Linus S. Geisler: Behütetes
Sterben und Organspende - vereinbar oder nicht? Podiumsbeitrag. 30. Deutscher
Evangelischer Kirchentag. Hannover, 26. Mai 2005
Behütetes Sterben und Organspende
- vereinbar oder nicht?
Was ist das für ein
Tod, bei dem der Mensch noch lebt?
Linus S. Geisler
Der Umgang einer Kultur mit
ihren Sterbenden und Toten erlaubt immer auch einen Rückschluss auf
ihre Einstellung zu ihren Lebenden.
Sind Hirntote wirklich tot?
Diese Frage stellt sich unabhängig von der Transplantationsmedizin,
denn es scheint doch so zu sein, dass man, sobald der Mensch tot ist, viel
weniger für ihn tun muss, aber sehr viel mehr mit ihm anstellen darf
als zuvor.
Viel wichtiger als die Frage,
ob Hirntote tot sind, ist, ob sie noch am Leben sind. Das Stadium
des Hirntodes, das ohne Eingriffe der Medizin nur flüchtig ist, kann
durch die Intensivmedizin zeitlupenhaft über Stunden, Tage, in gut
belegten Einzelfällen über viele Monate ausgedehnt werden. In
dieser Phase sind vielfältige Zeichen des Lebens auf allen Ebenen
eindeutig zu beobachten, bis hin zum Heranreifen eines Kindes in utero.
Shewmon hat solche gesicherten
Fälle von "chronischem Hirntod" genau analysiert [1]. Manche dieser
Patienten hatten nach einer initialen Kreislaufinstabilität später
spontan ohne medizinischen Support eine stabile Hämodynamik. Eine
systemisch
integrative Funktion des Gehirns kann also nicht regelhaft angenommen
werden.
Die Reduktion menschlichen
Lebens auf Leistungen des menschlichen Gehirns ist nicht nur anthropologisch
fragwürdig, sondern offenbar auch biologisch nicht haltbar. Der Mensch
ist mehr als sein Gehirn, und der irreversible Verlust der Hirnfunktion
weder im metaphysischen noch im biologischen Sinn sein Tod [2]. Der Hirntote
befindet sich in einem irreversiblen Sterbeprozess, und zwar in dessen
früher Phase. Er ist kein "Scheinlebender".
Ebenso wenig kann aus dem
Fehlen von Bewusstseinsäußerungen dem hirntoten Menschen das
Personsein als letzte Barriere gegen schädigende Eingriffe von außen
abgesprochen werden. Das Personsein verlischt nicht mit der Fähigkeit
zu denken, zu entscheiden oder (vielleicht) wahrzunehmen. Solange ein hirntoter
Mensch auf einer Intensivstation ununterscheibar von bewusstlosen "lebenden"
Patienten von seiner Umgebung, von den Pflegekräften, insbesondere
aber von seinen Angehörigen als lebend erfahren wird, ist er Person
in einem sozialen Kontext. Er ist ein Mensch, der am Ende seiner diesseitigen
Biographie ankommt und kein gesichts- und geschichtsloses Ensemble verwertbarer
Organe.
Die verlorene Minute
In allen Kulturen gab es
nach dem eingetretenen Tod des Menschen eine gewisse Zeitspanne, in der
jede Berührung des Toten tabu war. Im alten Griechenland, so berichtet
Herodot,
wurden die Toten drei Tage aufgebahrt, bevor man sie beerdigte. Noch länger
war diese Zeit der Achtung und Schonung des toten Körpers bei den
Römern. Servus schreibt an Vergil, dass der Körper
am achten Tag verbrannt und die Asche am neunten Tag zu Grabe gelegt wurde.
In der jüdischen Tradition dauert die Zeit des Abschiednehmens einen
vollen Monat und wird nicht auf drängende Viertel- und Halbestunden
zusammengepresst. Auf Bali glaubt man, dass die Seele den Körper am
42. Tag endgültig verlässt. Erst dann erfolgt die Verbrennung.
In Dänemark durfte noch 1966 - gegen heftigen Widerstand der Ärzte
- ein Verstorbener aus seinem Sterbebett nicht vor Ablauf von mindestens
sechs Stunden genommen werden.
Diese symbolische "Minute"
einer scheinbaren Tatenlosigkeit nach dem Tode ist aus keiner Sterbekultur
wegzudenken. Wir sind dabei, sie zu verlieren. Der Preis dieser "verlorenen"
Minute sollte nicht aus dem Blickfeld geraten.
Transplantationsmedizin
- Bilanz und Aussichten
Die durch die Transplantationsmedizin
in den vergangenen Jahrzehnten geretteten Menschenleben und erfolgreich
verpflanzten Organe gehen in die Zehntausende. Niemand wird diese Bilanz
leugnen wollen.
Aber die Gegenperspektive
darf nicht verdeckt werden. Transplantationsmedizin ist Extremmedizin.
Mögliche Heilung oder Linderung sind im Körper des Anderen lokalisiert
(wie in der embryonalen Stammzellenforschung). Transplantationsmedizin
will sich als Routine-Therapie im Sinne der Alltagskunstfertigkeit verstanden
wissen. Die Gewöhnung an Transplantationen verdrängt aber die
Einzigartigkeit des Geschehens und die erforderlichen Tabubrüche.
Die (gewollte) Trivialisierung
und Profanisierung des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten.
Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung
ebnet zwangsläufig die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch
Marktmechanismen zählen. Kein Wunder, wenn von deutschen Gesundheitsökonomen
ernsthaft weltweite "Spotmärkte" für Organe diskutiert werden.
Der "Organmangel" wird operationell
zum Fetisch erhoben und als normative Festlegung eingesetzt, die die Organnachfrage
definiert und zum einzigen Orientierungspunkt für die Expansion des
Transplantationssystems gerät. Dieses verfügt dann nur noch über
einen illusionären Sättigungspunkt, der dem Wachstum keine Grenzen
mehr setzt. Damit wird Organverpflanzung zum alternativlos prioritären
Therapieprinzip, dessen Umsetzung nur noch konsequentialistisch angestrebt
werden kann.
Der selbstgesetzte Erfolgszwang
verstärkt die Tendenz zu fragwürdigen Methoden: der so genannte
"marginale" Spender gewinnt an Interesse. Sind dessen Organe für "marginale"
Empfänger bestimmt?
Die Vision der "leeren Wartelisten"
ist Utopie und wird es bleiben. Wartelisten sind nicht nur Orte der Hoffnung,
sondern auch der Grausamkeit. Der Philosoph Franz Vonessen schreibt: "Denn
die Transplantationen bewirken (oder tragen mindestens sehr dazu bei),
dass die blinden Hoffnungen zunehmen, und dass die Todesangst nicht nur
vergrößert sondern vervielfältigt wird. Wenn über
das Leben die Techniker herrschen, dann muss der Blick auf den Tod ins
endgültig Schiefe geraten; denn alle technischen Fortschritte der
Lebensverlängerung fördern die Furcht vor dem Tod. Und das ist
allerdings schrecklich." [3]
Über der Transplantationsmedizin
liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht
umfassend halten. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise.
So lange der Mensch sterblich ist, wird es immer ein endgültig versagendes
Organ geben, dessen Ersatz nicht mehr möglich ist. Mit einer imperativen
Rhetorik ("Tod auf der Warteliste") schadet sich das System selbst. Transplantationsmedizin
verleugnet die Endlichkeit des Menschen, doch sie kann nicht leugnen, dass
Endlichkeit eine fundamentale anthropologische Konstante ist. In der medizinischen
Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existentielle Endlichkeit
des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten
ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen. [4 ]
Die angemessene Frage
Um zum Ausgang der Betrachtung
zurückzukehren: Was die Frage nach tot oder lebendig des Hirntoten
angeht, so ist sie im Diskurs um die Legitimation der Organverpflanzung
gar nicht die entscheidende. Der Philosoph Ralf Stoecker trifft den Kern
der Sache, wenn er feststellt: "Das Problem ist also nicht, ob hirntote
Menschen tot sind, sondern wie man sie behandeln darf, obwohl sie noch
nicht tot sind." [5]
Literatur:
[1] Shewmon, DA: Chronic
"brain death": meta-analysis and conceptual consequences. Neurology. 1998
Dec;51(6):1538-45
[2] Prof. H.-U. Gallwas,
Prof. G. Geilen, Prof. L. Geisler, Dr. I. Gorynia, Prof. W. Höfling,
Johannes Hoff, M.A., Dr. M. Klein, Prof. D. Mieth, S. Rixen, Prof. G. Roth,
J. in der Schmitten, Dr. J.-P. Wils: Wissenschaftler für ein verfassungsgemäßes
Transplantationsgesetz. Tübingen/ Düsseldorf, Mai 1995
[3] Vonessen, F: Das Unglaubliche
der Wahrheit. Leib und Seele im Zerrspiegel des Zeitgeistes. 1994. S. 380-387
[4] Geisler, LS.: Organlebendspende.
Routine - Tabubrüche - Systemtragik Universitas, 59. Jahrgang,
Nr. 702, Dezember 2004, S. 1214-1225
URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412universitas-organlebendspende.html
- Interner
[5] Stoecker, R: Der Hirntod.
Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation.
Band 59. Alber praktische Philosophie. Freiburg/München 1999.
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Linus S. Geisler: Behütetes
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Podiumsbeitrag. 30. Deutscher
Evangelischer Kirchentag. Hannover, 26. Mai 2005. |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0505dekt_hirntod.html |
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