Start  <  Monografien  <  Inhaltsverzeichnis AP  <  Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch  -35-
Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
... Gespräche mit Todkranken und Sterbenden
Die Sprache 
Möglichkeiten und Grenzen
Die Chance
Die Frage nach dem Sinn
Ein Krankheitsbericht
 
Die Sprache
Gespräche mit Sterbenden sind Gespräche von höchstem Schwierigkeitsgrad. Es gibt keine Situation zwischen Arzt und Patient, in der Worte mit größerer Behutsamkeit, Vorsicht und Sparsamkeit verwendet werden müssen. Von dem Onkologen Th. E. BREWIN stammt die kurze Formel: "Sag genug, aber nicht zuviel." Die richtige Wahl von Zeitpunkt, Thematik und Gesprächsumfang setzt ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen voraus. Der Arzt muss ausloten können, wann, worüber und wie lange ein Patient in der letzten Lebensphase wirklich sprechen will.

Im Gespräch mit Todkranken und Sterbenden hat das "Wie" Vorrang vor dem "Was". Hier kommt der Echtheit des Gesprächs größte Bedeutung zu. Alle Gespräche, die professionell, fassadenhaft, gekünstelt oder routiniert ablaufen, sind fehl am Platz.

In diesen Gesprächen gilt das Prinzip der völligen Klarheit der Sprache nur bedingt. Natürlich sollen auch die Gespräche mit Todkranken und Sterbenden von Offenheit bestimmt werden und ein vernünftiges Ausmaß an Information bieten. Aber Information darf nicht auf Kosten der Hoffnung und für den Preis des Entsetzens gegeben werden. Die Formulierung "nicht gutartiges Gewebe" beinhaltet praktisch die gleiche Information wie "Krebszellen", ist aber möglicherweise weniger belastend. Und die Aussage, dass die "Zeit begrenzt erscheint", ist vielleicht leichter zu verarbeiten als der Hinweis auf den "nahen Tod".

Sterben und Tod bergen Schrecken genug und sind mit stark angstbesetzten Assoziationen verbunden. Daher fällt dem Arzt in dieser Situation in besonderem Maße die Aufgabe zu, durch die Sprache nicht noch zusätzlich Ängste zu induzieren. Natürlich bedeutet dies nicht, dass der Arzt nur Euphemismen benutzen soll. Aber im Gespräch mit dem bereits aufgeklärten Patienten wird wahrscheinlich das Wort "Krebs" nicht mehr fallen müssen, damit der Patient versteht, was gemeint ist, wenn der Arzt von "dieser Krankheit" spricht. Der Arzt kann seinem Patienten deutlich machen, dass er und seine Helfer alles nur Erdenkliche tun werden, um die zu erwartenden "Beschwerden" so gering wie möglich zu halten, ohne von "Schmerzen" zu reden. Pathologisch-anatomische Begriffe sind häufig angstinduzierend und können weitgehend aus dem Vokabular gestrichen werden. Auch ohne Begriffe wie "Metastase", "Tumorzelle" oder "Knochenherd" zu verwenden, ist es möglich, mit dem Patienten offen zu sprechen. Will der Patient Genaues wissen, wird ihm eine "Mitbeteiligung" eines Organs oder eine "Veränderung" meistens ebenso viel sagen wie "Lebermetastase" oder "Knochenherd", ganz zu schweigen davon, dass Detailbeschreibungen wie "zerfallender Lungentumor" oder "verstopfter Gallengang" die Vision eines Obduktionsbefundes beim Patienten heraufbeschwören können.

Bank

Zeichnung eines 59jährigen Krebskranken (hochmalignes Non-Hodgkin-Lymphom) vier Tage vor seinem Tode. 
Auf Befragen gab er folgende Interpretation: Dies ist ein blühendes Getreidefeld mit vielen Kornblumen. In der Mitte, das ist die Bank, auf der ich endlich ausruhen möchte ...

Es ist durchaus legitim, auch nur marginal günstige Ergebnisse im Krankheitsverlauf, wie vorübergehende Fieberfreiheit, Normalisierung bestimmter Laborwerte, leichte Gewichtszunahme usw., hervorzuheben. Sie sind der Stoff, "aus dem die Hoffnung ist". Auch unvermeidbare ungünstige Nachrichten oder Befundverschlechterungen sollten immer mit einem Funken Hoffnung verbunden werden, wie beispielsweise mit dem Hinweis auf einen anderen Kranken, bei dem in der gleichen Situation, wenn auch nur vorübergehend, eine deutlich günstige Entwicklung oder ein Rückgang der Beschwerden beobachtet werden konnten. Gerade in Anbetracht der Rückschläge und Komplikationen bei der Betreuung Todkranker und Sterbender muss der Arzt es lernen, im Gespräch nicht seine eigene Ohnmacht auf den Kranken zu projizieren. Besonders in den frühen Phasen des Wissens um die Unheilbarkeit seiner Erkrankung muss dem Patienten immer wieder versichert werden, dass unheilbar nicht damit gleichzusetzen ist, dass nun "nichts mehr gemacht werden kann", sondern dass es zahlreiche Möglichkeiten der Hilfe, Beschwerdelinderung, Entlastung und Stützung gibt und die Devise für die weitere Betreuung lautet, dass alles Menschenmögliche getan wird. Auch das vorsichtig eingesetzte Bild kann hilfreich sein. Dass der Tod "noch meilenweit entfernt ist", ist als Aussage wahrscheinlich erträglicher als Angaben über die statistische Lebenserwartung. SAUERBRUCH soll auf die Frage des sterbenden Hindenburg, wie nahe der Tod wirklich sei, geantwortet haben: "Er ist noch nicht im Zimmer, Exzellenz, aber er geht ums Haus."

Wenn der Patient im Augenblick nicht sprechen möchte, weil er erschöpft oder aus anderen Gründen nicht gesprächsfähig ist, soll der Arzt diese Haltung akzeptieren, aber ein "zweites Angebot machen": "Wenn Sie möchten, besuche ich Sie später noch einmal..." oder "Sollen wir vielleicht besser morgen weiter darüber sprechen?" Der Kranke weiß dann, dass sein Wunsch, jetzt ungestört zu sein, respektiert wird, der Arzt ihm aber trotzdem zur Verfügung steht. So sehr der Sterbende besonderer Hilfe bedarf, so sehr ist es auf der anderen Seite auch Aufgabe des Arztes, das persönliche Sterben nicht zu stören.

Aktives Zuhören und verstehendes Schweigen gewinnen hier besondere Bedeutung. Nicht widersprechen oder schweigen können Antwort genug sein. Vielfach ist die nonverbale Kommunikation in Form von Gesten der Zuwendung im Umgang mit Sterbenden der Sprache überlegen. Je enger sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in dieser letzten Lebensphase gestaltet, um so mehr werden beide in Form der "schweigenden Übereinstimmung" kommunizieren können.



nach oben
Möglichkeiten und Grenzen
Alle ärztlichen Bemühungen bei Todkranken und Sterbenden laufen im Kern darauf hinaus, dem Patienten zu helfen, Formen der Bewältigung seiner Situation zu finden. So unfasslich und unerträglich das Wissen um den baldigen eigenen Tod auch sein kann, der Patient muss schließlich einen Weg zur "emotionalen Anpassung" seines Schicksals finden. Im Idealfall wird ihm vielleicht sogar die individuelle Bejahung des Todes möglich sein. Für den Arzt ist es daher hilfreich zu wissen, welche Faktoren diese Bewältigungsprozesse fördern.

Das Hilfs- und Forschungsprogramm "Leben bis zum Tod" (R. C. CARY, in: E. KÜBLER-ROSS, Reifwerden zum Tode) hat im wesentlichen ergeben, dass die emotionale Anpassung am besten gelingt, wenn

  • die körperlichen Beschwerden möglichst gering sind,
  • der Patient bereits früher einen engen Kontakt zu einem friedlich sterbenden Menschen hatte,
  • der Patient religiös orientiert ist.
Auch ein höherer Bildungsgrad scheint die emotionale Anpassung zu erleichtern. Diese Ergebnisse unterstreichen die besondere Bedeutung einer ausreichenden und kontinuierlichen Versorgung mit Analgetika. Wesentlich ist die nahtlose und nicht intermittierende Analgesie, die das ständige Auf und Ab zwischen Beschwerdefreiheit und Schmerzspitzen vermeidet. Die Gesamtdosen an Schmerzmitteln sind bei diesem Therapiekonzept niedriger als bei dem immer noch häufig praktizierten Vorgehen, erst bei massiven Schmerzen zu intervenieren.

Wir wissen heute auch genauer, welche Ängste sterbende Patienten in erster Linie bewegen: Am häufigsten ist die Befürchtung, anderen zur Last zu fallen, gefolgt von der Sorge, von nahestehenden Menschen getrennt zu werden, und schließlich die Angst vor einem schmerzvollen Tod. Für den betreuenden Arzt bedeutet dies:

Der Patient muss spüren, dass seine Betreuung keine Last, sondern eine ernstgenommene Aufgabe darstellt, der Kontakt zur Familie muss so eng und großzügig wie möglich gestaltet werden, und der Patient muss schließlich die Gewissheit haben, dass auch im Endstadium eine optimale Schmerzbekämpfung gewährleistet ist.

Die Betreuung von Todkranken und Sterbenden bedeutet auch das Sich-Kümmern um alle Details, selbst wenn sie aus der Sicht eines Außenstehenden noch so geringfügig erscheinen mögen. Diese Haltung macht dem Patienten deutlich, dass auch der "Rest" seines Lebens vollkommen ernstgenommen wird und er nicht bereits auf ein "totes Gleis" geschoben wurde.

Der todkranke Patient ist in seinen Freiheiten meist extrem eingeschränkt. Dieses manchmal an sich schon kaum erträgliche Maß an Unfreiheit kann etwas gemildert werden, indem man dem Kranken alle sinnvollen Freiheiten einräumt. Dies bedeutet in erster Linie, dass die ganze Skala der Entmündigungsstrategien, die gerade im Krankenhaus rasch Oberhand gewinnen können, vermieden wird. Konkret heißt dies, dass der Patient in alle medizinischen Entscheidungen in Grenzen des Vertretbaren miteinbezogen wird: die Abstimmung mit ihm über den Einsatz von Analgetika und sedierenden Medikamenten, Flexibilität, was Zeitpunkt, Art und Umfang diagnostischer 

Maßnahmen anbetrifft, die Möglichkeit, Gewohnheiten und die bisherige Lebensweise - soweit es geht - beizubehalten, die Freiheit, Kontakte und Besuche nach eigenem Ermessen zu bestimmen.



nach oben
 
They also serve who only stand and wait ...
Milton
Die Chance
Die Betreuung des Kranken, der nicht mehr geheilt werden kann, verlangt vom Arzt ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, emotionaler Zuwendung, Gesprächsbereitschaft und die Fähigkeit zu verstehender Präsenz. Haben aber alle diese Bemühungen angesichts der Tatsache, dass der letale Ausgang der Krankheit unabwendbar ist, eine wirkliche Chance? Die Antwort lautet aus der Summe des Wissens und der Erfahrungen mit Sterbenden: ja.

Die Würde des Menschen, so schwierig dieser Begriff auch zu definieren ist, ist in der Krankheit immer bedroht und am stärksten in der Krankheit zum Tode. Gesundheit und Heilung sind die originären Ziele ärztlichen Handelns, aber nicht die einzigen. Wo Heilung nicht mehr möglich ist und der Tod in greifbare Nähe rückt, in der "letzten großen Krise des Lebens", wenn das Maximum an technisch-medizinischem Einsatz per saldo keinen Erfolg bewirkt, wird besonders deutlich, wie sehr der Mensch auf den Menschen angewiesen ist. Deshalb sind gerade auf dem Feld, wo der Arzt seine größten Niederlagen erlebt, auch seine besten, wenngleich nicht die spektakulärsten Siege möglich: Wenn er weiß, was den Sterbenden bewegt und sein Verhalten bestimmt, hat er eine vernünftige Chance, durch Einfühlung, Gespräch und behutsame Lenkung zu helfen, das Unerträgliche erträglich und das Unannehmbare annehmbar zu machen. Vielleicht erlebt er dann das "Wunder der kleinen Geste": Von William OSLER berichtet sein Biograph Harvey CUSHING, dass er seine sterbenden Patienten täglich, ja mehrfach täglich besucht habe. Einem an einem Tumor sterbenden Mädchen brachte er an einem trüben Novembermorgen die letzte Rose aus seinem Garten und versöhnte es so mit dem Tode.

Unter günstigen Umständen, wenn die verbliebene Lebensspanne noch ausreicht und der Arzt im Gespräch wirklich fähig ist, den Kranken zu stützen und zu führen, wenn sich eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten und zur Familie entwickeln lässt, kann er auch in dieser scheinbar aussichts- und hoffnungslosen Lage so etwas wie einen Erfolg erzielen, der als "Reifsein zum Tode" bezeichnet wird: ein Annehmen der Krankheit zum Tode. Gelingt dies, so kann es sein, dass er nach dem Tode des Patienten von den Angehörigen sinngemäß erfährt: "Der einzig Starke in der Familie war eigentlich der Kranke."

Elisabeth KÜBLER-Ross machte deutlich, dass im Umgang mit Todkranken und Sterbenden sich für den Arzt noch eine andere neue Chance eröffnet, nämlich die zu lernen: "Wenn ich anfing zu reden, überwanden sie sehr schnell ihre anfängliche Scheu und ließen uns recht bald Anteil haben an der unvorstellbaren Einsamkeit, die sie empfanden. Fremde Menschen, die wir niemals zuvor getroffen hatten, teilten uns ihren Kummer, ihre Isolierung und ihre Unfähigkeit mit, mit ihren nächsten Verwandten über ihre Krankheit und den Tod zu reden. Sie drückten ihren Ärger über die Ärzte aus, die sich nicht auf eine Ebene mit ihnen stellten, über die Pfarrer, die sie mit der nur allzu oft 

wiederholten Phrase ,Es ist Gottes Wille' zu trösten suchten, und über ihre Freunde und Verwandten, die sie mit dem Unvermeidlichen ,Nimm's nicht so schwer, so schlimm ist es doch gar nicht' besuchten. Wir lernten rasch, uns mit ihnen zu identifizieren, und wir entwickelten eine größere Sensibilität für ihre Bedürfnisse und Befürchtungen als je zuvor. Sie lehrten uns eine Menge über das Leben und das Sterben, und sie freuten sich darüber, dass wir sie baten, unsere Lehrer zu sein."



nach oben
Die Frage nach dem Sinn
Die Frage nach dem Sinn eines Lebens, wenn es zu Ende geht, ist wahrscheinlich die schwierigste Frage, die der Patient seinem Arzt stellen kann. Ist sie überhaupt zu beantworten? In einem weitgefassten Sinne ja.

Vielleicht genügt es schon, dem Patienten beim Ziehen der Bilanz zur Seite zu stehen, ohne zu werten, oder ihm allenfalls aus der Kenntnis seiner persönlichen Geschichte heraus behilflich zu sein, einige Akzente positiv zu setzen.

Viktor FRANKL weist darauf hin, dass die Sinn-Frage von einem ganz anderen Standort aus gestellt werden kann: "Wir wollen einmal überlegen, was wir tun können, wenn ein Patient fragt, was der Sinn des Lebens ist. Ich habe Zweifel, ob ein Arzt diese Frage im allgemeinen beantworten kann. Denn der Sinn des Lebens unterscheidet sich von Mensch zu Mensch, von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Worauf es daher ankommt, ist nicht der Sinn des Lebens im allgemeinen, sondern vielmehr der besondere Sinn eines menschlichen Lebens zu einem gegebenen Zeitpunkt... Da jede Lebenssituation eine Herausforderung an den Menschen darstellt und ihm ein Problem zur Lösung vorlegt, könnte die Frage nach dem Sinn des Lebens tatsächlich umgekehrt werden. Letzten Endes sollte der Mensch nicht danach fragen, was der Sinn des Lebens sei, sondern vielmehr begreifen, dass er es ist, der gefragt wird. Mit einem Wort: Jeder Mensch wird vom Leben befragt; und er kann dem Leben nur antworten, indem er für sein eigenes Leben antwortet. Dem Leben kann er nur antworten, indem er sich verantwortlich verhält."

Die Erfahrung zeigt, dass viele Patienten, die wissen, dass der Tod unausweichlich ist, eher Fragen nach dem Prozess des Sterbens als nach dem Sinn des Lebens stellen und was wohl nach dem Tode kommt. Wenn aber der Patient wirklich nach dem Sinn des Lebens fragt, könnte eine Antwort darin bestehen, ihm die Fragestellung "verändert" zurückzugeben und ihn antworten zu lassen auf die Frage: "Welchen Sinn habe ich für das Leben, d.h. für meine Mitmenschen gehabt?" Wahrscheinlich finden sich dann in jeder Biographie Antworten, die zeigen, dass keine Existenz wirklich ohne Sinn ist.



nach oben
Ein Krankheitsbericht
Den Schluss dieses Kapitels bildet ein Krankheitsbericht, der möglicherweise besser als allgemeine Betrachtungen zeigt, dass der Arzt, auch wenn er konkrete Therapiemaßnahmen nicht mehr anbieten kann, im Umgang mit seinen todkranken Patienten nicht mit leeren Händen dastehen muss. Sicher waren die Voraussetzungen in diesem Fall besonders günstig:

Eine meiner langjährigen Patientinnen, eine 57jährige Dame, die mich in größeren Abständen wegen eines leichten Asthma bronchiale konsultierte, kam nach längerer Zeit wieder in meine Sprechstunde wegen "Müdigkeit in den letzten Monaten und etwas Gewichtsverlust". Schon bei Betreten des Sprechzimmers war unverkennbar, dass sie vom Tode gezeichnet war. Die klinische Untersuchung ergab den dringenden Verdacht auf eine ausgedehnte intraabdominelle Tumorausbreitung mit Lebermetastasen und Aszites. Bereits während dieser Untersuchung bat mich die Patientin, "ehrlich" zu sein, denn möglicherweise sei es "ja etwas Schlimmes", was hinter ihrer Müdigkeit stecke. Ich antwortete, dass ich auch diese Möglichkeit nicht ausschließen könne, und schlug ihr eine kurze stationäre Untersuchung vor. Als Primärtumor ergab sich ein nicht wesentlich stenosierendes Sigmakarzinom mit ausgedehnten Lebermetastasen, Aszites und mehreren Lungen- und Knochenmetastasen. Gemeinsam mit dem Ehemann, einem Zahnarzt, besprachen wir die Befunde.

Die Patientin bat mich um eine offene Antwort auf die Frage: "Habe ich Krebs?" Ich bejahte die Frage, aber in der Folgezeit war dann in allen Gesprächen immer nur von "der Krankheit" oder "dem Krankheitsprozess" die Rede. In diesem Gespräch gingen wir noch nicht auf Behandlungsmöglichkeiten ein. Ich bot dem Ehepaar an, in den nächsten Tagen selbst einen Termin zu bestimmen, an dem wir über die therapeutischen Möglichkeiten und Aussichten sprechen könnten. In der Zwischenzeit könne ich jederzeit telefonisch angerufen werden. Das Ehepaar bat 2 Tage später um einen neuen Termin. Die Phase der Auflehnung schien nur kurz gedauert zu haben und bestand vor allem darin, dass ein Heilpraktiker befragt und ein befreundeter Chirurg des Ehepaares konsultiert und gebeten wurde, mich anzurufen.

Beim darauffolgenden Gespräch erklärte ich in groben Zügen die Möglichkeiten einer Chemotherapie mit einer "gewissen Chance, den Krankheitsprozess zurückzudrängen". Auch über die prophylaktische Anlage eines Anus praeter wurde gesprochen. Die Patientin und ihr Ehemann erbaten sich erneut Bedenkzeit.

Beim nächsten Gesprächstermin fragte die Patientin mich, ob die Behandlung eventuell noch 14 Tage hinausgeschoben werden könnte. Wenn dies der Fall sei, würde sie gerne gemeinsam mit ihrem Mann einen 14tägigen Urlaub an der See verbringen. Ich riet zu dem Urlaub und versicherte ihr gleichzeitig, dass sie mich auch aus dem Urlaub jederzeit anrufen könne, wenn weitere Fragen auftauchen sollten, insbesondere aber, wenn Beschwerden aufträten. Die Patientin rief mich jedoch nur einmal kurz vor Ende des Urlaubs an und erzählte mir, es sei "der beste Urlaub seit Jahren", den sie mit ihrem Mann verbracht habe, Appetitlosigkeit und Müdigkeit hielten sich in Grenzen. Sie wollte wissen, ob es vertretbar sei, noch eine Woche länger zu bleiben. Wir vereinbarten die Verlängerung des Urlaubs um eine Woche.

Danach besuchte mich die Patientin wieder und bat mich um meine ehrliche Meinung, ob eine Behandlung "überhaupt unbedingt erforderlich" sei. Sie habe zwar jetzt leichte Leibbeschwerden, aber vielleicht wäre ein Versuch zu Hause mit Schmerzmitteln gerechtfertigt. In Anbetracht der weitgehend fortgeschrittenen Tumorkrankheit stimmte ich dieser Behandlung zu. Wir arbeiteten einen genauen Plan für eine kontinuierliche Analgesie mit oral zu verabreichenden Analgetika aus.

14 Tage später kam die Patientin wieder in die Sprechstunde und sagte: "Es geht ganz gut mit den Schmerzmitteln." Am Tag zuvor hatte mich der Ehemann aufgesucht und mir berichtet, wie unerträglich ihn die Krankheit seiner Frau belaste, dass aber auch er der Ansicht sei, dass sie mit kontinuierlicher Gabe von Schmerzmitteln zu Hause am besten aufgehoben sei.

Wenige Tage später ließ sich die Patientin noch einmal in die Sprechstunde bringen, berichtete, dass die Schmerzen jetzt stark seien, aber dass sie unter konsequenter Analgetikatherapie damit "leben" könne. Mit großer Gelassenheit sagte sie dann einen für diese Phase bezeichnenden Satz: "Alle weinen - nur ich nicht." 24 Stunden später starb sie zu Hause an einer fulminanten Lungenembolie.
nach oben
vorheriges Kapitel
nächstes Kapitel

Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

Start  <  Monografien  <  Inhaltsverzeichnis AP  <  Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch  -35-