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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Das Gespräch mit dem AIDS-Kranken
Die epidemiologische Situation
Die besondere Situation des AIDS-Kranken
Der HIV-Test
Die Betreuung des AIDS-Patienten
Der AIDS-Kranke und seine Angehörigen
 
 
Manchmal habe ich das Gefühl, ich schlafe
mit dem Tod.
Ein Patient
 
Die Krankheit AIDS hat die Aura von Krebs
und Syphilis.
S. Becker
Das Gespräch mit dem AIDS-Kranken
Die epidemiologische Situation
Weltweit wurden bis Ende April 1990 über 250 000 Aidsfälle gemeldet, die meisten aus Nord- und Südamerika (153 720) gefolgt von Afrika und Europa (33 896 Fälle). Die Zahl der Aidsfälle in den alten Bundesländern inklusive Berlin (West) wurde im Mai 1990 mit 4863 angegeben. Nach umfangreichen Recherchen hat die WHO ihre Schätzungen über die Zahl der mit Aids infizierten Menschen um 2 Millionen erhöht. Nach Angaben der Organisation muss angenommen werden, dass 8 bis 10 Millionen Menschen den Aidsvirus in sich tragen (Stand Juli 1990). Vor allem in afrikanischen Ländern südlich der Sahara und in Asien hat die Zahl der Infizierten dramatisch zugenommen. Für das Jahr 2000 hat die WHO 15 bis 20 Millionen Aidsinfizierte vorausgesagt. In Europa breitet sich die Epidemie mit einer Verzögerung von etwa 2 Jahren hinter der Entwicklung in den USA aus. Die Krankheitsstatistik des Bundesgesundheitsamtes lässt auch in der Bundesrepublik die für AIDS typischen Eigenheiten und einen vergleichbar steilen Anstieg der Erkrankungszahl erkennen. Dies bedeutet, dass die Betreuung von AIDS- und AIDS-Vorfeldpatienten in naher Zukunft eine allgemeine ärztliche Aufgabe sein wird.


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Die besondere Situation des AIDS-Kranken
AIDS-Patienten sind überwiegend junge, homosexuelle (3/4 der AlDS-Patienten) Menschen. Der homosexuelle Mann befindet sich häufig noch in einem Prozess der Identitätsfindung. Sein "coming out" ist noch nicht abgeschlossen. AIDS zwingt den Patienten jedoch, seine von der Gesellschaft geächtete Erkrankung und seine Homosexualität auf einmal zu "bekennen". Viele Homosexuelle haben durch erkrankte Freunde oder Bekannte ein klares Bild von allen Schrecken der AIDS-Krankheit, fast jeder kennt in seinem Bekanntenkreis einen AIDS-Todesfall. Der AIDS-Kranke lebt in einer Gesellschaft, in der - vor allem geschürt durch die Medien - eine emotionsgeladene öffentliche Diskussion über seine Erkrankung geführt wird. Die AIDS-Diskussion löst Ängste und Phantasien aus über Tod, Homosexualität, sexuelle Perversionen usw. In den Medien wird seine Krankheit als "Schwulenpest", "Lustseuche" oder "Geißel Gottes" angeprangert.

Der Patient leidet an einer unheilbaren Krankheit und weiß dies; wie jeder Todkranke schwankt er zwischen Verzweiflung, Hoffnung und Verleugnung und klammert sich an "neue Heilmittel", von denen er täglich in der Presse liest. Durch die Öffentlichkeit, seine Umgebung, aber nicht selten auch durch seine medizinischen Betreuer erfährt er Ablehnung, Verurteilung und Ausgrenzung. Der Frankfurter Klinikseelsorger Gregor SCHORBERGER nennt Beispiele der leidvollen Erfahrungen von AIDS-Patienten in der Klinik: "Jetzt haben Sie die Quittung für ihr schweinisches Leben" oder "Der versaut unsere ganzen Geräte wieder, den nehmen wir als letzten dran." Die Reaktionen der Umwelt schüren Phantasien und Ängste: "Die Krankenkasse will mich rausschmeißen", "Wie damals die Juden und Schwulen im KZ, will auch heute eine Gruppe von Ärzten alle HIV-Infizierten tätowieren, sie wollen mir einen Stempel in mein Fleisch brennen." Der AIDS-Kranke ist dem schonungslosen Bombardement von Schlagzeilen in der Boulevardpresse ausgesetzt: "Sind AIDS-Kranke unsere Mörder von morgen?", "Kein AIDS-Infizierter in den öffentlichen Dienst, Bayern zieht erste Konsequenzen", "In den nächsten 10 Jahren gibt es kein Heilmittel."

AIDS als unheilbare, potentiell tödliche Krankheit zeigt viele Parallelen zum Krebs: Auch AIDS-Patienten zeigen typische Phasen wie Verleugnung, Protest oder Depressionen. Es hat sich aber gezeigt, dass AIDS häufig intensiver als Krebs Ängste und Phantasien auslöst. Zu den schweren körperlichen, meist auch entstellenden Symptomen (Abmagerung, Haarausfall, Kaposi-Sarkome) kommen noch spezifische Belastungsfaktoren hinzu:

  • Der Kranke leidet an einer sexuell übertragbaren Krankheit und weiß, dass er sie weiterhin sexuell übertragen kann;
  • er gehört meist einer Minderheitengruppe an (Homosexuelle) oder war schon krank (Hämophiler, Fixer);
  • er lebt mit der zusätzlichen Bedrohung durch die "AIDS-Hysterie", die sich beispielsweise in einer übertriebenen Angst vor Ansteckung äußert (S. BECKER).
Hinzu kommen krankheitsbedingte psychische Veränderungen, vor allem verschiedene Formen von Depressionen, Ängsten, deliranten Symptomen und Demenzanzeichen (AIDS-Enzephalopathie). Die spezielle psychosoziale Situation des AIDS-Patienten und die im 3. Lebensjahrzehnt allgemein erhöhte Bereitschaft für suizidale Handlungen erklärt die weit überdurchschnittliche Häufigkeit von Suiziden von AIDS-Erkrankten.

Die aufgezeigten Faktoren erklären, warum der AIDS-Kranke - anders als beispielsweise der Krebskranke - zwei zusätzlichen spezifischen Belastungen ausgesetzt ist:

  • Schuldgefühlen und der
  • Isolation.
Unheilbar Kranke, wie beispielsweise Krebspatienten, neigen an sich schon zu Schuldgefühlen. Diese treten beim AIDS-Patienten in verstärktem Maße auf, weil er unter einer prinzipiell sexuell übertragbaren Erkrankung leidet. Der homosexuelle AIDS-Kranke empfindet AIDS als "Strafe" für seine Homosexualität. Dies trifft vor allem für Patienten zu, die vor ihrer Erkrankung unbewusst ihre Sexualität bzw. Homosexualität verurteilt haben. Die Tendenz zur Selbstverurteilung wird noch erheblich durch Schuldzuweisungen von außen (Medien, Öffentlichkeit) verstärkt. So erleben die Patienten ihre AIDS-Erkrankung als durch ihren homosexuellen Lebensstil selbst verschuldet. Dies macht im übrigen deutlich, wie sehr in der Gesellschaft allgemein zwischen "anerkannten" (Herzinfarkt) und "abzulehnenden Krankheiten" unterschieden wird.

Schon der Krebspatient fühlt sich, obgleich ihn die Familie umsorgt, häufig isoliert, weil die Erkrankung ihm gegenüber verleugnet wird. Im Gegensatz dazu empfindet der AIDS-Patient nicht nur diese innerliche Isolation, sondern er erfährt sehr real auch die äußere Isolation von den anderen: das Wegrücken und die Abkehr der Familie, die Isolation im Beruf und im Wohnbereich, die Isolation als Homosexueller. Viele Homosexuelle, die wegen ihrer Homosexualität den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen haben, sind jetzt wegen ihrer Erkrankung gezwungen, zu ihrer Familie zurückzukehren. Diese Rückkehr wird in doppelter Weise erschwert, weil sie einerseits ihre Erkrankung, andererseits ihre Homosexualität offen legen müssen. Frühere Freunde ziehen sich zurück oder werden gemieden. Hinzu kommt noch, dass das Erkrankungsalter an AIDS (um 30 Jahre) bei Homosexuellen nicht selten einen an sich krisenhaften Lebensabschnitt darstellt, nämlich das beginnende "Out" als Sexualpartner. Die zweifache Belastung durch Selbstverurteilung und soziale Isolation erklärt das häufige Vorkommen von schweren Depressionszuständen bei AIDS-Patienten.



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Der HIV-Test
Der HIV-Test ist grundsätzlich anders zu bewerten als Tests, die üblicherweise bei Verdacht auf eine Infektionskrankheit durchgeführt werden. Es ist nicht richtig, den HIV-Antikörpertest als "AIDS-Test" zu bezeichnen. Mit dem HIV-Antikörpertest können im Blut Antikörper gegen das Virus nachgewiesen werden. Einen eigentlichen AIDS-Test gibt es nicht, denn das Testergebnis HIV-positiv bedeutet weder, dass der Betroffene an AIDS erkrankt ist, noch lassen sich zum heutigen Zeitpunkt sichere Aussagen darüber machen, wie viel Prozent der HIV-Positiven später erkranken werden. Dennoch ist das Testergebnis "HIV-positiv" für den Betroffenen ein schwerwiegender Befund, denn er weiß, dass er sich mit dem AIDS-Virus infiziert hat und eine große Wahrscheinlichkeit besteht, an AIDS zu erkranken und zu sterben. Das Resultat "HIV-positiv" schlägt oft wie eine Bombe ein, weil die meisten Probanden den Test in der Hoffnung durchführen lassen, dass sie ein negatives Ergebnis von ihrer AIDS-Angst befreien wird.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die meisten Probanden mit positivem Testergebnis zunächst mit Hilflosigkeit, Angst und Kontrollverlust reagieren und signifikant häufiger psychische Störungen aufweisen (72,5%) als an AIDS erkrankte Patienten (52,5%) (J. S. MANDEL). Auch scheint die Suizidgefahr beim HIV-Positiven, nicht Erkrankten, noch höher zu sein als beim AIDS-Patienten. Der positive Test stellt die Betroffenen schockartig vor eine Reihe von Fragen und Problemen:

  • Sie sind gesund, aber potentiell lebensgefährlich erkrankt.
  • Sie leben mit einer Zeitbombe: Werden Sie erkranken oder nicht?
  • Wer hat Sie angesteckt, wen haben Sie angesteckt?
  • Was wird weiter?
  • Wie können und sollen Sie weiter leben?
  • Wie ist ihre soziale Situation? (M. FRINGS)
Diese Fragen stellen sich auch deshalb mit besonderer Dringlichkeit, weil es sich bei den HIV-Positiven im Gegensatz zu Krebspatienten in der Regel um junge Menschen handelt, die statistisch gesehen noch ein langes Leben vor sich haben.

Die HIV-Testberatung umfasst daher immer 2 Gespräche: Das erste vor dem Test. Dieses Gespräch soll darüber aufklären, was der Test prinzipiell aussagt bzw. nicht aussagt und was er speziell für den, der ihn durchführen lassen will, bedeutet. Das 2. Gespräch dient der Mitteilung des Testergebnisses, verbunden mit einer Aufklärung über die Konsequenzen und notwendigen Verhaltensmaßregeln. Beide Gespräche sind unerlässlich. A. JÖTTEN von der gemeinsamen AIDS-Beratungsstelle der Frankfurter Universitätsklinik und des Stadtgesundheitsamtes fordert: "Unter allen Umständen muss jeder, der einen HIV-Test anordnet, auch in der Lage sein, das Ergebnis adäquat mitzuteilen." Ist der Arzt im Zweifel, ob er den Patienten bei einem positiven Ausgang des Tests qualifiziert beraten und betreuen kann, soll er ihn lieber an eine Beratungsstelle oder an die nächste AIDS-Hilfe weitervermitteln.

Es gibt verschiedene Gründe, warum die Durchführung des HIV-Tests gewünscht wird:

  • Es gibt Menschen, die den Test nur wollen, weil er angeboten wird, obwohl sie keinerlei erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen.
  • Nicht selten wünschen Personen die Durchführung des Tests, die sich auf einen lebensgeschichtlich bedeutsamen Schritt vorbereiten (berufliche Veränderung, Heirat, Kinderwunsch, neue Partnerschaft). Der negative Testausgang kann dieser Gruppe eine Menge Angst ersparen.
  • In der 3. Gruppe finden sich Menschen, die ein eindeutig erhöhtes Infektionsrisiko haben (Homosexuelle, Bisexuelle, Drogenabhängige, Prostituierte, Bluter) und bei denen demnach eine klare medizinische Indikation für den HIV-Test besteht.
  • Schließlich gibt es Patienten, die unter einer AIDS-Phobie leiden. Sie stellen für jeden, der mit der Betreuung von AIDS-Patienten zu tun hat, ein besonderes Problem dar. Es handelt sich um Menschen, die zu Unrecht fest überzeugt sind, AIDS zu haben und durch medizinische Mittel (wiederholte negative Testergebnisse) nicht zu einer Meinungsänderung zu bewegen sind. Sie gehören in der Regel keiner Hauptbetroffenengruppe an, haben meist zahlreiche negative HlV-Tests hinter sich, misstrauen jedoch grundsätzlich den Testresultaten und suchen laufend die verschiedensten Beratungsstellen auf. Nicht selten stecken hinter diesem stark angstgefärbten Verhalten Schuldgefühle (Verurteilung der eigenen Sexualität). Die Patienten befinden sich sehr oft in großer Angst und Unruhe und wandern von einem AIDS-Experten zum anderen. Nicht selten erwecken sie den Eindruck, dass sie unbewusst eine Bestätigung der Diagnose AIDS wünschen. Nach jedem negativen Test fassen sie den festen Vorsatz, keinen Arzt mehr aufzusuchen, durchbrechen ihn aber, wenn erneut überwältigend starke Ängste auftreten.
AIDS-Spezialisten raten von der Durchführung des HIV-Tests auch bei starkem Infektionsverdacht dann ab, wenn niemand da ist, der den HIV-Positiven nach der Mitteilung auffangen könnte.

Das Testergebnis darf unter keinen Umständen telefonisch oder brieflich eröffnet werden. Die Mitteilung darf immer nur in einem ausführlichen Gespräch erfolgen, das bei positivem Ausgang einen großen Zeitaufwand (AIDS-Experten geben 2 - 3 Stunden an) beansprucht. Denn selbst wenn die Prüflinge mit einem positiven Ergebnis gerechnet haben, besteht unmittelbar nach der Mitteilung Suizidgefahr, oder es kann zu panikartigen Fehlreaktionen kommen. Einem Bundeswehrsoldaten wurde das positive Testergebnis mit den Worten übermittelt: "Ich gratuliere Ihnen, Sie haben AIDS!" Die Reaktion des jungen Mannes waren Panik und Aggressionen, die in seiner Antwort zum Ausdruck kamen: "Wenn das so ist, dann nehme ich noch hundert andere mit!" Er erschien 4 Wochen später wieder bei seinem Truppenarzt mit einer frisch akquirierten Gonorrhöe (G. SALEWSKI). Als Vorbereitung auf den Test sollte mit dem Patienten auch immer die Frage geklärt werden: "Was macht es mir aus, positiv zu sein?"

Die Antwort auf die Frage, ob dem Patienten unbedingt die volle Wahrheit mitgeteilt werden muss, lautet: ja. Beim HIV-Test gibt es nur eine Wahrheit - positiv oder negativ. Im Gegensatz zur Krebserkrankung muss dem Betroffenen das positive Ergebnis mitgeteilt werden, weil er nur dadurch motiviert oder verpflichtet werden kann, sein sexuelles Verhalten so zu ändern, dass er nicht weiter zur Infektionsquelle wird ("Safer Sex"). Der negative Testausgang kann als Motivation für ein präventives Verhalten genutzt werden.

Beim Patienten mit AlDS-Phobie ist es zunächst wichtig, das Problem als solches ernst zu nehmen, weil es für die Betroffenen in hohem Maße belastend ist. In strukturierten Gesprächen soll die psychologische Komponente des Syndroms herausgearbeitet, aber nicht gedeutet werden. Der Patient soll ohne weiteres seine Befürchtungen zu Ende denken, weil dies angstmindernd wirkt. Von neuen Tests soll abgeraten werden. Dem Patienten sollen weitere Kontakte angeboten bzw. eine erfolgversprechende Therapie (spezielle Psychotherapie) vermittelt werden (JÄGER).



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Die Betreuung des AIDS-Patienten
Die optimale Betreuung des AIDS-Patienten wird in den meisten Fällen nur durch eine Kooperation von Ärzten, Psychotherapeuten, unterstützenden Organisationen (z. B. Deutsche AIDS-Hilfe) und Selbsthilfegruppen gelingen. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem primär verantwortlichen Arzt entscheidend dafür ist, wie der AIDS-Patient seine Erkrankung emotional verarbeitet (S. BECKER). Mit anderen Worten: Der AIDS-Kranke braucht innerhalb der Gruppe der Helfer eine feste Anlaufstelle, z. B. seinen Hausarzt. Darüber hinaus kann eine zusätzliche Betreuung notwendig werden, wenn eine "Grunderkrankung" (Drogenabhängigkeit, Bluterkrankheit) vorliegt. Bei der Kompetenzverteilung sollte die Regel gelten: "So viel ambulant wie möglich, so viel stationär wie nötig."

Die entscheidenden Ansatzpunkte für die psychosoziale Betreuung des AIDS-Patienten sind die Belastungsfaktoren "Selbstverurteilung" und "soziale Isolation". Dabei ist es wichtig, dass die Betreuer des Kranken (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen) ihre eigenen Phantasien und Ängste reflektieren, da auch sie Teil einer Gesellschaft sind, die sich ihre Urteile und Vorurteile über AIDS gebildet hat. So kann es von Vorteil sein, sich solide sexualwissenschaftliche Kenntnisse über Homosexualität zu erwerben, um nicht den zahlreichen Vorurteilen über dieses Phänomen zu unterliegen.

Im Prinzip gelten für das Gespräch mit dem AIDS-Kranken die gleichen Voraussetzungen wie für die Betreuung anderer Schwerkranker: Empathie, die Fähigkeit, aktiv zuzuhören, die Echtheit der Zuwendung. Der Patient soll angenommen werden, wie er ist, und offen und ohne Angst vor moralischer Wertung über seine Probleme sprechen können. Wichtig ist es, ihn "dort abzuholen, wo er sich befindet''. Befürchtungen, die den HIV-positiven Patienten besonders bewegen, sollen nicht abgeblockt, sondern zu Ende gedacht werden. Die Erfahrung, dass das Leben begrenzt ist, kann es auch wertvoller machen und als Motivation dienen, an sich selbst und an seinem Leben zu arbeiten (G. HÖCHLI, B. JÄGER-COLLET). Ähnlich wie der Krebskranke macht auch der AIDS-Patient typische Phasen (Verdrängung, Zorn, Depression) durch, bevor es ihm schließlich gelingt, sich gefühlsmäßig und kognitiv mit seinem Schicksal abzufinden (siehe Kapitel "Gespräche mit Todkranken und Sterbenden" Link). Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, den Patienten auf diesem Weg zu begleiten und nicht, die Entwicklungsschritte zu beschleunigen, was in der Regel auch nicht gelingt. HÖCHLI und JÄGER-COLLET fassen die Leitlinien des Umgangs mit dem AIDS-Kranken wie folgt zusammen: "In der Therapie, die mehr unterstützenden als aufdeckenden Charakter hat, werden positive Gefühle und Gedanken verstärkt, mögliche Krankheitsgewinne betont, Konflikte gelöst, Groll und Ressentiments bearbeitet, 'unfinished business' behandelt, Fokus auf nahe und mittlere Zukunft gesetzt, Vorkehrungen getroffen, Befürchtungen zu Ende gedacht."

Beim AIDS-Kranken besteht besonders häufig der intensive Wunsch, Antworten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, nach einem Ewigen Leben zu finden. SCHORBERGER schreibt als Klinikseelsorger über seinen Umgang mit AIDS-Patienten: "Gemeinsam haben wir die Erfahrung, dass auf keiner anderen Station der Klinik in dieser Dichte der Wunsch besteht nach religiösen Handlungen; sei es Gebet- oder Wortgottesdienst am Krankenbett, sei es der Wunsch nach täglicher Bibellesung oder täglicher Krankenkommunikation, nach einem Beicht- oder Seelsorgergespräch oder sei es der Wunsch nach einer Krankensalbung ..."

Die Verarbeitung der Krankheit ist gerade für den homosexuellen AIDS-Patienten von besonderer Schwierigkeit. Hier ist es eine Hauptaufgabe der Therapie, den Patienten durch einen Erkennungsprozess seine Identität wiedergewinnen zu lassen (Was bin ich? Wie bin ich? Wohin will ich?). Es bedarf dann häufig langer und schwieriger Wege der Selbstfindung, um schließlich ohne Angst sagen zu können (entsprechend dem Song aus dem Musical "Le cage aux folles"): "I am what I am, and what I am needs no excuses."



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Der AIDS-Kranke und seine Angehörigen
Für die Betreuung des AIDS-Kanken ist die Miteinbindung der Angehörigen von besonderer Wichtigkeit, weil sie hilft, das besonders ausgeprägte Gefühl der Isolation zu mindern. Die AIDS-Erkrankung ist für die Angehörigen in der Regel eine große Belastung und Herausforderung. Die Angehörigen bedürfen daher ebenfalls einer intensiven Führung im Gespräch, um nicht zu einer zusätzlichen Belastung für den Kranken, sondern zu einer wesentlichen Stütze und Hilfe zu werden.

Zunächst ist es wichtig, unbegründete Ängste vor Ansteckung in einem sachlichen Gespräch abzubauen. Es soll mit den Angehörigen offen besprochen werden, dass ihre Bereitschaft, die Krankheit mit dem AIDS-Patienten gemeinsam durchzustehen, sehr hilfreich, aber auch sehr schwierig und belastend sein kann. Sie müssen daher mit den Erwartungen und Reaktionen des AIDS-Kranken vertraut gemacht werden. Sie sollten wissen, dass ähnlich wie beim Krebspatienten Angst, Wut, Verzweiflung oder Anklagen aufbrechen können und dass sie nicht persönlich genommen werden sollten. Sie sollten ferner wissen, dass AIDS-Kranke Phasen der völligen Überforderung durchmachen, in denen sie jemanden brauchen, an den sie sich einfach anlehnen und bei dem sie sich ausweinen können. Der AIDS-Patient will aber auch nicht ständig an seine Krankheit erinnert werden, sondern sollte möglichst weitgehend am Alltagsleben teilnehmen. Daher ist auch jede Überbesorgtheit zu vermeiden. Es ist nicht immer nötig, zu sprechen, nonverbale Signale wie Lächeln oder Berühren können ebenso Zuneigung ausdrücken und Ruhe bringen. Es ist ungünstig, Fragen, die den Patienten besonders bewegen (Aussehen, Krankheitszustand, Zukunftserwartungen), auszuweichen.

Besondere Probleme ergeben sich, wenn Eltern oder Partner erst durch die AIDS-Krankheit von der Homosexualität oder der Drogenabhängigkeit des Patienten erfahren. Dann müssen eventuelle Vorurteile und falsche Vorstellungen über Homosexualität abgebaut und die Erkenntnis vermittelt werden, dass Homosexualität eine natürliche Variante des menschlichen sexuellen Erlebens und Verhaltens ist. Da AIDS-Patienten häufig wegen ihrer Erkrankung und ihrer gesamten Lebenssituation resigniert sind, müssen alle Schuldzuweisungen und Vorwürfe vermieden werden, um die Resignation nicht noch weiter zu vertiefen. Es kann den Angehörigen helfen, sich bewusst zu machen, dass nicht der Lebensstil des Erkrankten, sondern ein Virus Ursache seiner Krankheit ist. Mit Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen sollte offen über die Erkrankung gesprochen werden. Für die Eltern drogenabhängiger AIDS-Patienten besteht außerdem die Möglichkeit, sich einer Elterngruppe anzuschließen. Auskünfte über bestehende Gesprächsgruppen für Angehörige von AIDS-Kranken und Elternkreise von drogenabhängigen Jugendlichen vermitteln regionale AIDS-Hilfegruppen oder die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (Berliner Straße 37, 1000 Berlin 31, Telefon 030/860651).
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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