei Licht betrachtet keine theologische Frage, sondern eine allgemein anthropologische ... Ich persönlich halte diese Frage nicht einmal für eine typisch religiöse Frage. Es ist die ganz normale psychische Abwehrreaktion auf eine böse Überraschung... Natürlich kann die ,Warum-ich-Frage' in allerlei religiöse Gewänder schlüpfen, gleichsam religiöse Variationen bilden, so z. B. in Form des uralten Schuld-Sühne-Glaubens. Sie lautet dann: ,Womit habe ich das verdient?' Dahinter steht nicht selten die Vorstellung von einem Rachegott, der den Menschen mit Krankheiten schlägt und foltert. Dieses Bild vom krankmachenden Rachegott ist aber gerade durch Jesus von Nazareth im Neuen Testament widerlegt worden. Dort wird deutlich gemacht, dass Rache krank macht, Vergebung aber die Kräfte der Heilung freisetzt." KÄUNICKE weist im übrigen darauf hin, dass sich die geschilderte religiöse Variante der "Warum-gerade-ich-Frage" eigenartigerweise besonders bei halbsäkularisierten Traditionschristen mit diffuser allgemeiner Gläubigkeit an "einen allmächtigen Herrgott", der nicht selten autoritäre Züge trägt, hält.

Die Frage "Warum gerade ich?" ist eine erlaubte Frage, nur - Gott ist der falsche Adressat. Selbst Jesus von Nazareth hat im Garten von Gethsemane mit Gott um sein Schicksal gehadert und ihn angefleht, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Auf die Frage "Warum gerade ich?" gibt es zunächst keine akzeptable Antwort, und darum ist es für den, an den diese Frage gerichtet wird, legitim, eine Antwort darauf zu verweigern. Und es ist wichtig, klarzumachen, dass es keine Gründe gibt, diese Frage an Gott zu richten und damit in einen nutzlosen Hader zu geraten. Jesus hat einerseits das Leid mit großer Kraft bestritten. Er hat für den Kranken plädiert ("Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden", Matthäus 5, 4), andererseits hat er Leiden und Tod im Namen Gottes akzeptiert ("Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen", Jes. 53, 4).

In seinem Beitrag "Als Seelsorger in einer Tumorklinik" schreibt KÄUNICKE: "Wenn ich dies Patienten so zuspreche, dann spüre ich manchmal, wie die dogmatische Distanz zwischen Gott und Mensch, zwischen Himmel und Erde wegschrumpft. Ja, zu einem Gott, der weiß, wie einem zumute ist, wenn man um sein Leben kämpft und doch den Tod fürchtet, kann auch ich wieder beten. Der ist nahe. Jener angeblich allmächtige liebe Herrgott dagegen, der erstens nicht 'allmächtig', zweitens nicht 'lieb' und drittens offenbar auch nicht der 'Herr' ist angesichts des realen Leidens, der mag sich in seiner Allmacht wo auch immer um sich selbst drehen. Der ist fern. Aber der Gott, den Jesus im Leben und Sterben verkörperte, den er anflehen durfte in Gethsemane: 'Bitte nicht ich!' ... der weiß, wie das ist, wenn man mit seinem Leben ans Ende kommt, der ist gerade dann hautnah an meiner Seite."

Aus diesem Beten und Glauben lassen sich auch Hoffnungen schöpfen. Wenn ich glaube, dass der Tod "als Ende nicht gilt", dass er nicht das letzte Wort hat, dass ich wieder dahin gehe, wo ich hergekommen bin, dann ist Hoffnung wieder möglich. Das "Siehe, ich mache alles neu" ist die tiefste Quelle aller Hoffnungen. Zu dem Gestalten der Hoffnung des Todkranken und Sterbenden führt KÄUNICKE aus: "Ohne Hoffnung kann man nicht leben - aber erst recht nicht sterben. Solche Hoffnung kann freilich mancherlei Gestalt haben: Hoffnung, dass meine Lieben es nun auch ohne mich schaffen; Hoffnung, in den Kindern weiterzuleben; Hoffnung, die vor mir Gestorbenen wiederzusehen, Hoffnung, dass die Ärzte durch meinen Fall eines Tages noch erfolgreicher therapieren; Hoffnung, dass ich im Sterben nicht allein gelassen werde; Hoffnung, dass kein Tod den Sinn meines Lebens zerstören kann; Hoffnung, nun zur Ruhe zu kommen, und Hoffnung, für immer bei Gott zu sein."



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Versuche und Wege
Meistens genügt es schon, einfach zuzuhören. Vielleicht will der Patient überhaupt nur die Möglichkeit bekommen, lange verschüttete Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, nach einem Leben nach dem Tode für einen anderen hörbar zu formulieren, statt sich schamhaft in Schweigen zu hüllen.

Manchmal fragen Patienten, wenn alles nicht mehr zu helfen scheint, ob wenigstens Beten hilft oder vielleicht auch nur, dass jemand für sie betet. Ich antworte meinen Patienten, dass ich persönlich von der Kraft des Gebetes überzeugt bin. Ich sage ihnen aber auch, dass es heute wissenschaftliche Hinweise für die Hilfe des Gebetes gibt. Der amerikanische Kardiologe Randy BIRD, ehemaliger Professor an der University of California in San Francisco, ist dieser Frage mit wissenschaftlichen Methoden (1985) nachgegangen. Er organisierte in einer doppelblinden, randomisierten Studie für 192 Patienten der Koronarstation des San Francisco General Hospitals Gebetsgruppen. Im ganzen Land wurden Fürbitter (Protestanten, Katholiken und Juden) mobilisiert. Ihnen wurden die Namen, die Diagnosen und der Gesundheitszustand der Patienten mitgeteilt, für die sie beten sollten. Auf jeden Patienten der "Verumgruppe" entfielen 5 - 7 allein oder in Gruppen Betende. Das Ergebnis der Studie war verblüffend. Patienten, die sich in der Gruppe befanden, für die gebetet wurde, benötigten signifikant seltener Antibiotika (3 gegenüber 16), erlitten seltener Lungenödeme (6 gegenüber 18) und mussten im Gegensatz zu 12 Patienten der Kontrollgruppe in keinem einzigen Falle intubiert werden. BIRD, gleichzeitig medizinischer Direktor der Fellowship For World Christians (FWC), zu dem Resultat: "Diese Studie liefert den wissenschaftlichen Beweis für das, was Christen seit jeher glauben - dass Gott sie erhört."

Zwei amerikanische Kardiologen, A. KENNEL von der Mayo-Medical School in Rochester, und John E. MERRIMAN am Doctors Medical Center in Tulsa, Oklahoma, sehen in den Ergebnissen der Studie von BIRD nichts Erstaunliches. Beide beten regelmäßig für ihre Patienten und haben, wie sie versichern, durchaus den Eindruck, dass Beten hilft. Laut MERRIMAN schnitten Patienten, die in Gebete eingeschlossen waren, besser ab als solche, für die niemand an Gott appelliert hatte. Die Kraft für seine Gebete zieht MERRIMAN aus der Bibel: "Betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist." (Jakobus, 5, 16). Für den Nichtgläubigen kann diese Studie keinen Beweischarakter haben. Für den Gläubigen - ist sie in ihrem Ergebnis letztlich selbstverständlich. Im Kern geht es nicht darum, zu "beweisen", ob Beten hilft oder nicht. Außer Zweifel steht jedoch, dass Beten ein hochwirksames Instrument der Hoffnung darstellt.

"Im Gebet spricht sich, natürlich nicht immer und ausschließlich, so doch in der Mehrzahl der Fälle, Hoffnung aus" (H. SCHAEFER). Hoffnung ist das stärkste Gegengewicht zur Angst. Denn die Angst befürchtet die Veränderung, die Hoffnung bejaht sie. Menschliche Existenz ohne Hoffnung ist wahrscheinlich nicht möglich. GOETHE schrieb 1807 an REINHARDT: "Es scheint, dass die menschliche Natur eine völlige Resignation nicht allzu lange ertragen kann." Und in einem Brief an Frau von STEIN führt er aus: "Die Hoffnung ist bei den Lebendigen, ohne Hoffnung sind die Toten." Bei NIETZSCHE findet sich der Satz: "Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulanz des Lebens als irgendein einzelnes, wirklich eintretendes Glück." Gabriel MARCEL sagt, Hoffnung sei "wahrscheinlich der Stoff selbst, aus dem unsere Seele gemacht ist". Zur Hoffnung ist im Prinzip jeder Mensch fähig. Ob es ihm aber gelingt, die höchste Stufe der Hoffnung, nämlich die auf das Jenseitige (Transzendente) gerichtete Hoffnung zu erreichen, ist eine Frage seines Glaubens. H. SCHAEFER: "Hoffnung bricht in der tiefsten menschlichen Verzweiflung aus der Gewissheit eines Heiles aus der Welt der Transzendenz hervor. Wer den Glauben an die Macht des Transzendenten verliert, der hat den tiefsten Quell der Hoffnung verloren. Wer diesen Glauben zerstört, sät Hoffnungslosigkeit und zerstört die Lebensfähigkeit des Menschen." Hoffnung ist nicht Sache des Habens, sondern des Seins (E. FROMM). Da es zu den wesentlichen Aufgaben des Arztes gehört, die Hoffnung seines Patienten unter allen Umständen zu erhalten, muss er, auch wenn er selbst nicht glaubt, seinem Patienten den Glauben als Quelle der Hoffnung zugestehen. Dies gilt selbst dann, wenn es sich - wie beispielsweise beim Todkranken - um letzte Formen der Hoffnung, nämlich die Hoffnung wider alle Hoffnung (spes contra spem), handelt.



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Auf Wunder hoffen?
In verzweifelten Krankheitsphasen können Gedanken an ein "Wunder" zum letzten Rettungsanker werden. Dieser Rettungsanker kann nur halten, wenn der Glaube an das Wunder nicht zerstört wird. Niemand hat daher das Recht, gleichgültig, wie er zu Wundern steht, den Glauben eines anderen an Wunder zu erschüttern.

Das Neue Testament ist eine reiche Quelle von Berichten über an Wunder grenzende Heilungen. Im Markus-Evangelium findet sich der Bericht der Heilung eines epileptischen Jungen. Dem skeptischen Vater antwortet Jesus: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt." Der Vater des Kindes antwortete: "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" (Markus, 9, 23-24). Im Lukas-Evangelium wird von der Heilung des Blinden von Jericho berichtet: "Jesus aber stand still und hieß ihn zu sich führen. Da sie ihn aber nahezu hinbrachten, fragte er ihn und sprach, was willst du das ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich wieder sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und alsbald ward er sehend" (Lukas 18, 40-42).

Dass sich durch rein psychische Einflüsse körperliche Phänomene induzieren lassen, ist wissenschaftlich lange belegt. Dies lässt sich beispielsweise durch Experimente in Hypnose zeigen. Wird einem Menschen in Hypnose suggeriert, dass man seine Hand mit einem glühenden Eisen berührt, in Wirklichkeit aber nur einen Stab von Zimmertemperatur benutzt, so empfindet der Proband einen heftigen Schmerz, und es entwickelt sich an der Berührungsstelle eine tiefe Rötung, u.U. eine echte Brandblase (G. L. PAUL). Ein Reiz, der physiologischerweise eine pathologische Reaktion nicht auslösen kann, führt offensichtlich dann zu einer abnormen Hautreaktion, wenn die Einbildungskraft der Versuchsperson als rein seelischer Faktor diesen Reiz "verändert".

In Lourdes werden vom dortigen Bureau des constatations alle sogenannten "wundersamen Heilungen" dokumentiert. Derartige wundersame Heilungen unterscheiden sich von dem Brandblasenexperiment in Hypnose sozusagen nur durch die Richtung ihres Ablaufs. Während im Hypnoseexperiment pathologische Reaktionen induziert werden, werden bei der Wunderheilung pathologische organische Befunde, nämlich Krankheiten, durch psychische Einflüsse normalisiert. F. SCHLEYER hat 232 Fälle von Wunderheilungen in Lourdes einer gründlichen Analyse zugeführt. Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der "Wunder" letztlich medizinisch doch erklärbar war. Immerhin aber fanden sich unter den 232 Fällen 33 (14%), welche auch den strengen Anforderungen an die Kennzeichnung als "unerklärbar nach üblichen medizinischen Gesichtspunkten" genügten. Offenbar gibt es Heilungen, die nicht anders als durch seelische Einflüsse zu erklären sind.

Auch das umgekehrte Phänomen ist belegt, nämlich der rein seelisch bedingte Tod. Es gibt eine Reihe gut dokumentierte Berichte über den sogenannten Voodoo-Tod bei Naturvölkern. Bekommt beispielsweise ein Eingeborener Streit mit einem Medizinmann, so kann es geschehen, dass dieser ihm prophezeit, er werde in Kürze zu einer genau angegebenen Stunde sterben. Der Eingeborene zieht sich kurz vorher in seine Sippe zurück und stirbt zum vorhergesagten Zeitpunkt. Über den Mechanismus, der dieser Art von "psychogenem Tod" zugrunde liegt, ist nichts Sicheres bekannt. Es wird diskutiert, dass eine überwältigende Angst als primär psychische Ursache zum Tod führt (möglicherweise über eine abnorme Sympathikusaktivierung mit Kammerflimmern).

Glaube und Hoffnung des wirklich Gläubigen bedürfen natürlich nicht derartiger Phänomene als Beleg. Für den Menschen in der Krise, der vielleicht wieder glauben möchte, ohne es zu können, stellen sie jedoch möglicherweise argumentative Hilfen dar.



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Ewiges Leben?
Gedanken und Gespräche über letzte Dinge münden häufig in die Frage ein: Was kommt nach dem Tod? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es ein ewiges Leben? Auch mit diesen Fragen kann der Patient seinen Arzt konfrontieren. Antworten, die Philosophen auf diese Fragen gegeben haben, reichen von "Wunschdenken", "Opium" oder "Illusion" über das "große Vielleicht" von Ernst BLOCH bis zum uneingeschränkten Ja der Theologie.

Wie intensiv die Frage nach einem ewigen Leben die Menschen auch heute bewegt, kommt u.a. auch dadurch zum Ausdruck, dass Bücher wie die des amerikanischen Psychiaters Raymond A. MOODY "Life after Life" (Leben nach dem Tode) in den Weltbestsellerlisten ganz oben rangieren.

Ewigkeitsglaube ist grundsätzlich nicht beweisbar, aber wie Hans KÜNG es formuliert, "doch zu bewahrheiten". KÜNG hat in seinem faszinierenden Buch "Ewiges Leben?" das ganze Panorama historischer, philosophischer, medizinischer und theologischer Aspekte der Frage eines Lebens nach dem Tod entworfen. Die wichtigste Passage dieses Buches lautet: "An ein ewiges Leben glauben heißt, mich in vernünftigem Vertrauen, in aufgeklärtem Glauben, in geprüfter Hoffnung darauf verlassen, dass ich einmal voll verstanden, von Schuld befreit und definitiv angenommen sein werde und ohne Angst ich selber sein darf... Glaube ich an ein ewiges Leben, dann ist mir immer wieder neu in meinem Leben und im Leben der anderen Sinnstiftung möglich... Ewiges Leben: Dies meint Befreiung ohne neue Versklavung. Mein Leiden, das Leiden der Menschen, ist aufgehoben, der Tod des Todes ist eingetreten ...".

Auf der letzten Seite des Neuen Testaments, am Ende der geheimen Offenbarung, findet sich, ausgedrückt in Sätzen der Verheißung und der Hoffnung, die Vision dieser anderen, wirklich neuen Welt: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr... Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Schmerz wird mehr sein... Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!"
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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