Manchmal habe ich das
Gefühl, ich schlafe |
mit dem Tod. |
Ein Patient
|
Die Krankheit AIDS hat
die Aura von Krebs |
und Syphilis. |
S. Becker
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Das Gespräch
mit dem AIDS-Kranken
Die epidemiologische Situation
Weltweit wurden bis Ende April 1990 über
250 000 Aidsfälle gemeldet, die meisten aus Nord- und Südamerika
(153 720) gefolgt von Afrika und Europa (33 896 Fälle). Die Zahl der
Aidsfälle in den alten Bundesländern inklusive Berlin (West)
wurde im Mai 1990 mit 4863 angegeben. Nach umfangreichen Recherchen hat
die WHO ihre Schätzungen über die Zahl der mit Aids infizierten
Menschen um 2 Millionen erhöht. Nach Angaben der Organisation muss
angenommen werden, dass 8 bis 10 Millionen Menschen den Aidsvirus in sich
tragen (Stand Juli 1990). Vor allem in afrikanischen Ländern südlich
der Sahara und in Asien hat die Zahl der Infizierten dramatisch zugenommen.
Für das Jahr 2000 hat die WHO 15 bis 20 Millionen Aidsinfizierte vorausgesagt.
In Europa breitet sich die Epidemie mit einer Verzögerung von etwa
2 Jahren hinter der Entwicklung in den USA aus. Die Krankheitsstatistik
des Bundesgesundheitsamtes lässt auch in der Bundesrepublik die für
AIDS typischen Eigenheiten und einen vergleichbar steilen Anstieg der Erkrankungszahl
erkennen. Dies bedeutet, dass die Betreuung von AIDS- und AIDS-Vorfeldpatienten
in naher Zukunft eine allgemeine ärztliche Aufgabe sein wird.
Die besondere Situation des AIDS-Kranken
AIDS-Patienten sind überwiegend junge,
homosexuelle (3/4 der AlDS-Patienten) Menschen. Der
homosexuelle Mann befindet sich häufig noch in einem Prozess der Identitätsfindung.
Sein "coming out" ist noch nicht abgeschlossen. AIDS zwingt den Patienten
jedoch, seine von der Gesellschaft geächtete Erkrankung und seine
Homosexualität auf einmal zu "bekennen". Viele Homosexuelle haben
durch erkrankte Freunde oder Bekannte ein klares Bild von allen Schrecken
der AIDS-Krankheit, fast jeder kennt in seinem Bekanntenkreis einen AIDS-Todesfall.
Der AIDS-Kranke lebt in einer Gesellschaft, in der - vor allem geschürt
durch die Medien - eine emotionsgeladene öffentliche Diskussion über
seine Erkrankung geführt wird. Die AIDS-Diskussion löst Ängste
und Phantasien aus über Tod, Homosexualität, sexuelle Perversionen
usw. In den Medien wird seine Krankheit als "Schwulenpest", "Lustseuche"
oder "Geißel Gottes" angeprangert.
Der Patient leidet an einer unheilbaren
Krankheit und weiß dies; wie jeder Todkranke schwankt er zwischen
Verzweiflung, Hoffnung und Verleugnung und klammert sich an "neue Heilmittel",
von denen er täglich in der Presse liest. Durch die Öffentlichkeit,
seine Umgebung, aber nicht selten auch durch seine medizinischen Betreuer
erfährt er Ablehnung, Verurteilung und Ausgrenzung. Der Frankfurter
Klinikseelsorger Gregor SCHORBERGER nennt Beispiele der leidvollen Erfahrungen
von AIDS-Patienten in der Klinik: "Jetzt haben Sie die Quittung für
ihr schweinisches Leben" oder "Der versaut unsere ganzen Geräte wieder,
den nehmen wir als letzten dran." Die Reaktionen der Umwelt schüren
Phantasien und Ängste: "Die Krankenkasse will mich rausschmeißen",
"Wie damals die Juden und Schwulen im KZ, will auch heute eine Gruppe von
Ärzten alle HIV-Infizierten tätowieren, sie wollen mir einen
Stempel in mein Fleisch brennen." Der AIDS-Kranke ist dem schonungslosen
Bombardement von Schlagzeilen in der Boulevardpresse ausgesetzt: "Sind
AIDS-Kranke unsere Mörder von morgen?", "Kein AIDS-Infizierter in
den öffentlichen Dienst, Bayern zieht erste Konsequenzen", "In den
nächsten 10 Jahren gibt es kein Heilmittel."
AIDS als unheilbare, potentiell tödliche
Krankheit zeigt viele Parallelen zum Krebs: Auch AIDS-Patienten
zeigen typische Phasen wie Verleugnung, Protest oder Depressionen. Es hat
sich aber gezeigt, dass AIDS häufig intensiver als Krebs Ängste
und Phantasien auslöst. Zu den schweren körperlichen, meist auch
entstellenden Symptomen (Abmagerung, Haarausfall, Kaposi-Sarkome) kommen
noch spezifische Belastungsfaktoren hinzu:
-
Der Kranke leidet an einer sexuell übertragbaren
Krankheit und weiß, dass er sie weiterhin sexuell übertragen
kann;
-
er gehört meist einer Minderheitengruppe
an
(Homosexuelle) oder war schon krank (Hämophiler, Fixer);
-
er lebt mit der zusätzlichen Bedrohung
durch die "AIDS-Hysterie", die sich beispielsweise in einer übertriebenen
Angst vor Ansteckung äußert (S. BECKER).
Hinzu kommen krankheitsbedingte psychische
Veränderungen, vor allem verschiedene Formen von Depressionen, Ängsten,
deliranten Symptomen und Demenzanzeichen (AIDS-Enzephalopathie). Die spezielle
psychosoziale Situation des AIDS-Patienten und die im 3. Lebensjahrzehnt
allgemein erhöhte Bereitschaft für suizidale Handlungen erklärt
die weit überdurchschnittliche Häufigkeit von Suiziden
von
AIDS-Erkrankten.
Die aufgezeigten Faktoren erklären,
warum der AIDS-Kranke - anders als beispielsweise der Krebskranke - zwei
zusätzlichen spezifischen Belastungen ausgesetzt ist:
-
Schuldgefühlen und der
-
Isolation.
Unheilbar Kranke, wie beispielsweise Krebspatienten,
neigen an sich schon zu Schuldgefühlen. Diese treten beim AIDS-Patienten
in verstärktem Maße auf, weil er unter einer prinzipiell sexuell
übertragbaren Erkrankung leidet. Der homosexuelle AIDS-Kranke empfindet
AIDS als "Strafe" für seine Homosexualität. Dies trifft vor allem
für Patienten zu, die vor ihrer Erkrankung unbewusst ihre Sexualität
bzw. Homosexualität verurteilt haben. Die Tendenz zur Selbstverurteilung
wird
noch erheblich durch Schuldzuweisungen von außen (Medien, Öffentlichkeit)
verstärkt. So erleben die Patienten ihre AIDS-Erkrankung als durch
ihren homosexuellen Lebensstil selbst verschuldet. Dies macht im übrigen
deutlich, wie sehr in der Gesellschaft allgemein zwischen "anerkannten"
(Herzinfarkt) und "abzulehnenden Krankheiten" unterschieden wird.
Schon der Krebspatient fühlt sich,
obgleich ihn die Familie umsorgt, häufig isoliert, weil die Erkrankung
ihm gegenüber verleugnet wird. Im Gegensatz dazu empfindet der AIDS-Patient
nicht nur diese innerliche Isolation, sondern er erfährt sehr
real auch die äußere Isolation von den anderen: das Wegrücken
und die Abkehr der Familie, die Isolation im Beruf und im Wohnbereich,
die Isolation als Homosexueller. Viele Homosexuelle, die wegen ihrer Homosexualität
den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen haben, sind jetzt wegen ihrer
Erkrankung gezwungen, zu ihrer Familie zurückzukehren. Diese Rückkehr
wird in doppelter Weise erschwert, weil sie einerseits ihre Erkrankung,
andererseits ihre Homosexualität offen legen müssen. Frühere
Freunde ziehen sich zurück oder werden gemieden. Hinzu kommt noch,
dass das Erkrankungsalter an AIDS (um 30 Jahre) bei Homosexuellen nicht
selten einen an sich krisenhaften Lebensabschnitt darstellt, nämlich
das beginnende "Out" als Sexualpartner. Die zweifache Belastung durch Selbstverurteilung
und
soziale
Isolation erklärt das häufige Vorkommen von schweren Depressionszuständen
bei AIDS-Patienten.
Der HIV-Test
Der HIV-Test ist grundsätzlich anders
zu bewerten als Tests, die üblicherweise bei Verdacht auf eine Infektionskrankheit
durchgeführt werden. Es ist nicht richtig, den HIV-Antikörpertest
als "AIDS-Test" zu bezeichnen. Mit dem HIV-Antikörpertest können
im Blut Antikörper gegen das Virus nachgewiesen werden. Einen eigentlichen
AIDS-Test gibt es nicht, denn das Testergebnis HIV-positiv bedeutet weder,
dass der Betroffene an AIDS erkrankt ist, noch lassen sich zum heutigen
Zeitpunkt sichere Aussagen darüber machen, wie viel Prozent der HIV-Positiven
später erkranken werden. Dennoch ist das Testergebnis "HIV-positiv"
für den Betroffenen ein schwerwiegender Befund, denn er weiß,
dass er sich mit dem AIDS-Virus infiziert hat und eine große Wahrscheinlichkeit
besteht, an AIDS zu erkranken und zu sterben. Das Resultat "HIV-positiv"
schlägt oft wie eine Bombe ein, weil die meisten Probanden den Test
in der Hoffnung durchführen lassen, dass sie ein negatives Ergebnis
von ihrer AIDS-Angst befreien wird.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass die meisten
Probanden mit positivem Testergebnis zunächst mit Hilflosigkeit, Angst
und Kontrollverlust reagieren und signifikant häufiger psychische
Störungen aufweisen (72,5%) als an AIDS erkrankte Patienten (52,5%)
(J. S. MANDEL). Auch scheint die Suizidgefahr beim HIV-Positiven,
nicht Erkrankten, noch höher zu sein als beim AIDS-Patienten. Der
positive
Test stellt die Betroffenen schockartig vor eine Reihe von Fragen und
Problemen:
-
Sie sind gesund, aber potentiell lebensgefährlich
erkrankt.
-
Sie leben mit einer Zeitbombe: Werden Sie
erkranken oder nicht?
-
Wer hat Sie angesteckt, wen haben Sie angesteckt?
-
Was wird weiter?
-
Wie können und sollen Sie weiter leben?
-
Wie ist ihre soziale Situation? (M. FRINGS)
Diese Fragen stellen sich auch deshalb mit
besonderer Dringlichkeit, weil es sich bei den HIV-Positiven im Gegensatz
zu Krebspatienten in der Regel um junge Menschen handelt, die statistisch
gesehen noch ein langes Leben vor sich haben.
Die HIV-Testberatung umfasst daher
immer 2 Gespräche: Das erste vor dem Test. Dieses Gespräch
soll darüber aufklären, was der Test prinzipiell aussagt bzw.
nicht aussagt und was er speziell für den, der ihn durchführen
lassen will, bedeutet. Das 2. Gespräch dient der Mitteilung
des Testergebnisses, verbunden mit einer Aufklärung über die
Konsequenzen und notwendigen Verhaltensmaßregeln. Beide Gespräche
sind unerlässlich. A. JÖTTEN von der gemeinsamen AIDS-Beratungsstelle
der Frankfurter Universitätsklinik und des Stadtgesundheitsamtes fordert:
"Unter allen Umständen muss jeder, der einen HIV-Test anordnet, auch
in der Lage sein, das Ergebnis adäquat mitzuteilen." Ist der Arzt
im Zweifel, ob er den Patienten bei einem positiven Ausgang des Tests qualifiziert
beraten und betreuen kann, soll er ihn lieber an eine Beratungsstelle oder
an die nächste AIDS-Hilfe weitervermitteln.
Es gibt verschiedene Gründe, warum
die Durchführung des HIV-Tests gewünscht wird:
-
Es gibt Menschen, die den Test nur wollen,
weil er angeboten wird, obwohl sie keinerlei erhöhtes Infektionsrisiko
aufweisen.
-
Nicht selten wünschen Personen die Durchführung
des Tests, die sich auf einen lebensgeschichtlich bedeutsamen Schritt vorbereiten
(berufliche Veränderung, Heirat, Kinderwunsch, neue Partnerschaft).
Der negative Testausgang kann dieser Gruppe eine Menge Angst ersparen.
-
In der 3. Gruppe finden sich Menschen, die
ein eindeutig erhöhtes Infektionsrisiko haben (Homosexuelle, Bisexuelle,
Drogenabhängige, Prostituierte, Bluter) und bei denen demnach eine
klare medizinische Indikation für den HIV-Test besteht.
-
Schließlich gibt es Patienten, die unter
einer AIDS-Phobie leiden. Sie stellen für jeden, der mit der
Betreuung von AIDS-Patienten zu tun hat, ein besonderes Problem dar. Es
handelt sich um Menschen, die zu Unrecht fest überzeugt sind, AIDS
zu haben und durch medizinische Mittel (wiederholte negative Testergebnisse)
nicht zu einer Meinungsänderung zu bewegen sind. Sie gehören
in der Regel keiner Hauptbetroffenengruppe an, haben meist zahlreiche negative
HlV-Tests hinter sich, misstrauen jedoch grundsätzlich den Testresultaten
und suchen laufend die verschiedensten Beratungsstellen auf. Nicht selten
stecken hinter diesem stark angstgefärbten Verhalten Schuldgefühle
(Verurteilung der eigenen Sexualität). Die Patienten befinden sich
sehr oft in großer Angst und Unruhe und wandern von einem AIDS-Experten
zum anderen. Nicht selten erwecken sie den Eindruck, dass sie unbewusst
eine Bestätigung der Diagnose AIDS wünschen. Nach jedem negativen
Test fassen sie den festen Vorsatz, keinen Arzt mehr aufzusuchen, durchbrechen
ihn aber, wenn erneut überwältigend starke Ängste auftreten.
AIDS-Spezialisten raten von der Durchführung
des HIV-Tests auch bei starkem Infektionsverdacht dann ab, wenn niemand
da ist, der den HIV-Positiven nach der Mitteilung auffangen könnte.
Das Testergebnis darf unter keinen Umständen
telefonisch oder brieflich eröffnet werden. Die Mitteilung darf immer
nur in einem ausführlichen Gespräch erfolgen, das bei positivem
Ausgang einen großen Zeitaufwand (AIDS-Experten geben 2 - 3 Stunden
an) beansprucht. Denn selbst wenn die Prüflinge mit einem positiven
Ergebnis gerechnet haben, besteht unmittelbar nach der Mitteilung Suizidgefahr,
oder
es kann zu panikartigen Fehlreaktionen kommen. Einem Bundeswehrsoldaten
wurde das positive Testergebnis mit den Worten übermittelt: "Ich gratuliere
Ihnen, Sie haben AIDS!" Die Reaktion des jungen Mannes waren Panik und
Aggressionen, die in seiner Antwort zum Ausdruck kamen: "Wenn das so ist,
dann nehme ich noch hundert andere mit!" Er erschien 4 Wochen später
wieder bei seinem Truppenarzt mit einer frisch akquirierten Gonorrhöe
(G. SALEWSKI). Als Vorbereitung auf den Test sollte mit dem Patienten auch
immer die Frage geklärt werden: "Was macht es mir aus, positiv zu
sein?"
Die Antwort auf die Frage, ob dem Patienten
unbedingt die volle Wahrheit mitgeteilt werden muss, lautet: ja.
Beim HIV-Test gibt es nur eine Wahrheit - positiv oder negativ. Im Gegensatz
zur Krebserkrankung muss dem Betroffenen das positive Ergebnis mitgeteilt
werden, weil er nur dadurch motiviert oder verpflichtet werden kann, sein
sexuelles Verhalten so zu ändern, dass er nicht weiter zur Infektionsquelle
wird ("Safer Sex"). Der negative Testausgang kann als Motivation für
ein präventives Verhalten genutzt werden.
Beim Patienten mit AlDS-Phobie ist
es zunächst wichtig, das Problem als solches ernst zu nehmen, weil
es für die Betroffenen in hohem Maße belastend ist. In strukturierten
Gesprächen soll die psychologische Komponente des Syndroms herausgearbeitet,
aber nicht gedeutet werden. Der Patient soll ohne weiteres seine Befürchtungen
zu Ende denken, weil dies angstmindernd wirkt. Von neuen Tests soll abgeraten
werden. Dem Patienten sollen weitere Kontakte angeboten bzw. eine erfolgversprechende
Therapie (spezielle Psychotherapie) vermittelt werden (JÄGER).
Die Betreuung des AIDS-Patienten
Die optimale Betreuung des AIDS-Patienten
wird in den meisten Fällen nur durch eine Kooperation von Ärzten,
Psychotherapeuten, unterstützenden Organisationen (z. B. Deutsche
AIDS-Hilfe) und Selbsthilfegruppen gelingen. Dennoch ist es wichtig zu
betonen, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem primär verantwortlichen
Arzt entscheidend dafür ist, wie der AIDS-Patient seine Erkrankung
emotional verarbeitet (S. BECKER). Mit anderen Worten: Der AIDS-Kranke
braucht innerhalb der Gruppe der Helfer eine feste Anlaufstelle, z.
B. seinen Hausarzt. Darüber hinaus kann eine zusätzliche Betreuung
notwendig werden, wenn eine "Grunderkrankung" (Drogenabhängigkeit,
Bluterkrankheit) vorliegt. Bei der Kompetenzverteilung sollte die Regel
gelten: "So viel ambulant wie möglich, so viel stationär wie
nötig."
Die entscheidenden Ansatzpunkte für
die psychosoziale Betreuung des AIDS-Patienten sind die Belastungsfaktoren
"Selbstverurteilung"
und
"soziale Isolation". Dabei ist es wichtig, dass die Betreuer des
Kranken (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen) ihre eigenen Phantasien
und Ängste reflektieren, da auch sie Teil einer Gesellschaft sind,
die sich ihre Urteile und Vorurteile über AIDS gebildet hat. So kann
es von Vorteil sein, sich solide sexualwissenschaftliche Kenntnisse über
Homosexualität zu erwerben, um nicht den zahlreichen Vorurteilen über
dieses Phänomen zu unterliegen.
Im Prinzip gelten für das Gespräch
mit dem AIDS-Kranken die gleichen Voraussetzungen wie für die Betreuung
anderer Schwerkranker: Empathie, die Fähigkeit, aktiv zuzuhören,
die Echtheit der Zuwendung. Der Patient soll angenommen werden, wie er
ist, und offen und ohne Angst vor moralischer Wertung über seine Probleme
sprechen können. Wichtig ist es, ihn "dort abzuholen, wo er sich befindet''.
Befürchtungen, die den HIV-positiven Patienten besonders bewegen,
sollen nicht abgeblockt, sondern zu Ende gedacht werden. Die Erfahrung,
dass das Leben begrenzt ist, kann es auch wertvoller machen und als Motivation
dienen, an sich selbst und an seinem Leben zu arbeiten (G. HÖCHLI,
B. JÄGER-COLLET). Ähnlich wie der Krebskranke macht auch der
AIDS-Patient typische Phasen (Verdrängung, Zorn, Depression) durch,
bevor es ihm schließlich gelingt, sich gefühlsmäßig
und kognitiv mit seinem Schicksal abzufinden (siehe Kapitel "Gespräche
mit Todkranken und Sterbenden" ).
Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, den Patienten auf diesem Weg
zu begleiten und nicht, die Entwicklungsschritte zu beschleunigen, was
in der Regel auch nicht gelingt. HÖCHLI und JÄGER-COLLET fassen
die Leitlinien des Umgangs mit dem AIDS-Kranken wie folgt zusammen: "In
der Therapie, die mehr unterstützenden als aufdeckenden Charakter
hat, werden positive Gefühle und Gedanken verstärkt, mögliche
Krankheitsgewinne betont, Konflikte gelöst, Groll und Ressentiments
bearbeitet, 'unfinished business' behandelt, Fokus auf nahe und mittlere
Zukunft gesetzt, Vorkehrungen getroffen, Befürchtungen zu Ende gedacht."
Beim AIDS-Kranken besteht besonders häufig
der intensive Wunsch, Antworten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach
Gott, nach einem Ewigen Leben zu finden. SCHORBERGER schreibt als Klinikseelsorger
über seinen Umgang mit AIDS-Patienten: "Gemeinsam haben wir die Erfahrung,
dass auf keiner anderen Station der Klinik in dieser Dichte der Wunsch
besteht nach religiösen Handlungen; sei es Gebet- oder Wortgottesdienst
am Krankenbett, sei es der Wunsch nach täglicher Bibellesung oder
täglicher Krankenkommunikation, nach einem Beicht- oder Seelsorgergespräch
oder sei es der Wunsch nach einer Krankensalbung ..."
Die Verarbeitung der Krankheit ist gerade
für den homosexuellen AIDS-Patienten von besonderer Schwierigkeit.
Hier ist es eine Hauptaufgabe der Therapie, den Patienten durch einen Erkennungsprozess
seine
Identität
wiedergewinnen zu lassen (Was bin ich? Wie bin ich? Wohin will ich?).
Es bedarf dann häufig langer und schwieriger Wege der Selbstfindung,
um schließlich ohne Angst sagen zu können (entsprechend dem
Song aus dem Musical "Le cage aux folles"): "I am what I am, and what I
am needs no excuses."
Der AIDS-Kranke und seine Angehörigen
Für die Betreuung des AIDS-Kanken ist
die Miteinbindung der Angehörigen von besonderer Wichtigkeit,
weil sie hilft, das besonders ausgeprägte Gefühl der Isolation
zu mindern. Die AIDS-Erkrankung ist für die Angehörigen in der
Regel eine große Belastung und Herausforderung. Die Angehörigen
bedürfen daher ebenfalls einer intensiven Führung im Gespräch,
um nicht zu einer zusätzlichen Belastung für den Kranken, sondern
zu einer wesentlichen Stütze und Hilfe zu werden.
Zunächst ist es wichtig, unbegründete
Ängste
vor Ansteckung in einem sachlichen Gespräch abzubauen.
Es
soll mit den Angehörigen offen besprochen werden, dass ihre Bereitschaft,
die Krankheit mit dem AIDS-Patienten gemeinsam durchzustehen, sehr hilfreich,
aber auch sehr schwierig und belastend sein kann. Sie müssen daher
mit den Erwartungen und Reaktionen des AIDS-Kranken vertraut
gemacht werden. Sie sollten wissen, dass ähnlich wie beim Krebspatienten
Angst, Wut, Verzweiflung oder Anklagen aufbrechen können und dass
sie nicht persönlich genommen werden sollten. Sie sollten ferner wissen,
dass AIDS-Kranke Phasen der völligen Überforderung
durchmachen,
in denen sie jemanden brauchen, an den sie sich einfach anlehnen und bei
dem sie sich ausweinen können. Der AIDS-Patient will aber auch nicht
ständig an seine Krankheit erinnert werden, sondern sollte möglichst
weitgehend am Alltagsleben teilnehmen. Daher ist auch jede Überbesorgtheit
zu vermeiden. Es ist nicht immer nötig, zu sprechen, nonverbale Signale
wie Lächeln oder Berühren können ebenso Zuneigung ausdrücken
und Ruhe bringen. Es ist ungünstig, Fragen, die den Patienten besonders
bewegen (Aussehen, Krankheitszustand, Zukunftserwartungen), auszuweichen.
Besondere Probleme ergeben sich, wenn Eltern
oder Partner erst durch die AIDS-Krankheit von der Homosexualität
oder
der Drogenabhängigkeit des Patienten erfahren. Dann müssen
eventuelle Vorurteile und falsche Vorstellungen über Homosexualität
abgebaut und die Erkenntnis vermittelt werden, dass Homosexualität
eine natürliche Variante des menschlichen sexuellen Erlebens und Verhaltens
ist. Da AIDS-Patienten häufig wegen ihrer Erkrankung und ihrer gesamten
Lebenssituation resigniert sind, müssen alle Schuldzuweisungen
und Vorwürfe vermieden werden, um die Resignation nicht noch weiter
zu vertiefen. Es kann den Angehörigen helfen, sich bewusst zu machen,
dass nicht der Lebensstil
des Erkrankten, sondern ein Virus
Ursache seiner Krankheit ist. Mit Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen
sollte offen über die Erkrankung gesprochen werden. Für die Eltern
drogenabhängiger AIDS-Patienten besteht außerdem die Möglichkeit,
sich einer Elterngruppe anzuschließen. Auskünfte über bestehende
Gesprächsgruppen für Angehörige von AIDS-Kranken und Elternkreise
von drogenabhängigen Jugendlichen vermitteln regionale AIDS-Hilfegruppen
oder die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (Berliner Straße 37, 1000 Berlin
31, Telefon 030/860651).
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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