Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: ORGANLEBENDSPENDE. ROUTINE - TABUBRÜCHE - SYSTEMTRAGIK  - UNIVERSITAS, Dezember 2004
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Der Mensch, der in Narkose vor dem Operateur auf dem OP-Tisch liegt, ist nicht sein Patient, er ist ein Gesunder, in Top-Form, wie eingehende Voruntersuchungen ergeben haben. Von einer Arzt-"Patient"-Beziehung kann nicht die Rede sein. Das Paradoxon des geplanten Eingriffs liegt in der Tatsache, dass gerade die Gesundheit des Menschen, der operiert wird, die Indikation für die Operation darstellt. Das Szenario enthält noch einen weiteren makabren Akzent: Das Organ, das der Operateur entfernt, beispielsweise eine Niere, ist völlig intakt. Der ärztlich vollzogene verstümmelnde Eingriff an einem Menschen ohne therapeutische Intention fällt in die Kategorie fundamentaler Herausforderungen medizinethischer Grundprinzipien. Gibt es, so fragt Linus S. Geisler, eine valide Legitimation dafür, dass der Arzt, als "Leibwächter" des Menschen, mit Zustimmung des Geschädigten zum Schädiger des Leibes werden darf?
Organlebendspende

Routine - Tabubrüche - Systemtragik 

Linus S. Geisler
Am 23. Dezember 1954 entfernte der spätere Nobelpreisträger für Medizin Joseph E. Murray im Bent Brigham Hospital in Boston Ronald Herrick eine gesunde Niere und pflanzte sie seinem nierenkranken Zwillingsbruder Richard ein, einem dreiundzwanzigjährigen Bauernjungen aus Northboro/Massachusetts. Die transplantierte Niere funktionierte einwandfrei. Die erste Organ-Lebendspende war gelungen. Der Empfänger starb neun Jahre nach der Transplantation, angeblich an einer Lungenentzündung. Die Autopsie Richards ergab jedoch einen ernüchternden Befund: Die Niere seines Bruders Ronald, mit der er bisher gelebt hatte, war von der gleichen Nierenentzündung befallen, die einst seine Nieren zerstört hatte. Ronald, der Spender, wurde über 70 Jahre alt. Der Erfolg dieser Nierentransplantation war einem wesentlichen Glücksumstand zu verdanken: Da es sich um Zwillingsbrüder handelte, musste die schwierigste Hürde der Transplantationsmedizin, die immunologische Verschiedenheit zwischen Spender und Empfänger, nicht überwunden werden. Aufgrund der vollständigen genetischen Übereinstimmung der Brüder wurde das übertragene Organ nicht abgestoßen.

Als Selbstverständlichkeit nahm Richard das "Geschenk" seines Bruders nicht hin. Noch kurz vor der Operation schickte er ihm einen Zettel: "Mach, dass Du wegkommst, und geh nach Hause!" Aber Ronald hatte sich entschieden und schickte seinem Zwillingsbruder seinerseits einen Zettel: "Ich bin hier und jetzt bleibe ich auch hier" - eine Geschichte über Bruderliebe von beinahe biblischer Einfachheit. Das Panorama der Motive, sich zu einer tief greifenden Selbstverstümmelung zu entschließen, hat über die Jahrzehnte viele Facetten entwickelt. Unter dem Generalnenner der vom Gesetzgeber geforderten "Freiwilligkeit" - nicht Altruismus wird vorausgesetzt - lässt sich vieles subsumieren. Drei Gründe nannte eine potentielle Lebendspenderin einer Niere für ihren Ehemann vor der Prüfkommission: ihr Mann solle wieder seinem Beruf nachgehen können, die Urlaubsplanung nicht von freien Dialyseplätzen vor Ort abhängen und schließlich sei der Wunsch nach einem fitten Sexualpartner doch verständlich. 

Boomende Branche

In Deutschland fand die erste erfolgreiche Nierentransplantation 1963 statt. Im letzten Jahrzehnt hat die Transplantation von Nieren lebender Organspender einen beträchtlichen Aufschwung genommen: von 6,4 Prozent 1995 aller in Deutschland verpflanzten Nieren auf 19,1 Prozent in 2003. Deutschland liegt international im Mittelfeld, Spitzenreiter sind die USA (42,7 Prozent), die wenigsten Nieren-Lebendspenden erfolgen in Ungarn, Belgien und Polen (1,6 - 4,3 Prozent). Unter den Spendern dominieren Frauen, unter den Empfängern Männer. Häufigste Spenderkonstellationen sind Mütter für ihre Kinder und Ehefrauen für ihre Ehemänner.

Die Vorteile der Nieren-Lebendspende im Vergleich zur Organentnahme bei Hirntoten scheinen auf der Hand zu liegen: wahrscheinlich bessere Funktionsraten, exakte Planbarkeit des Eingriffs, Verkürzung der Wartelistenzeit und damit der Dauer der Abhängigkeit von der künstlichen Niere, eine der teuersten medizinischen Behandlungsmethoden (jährliche Kosten ca. 40 000 Euro). Eine Nierentransplantation verursacht einmalig Kosten von ca. 46 000 Euro, später aber nur noch jährliche Aufwendungen von ca. 10 000 Euro. So betrachtet, "rechnet" sich der Eingriff, zumindest aus ökonomischer Sicht.
 
Was aber bedeutet Freiwilligkeit innerhalb der Komplexität von Beziehungen und Familiendynamiken konkret? Bedeutet sie, dass Handlungen in völliger Freiheit von äußeren Zwängen erfolgen?

Das gesundheitliche Risiko für die Spender erscheint vertretbar. Schwerwiegende Komplikationen treten in ca. 1 Prozent der Fälle auf. Das Risiko, an der Nierenentfernung zu versterben, wird mit ca. 0,03 bis 0,06 Prozent als gering eingestuft [1]. Eine andere Lesart der Prozentangaben bedeutet allerdings, dass 3 bis 6 von 1000 der (gesunden) Spender an dem Eingriff versterben. Das Argument der "Unverfügbarkeit des Lebens", so Verfechter der Lebendspende, greife hier nicht und könne auch nicht an der Quantifizierbarkeit des Todesrisikos ausgerichtet werden. Im Alltagsleben würden derartige Risiken als selbstverständlich akzeptiert, wenn zum Beispiel ein Vater, selbst schlechter Schwimmer, dennoch in den Fluss springt, um seinen kleinen Sohn vor dem Ertrinken zu retten. Die körperlichen Langzeitfolgen werden als geringfügig eingestuft, sind aber noch nicht abschließend zu beurteilen. Dass der Spender durch Erkrankung oder Verlust seiner verbliebenen Niere selbst dialyse- und transplantationspflichtig wird, ist äußerst selten, aber nicht grundsätzlich auszuschließen. 

Für den kräftigen Anstieg der Lebendspende sind allerdings nicht nur medizinische Gründe ausschlaggebend. Einerseits haben die Transplantationszentren an der Lebendspende ein vorrangiges Interesse, weil die Lebendspende im Vergleich zur Organspende von Hirntoten sicherstellt, dass das jeweilige Zentrum autonom entscheiden kann. Es hat nicht nur die Kontrolle darüber, wann das Organ gespendet und an wen es vergeben wird, sondern der Eingriff kann zeitlich optimal geplant und muss nicht notfallmäßig durchgeführt werden. Andererseits sind die betroffenen Patienten heute oft über Möglichkeiten und eventuelle Vorteile der Lebendspende (zum Beispiel durch das Internet) umfassend informiert und drängen auf ein Organ von einem Lebendspender statt von einem Hirntoten. 

Leber-Lebendspende - kritische Eingriffe 

Die Leberlebendspende wird bei Kindern seit rund fünfzehn Jahren erfolgreich angewandt [2]. Ihnen wird ein kleines Stück des linken Leberlappens eines Elternteils eingepflanzt. Relativ neu ist die Lebendspende des rechten Leberlappens zwischen Erwachsenen. Dem gesunden Spender werden ca. 60 Prozent der Leber entfernt und auf den Empfänger übertragen. Der verbleibende linke Leberanteil wächst zur früheren Größe nach, ist aber strukturell nicht mit dem Ursprungszustand identisch. Ebenso wächst der transplantierte rechte Leberlappen innerhalb weniger Wochen im Körper des Empfängers auf normale Größe heran. 2003 wurden 74 Lebersegment-Lebendspenden an acht deutschen Kliniken vorgenommen, gegenüber 773 Lebertransplantationen von hirntoten Organspendern.
 
Die betroffenen Patienten sind heute oft über Möglichkeiten und eventuelle Vorteile der Lebendspende umfassend informiert und drängen auf ein Organ von einem Lebendspender, statt von einem Hirntoten.

Abgesehen von akutem Leberversagen leiden die meisten Lebertransplantatempfänger an fortgeschrittener Leberzirrhose als Resultat einer chronischen Leberentzündung oder eines langjährigen Alkoholmissbrauchs. Der Eingriff ist bei Erwachsenen wegen der schwierigen operativen Neuverbindung von Gefäßen und Gallenwegen wesentlich problematischer als die Verpflanzung einer Niere. Die Sterblichkeitsrate der Spender (ca. 0,5 bis 1 Prozent) und das Risiko schwerwiegender Komplikationen (30 bis 40 Prozent), wie ein Leck oder der Verschluss von Gallenwegen, liegen mehr als zehnmal höher als bei der Nierenlebendspende. Die Risiken können für den Spender, so Lebertransplanteure, größer sein als für den Organempfänger. 

Lebendspender - Heilige oder Verrückte?

Der deutsche Gesetzgeber bewertet die Lebendspende als subsidiär im Verhältnis zur Organspende von Hirntoten [3]. Er erlaubt sie nur, wenn für den potenziellen Empfänger aktuell kein Organ eines hirntoten Spenders zur Verfügung steht. Er verfolgt damit zwei Ziele. Einmal den Schutz des Spenders, dessen Organentnahme gegen das Fundamentalgebot der Schädigungsfreiheit medizinischen Handelns (primum nihil nocere) verstößt. Zum anderen soll die Lebendspende die Bemühungen, Organe von Hirntoten zu erhalten, nicht verringern. Die Lebendspende ist daher nur zulässig, wenn das Organ auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen übertragen wird, die dem Spender in "besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen".

Mit dieser Einschränkung des Empfängerkreises soll die Freiwilligkeit der Organspende gesichert und der Gefahr des Organhandels begegnet werden. Was aber bedeutet Freiwilligkeit innerhalb der Komplexität von Beziehungen und Familiendynamiken konkret? Bedeutet sie, dass Handlungen in völliger Freiheit von äußeren Zwängen erfolgen? Ganz zu schweigen von einem Freiwilligkeitsbegriff vor dem Hintergrund der Debatte um den neuronalen Determinismus des Menschen. Alle heftig betriebenen Bemühungen um eine Ausweitung des Spenderkreises müssen sich dieser Frage stellen. Dies gilt insbesondere für die Favorisierung der so genannten anonymen Lebendspende, bei der Spender für einen ihnen unbekannten Empfänger aus "altruistischen" Gründen in einen so genannten "Organpool" spenden, aus dem der Empfänger sein Organ erhält. Kanadische Transplantationsmediziner haben beim Versuch der psychologischen Charakterisierung solcher Spender wegen der sehr heterogenen Motive die Frage aufgeworfen, ob diese als "lunatic or saint", als geisteskrank oder heilig, anzusehen seien [4]. 

Extremmedizin

Transplantationsmedizin ist Extremmedizin. In ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet: Heilung oder Linderung sind im Körper eines Anderen lokalisiert [5]. Eingriffe in diesen Körper sind aber immer auch Eingriffe in den Leib. Körper habe ich, Leib bin ich. Der Leib erweist sich als mentale Repräsentation des Körpers. Weil aber Besitzverhältnisse nur über den Körper zu bestimmen sind, muss der Leib als eine Existenzweise der Person in einem System, das das Aufbrechen der Abgeschlossenheit des Körpers zur Voraussetzung hat, zum Verschwinden gebracht werden [6]. Die Person wird subtrahiert, um die Körperverfügbarkeit zulassen zu können.

Ohne Änderung des Menschenbildes und des Körper-Leib-Verständnisses ist ein reibungsloser Vollzug des Systems nicht machbar. Neubestimmungen sind unerlässlich. Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das Tabuisierte zulassen. Das körperliche Dasein muss umdefiniert werden in eine bloße Ansammlung von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet. Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers und seiner Organe ist aufzugeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln, denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger bedürfen der Legalisierung.

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung geraten in eine grundsätzliche Spannung zueinander. Der Versuch, sie aufzulösen, besteht in der Formulierung einer neuen "ethischen Anforderung", nämlich mit eigenen Körperteilen anderen helfen zu sollen [7]. Damit taucht unvermeidbar das Argument der Solidarität auf, dessen Extremvariante als Sozialpflichtigkeit zur Organspende zunehmend den Charakter des Unausweichlichen annimmt. Der Organspender als "Leistungserbringer" im Gesundheitssystem?

Feindliche Übernahme?

Organverpflanzung berührt Elemente der körperlichen Integrität und Identität. Die Verletzung der körperlichen Integrität ist unausweichlich, ihre Auswirkungen auf die Identitätsbildung, die als Leistung zu verstehen ist, nicht vorhersehbar. Im Extremfall resultiert ein signifikanter Bruch des eigenen Körperbildes. Das neue Organ als Hoffnungsträger von Heilung oder Rettung erweist sich gelegentlich als doppelbödige Gabe. Es etabliert verloren gegangene Funktionen neu und offenbart sich zugleich immunologisch als Feind. 

Die Angst auf der Warteliste vor dem endgültigen Organversagen weicht zugunsten der Angst vor dem Organverlust durch Abstoßung. Die durch die moderne Medizin ermöglichte Rettung des Ichs, kann gleichzeitig seine Gefährdung bedeuten [8]. Die Transplantationsmedizin geht von der naiven Zielsetzung einer restitutio ad integrum aus, bei der allerdings das inkorporierte Fremde trickreich aus der Gesamtrechnung herausmanipuliert und eine ungebrochene Identität vorgespiegelt wird. Die Wahrnehmungs- und Empfindungswelt des Empfängers wird in die Kategorie des quasi Poetologischen eingeordnet.
 
Das neue Organ als Hoffnungsträger von Heilung oder Rettung erweist sich gelegentlich als doppelbödige Gabe. Es etabliert verloren gegangene Funktionen neu und offenbart sich zugleich immunologisch als Feind.

Identität ist nur aus der Leiblichkeit her erfahrbar. Insofern gerät der Leib trotz aller Verdrängungsbemühungen nolens volens wieder ins Blickfeld. Die psychische Integration transplantierter Organe gelingt den Empfängern in unterschiedlichem Ausmaß. Die Inkorporation des fremden Körpers kann sich scheinbar folgenlos vollziehen oder wird als Angriff auf die Personalität von außen wahrgenommen, als das Eindringen des Anderen [9]. Kann ein Mensch nach einer Organtransplantation noch der Gleiche sein, der er vorher war? Die Abstoßungsreaktionen und die unverzichtbare immunsuppressive Therapie erlauben es nicht, den Dauerversuch der feindlichen Übernahme durch das Fremde zu verdrängen. Nach der Transplantation ein mit sich selbst identisches Ich zu erfahren, zählt zu jenen Erfolgskriterien der Organverpflanzung, die in Statistiken, welche sich in der Darstellung von 5-Jahres-Organfunktionsraten erschöpfen, keinen Platz finden. 

Routine, Grenzen und Tabus

Transplantationsmedizin verneint ihren Charakter als Extremmedizin. Sie will sich als Routine-Therapie verstanden wissen [10]. Jede Beschreibung der Routine als eine Art Alltags-Kunstfertigkeit verdeckt aber eher den Blick auf ihre Grenzen, als dass sie die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Die Routine-Metapher wirkt in hohem Maße suggestiv. Sie impliziert risikolose technische Perfektion und stellt ihre Erlaubtheit außer Frage. Damit ist sie offen für die unlimitierte Zahl. Ethische Diskurse hat sie bereits weit hinter sich gelassen. Die Gewöhnung an Transplantationen verdrängt die Einzigartigkeit des Geschehens [11]. Dies schlägt zurück auf alle Beteiligten.
 
Die (gewollte) Trivialisierung und Profanisierung des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten. Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe.

Sie bewirkt die Nicht-Wahrnehmung der Einmaligkeit eines Vorgangs, in der ein Arzt einem Gesunden - ohne Therapieauftrag für diesen - ein gesundes Organ entnimmt. Diese Betrachtung der Lebendspende, so wird eingewandt, greife durch Fokussierung auf die Arzt-Patient-Beziehung zu kurz, weil sie Patientenkollektive (etwa Patienten auf Wartelisten) und schließlich auch gesamtgesellschaftliche Claims unberücksichtigt lässt. Bei der Organlebendspende ist ärztliches Handeln jedoch zu allererst eingebettet in ein komplexes Spannungsfeld zwischen Nicht-Schaden, Wahrung der Patientenautonomie und therapeutischer Zielsetzung. Dieses Spannungsfeld wird wesentlich durch individuelle Vorstellungen, Werte und Absichten von Spender, Arzt und Empfänger modifiziert und kann nicht durch Routine-Metaphern ausgeblendet werden. 

Belohnte Geschenke

Die (gewollte) Trivialisierung und Profanisierung des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten. Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung ebnet zwangsläufig die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen zählen. Die ethische Begriffsverwischung ist dabei bemerkenswert. Von dem Bombayer Arzt C. Patel stammt das Oxymoron des "rewarded gifting" (entlohntes Schenken). Es wird inzwischen auch von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern wie Peter Oberender übernommen, der monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate als Lösung des Problems "Organmangel" propagiert und behauptet, dass alle Beteiligten dabei gewinnen [12]. Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [13]. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichem Welt, stark. Kein Wunder, wenn von deutschen Gesundheitsökonomen ernsthaft "Spotmärkte" für Organe diskutiert werden.

Die Duldung und Förderung von Organverkäufen in Drittweltländern wird als eine neue Form der "Entwicklungshilfe" dargestellt. Die Wahrheit ist, wie beispielsweise Untersuchungen aus dem südindischen Chennai zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl der Nierenverkäufer wenige Jahre später ärmer, stärker verschuldet und häufiger arbeitslos war als vor dem Organverkauf, viele von ihnen ernsthaft krank als Folge des meist unsachgemäß durchgeführten Eingriffs [14].

Der "Organmangel" wird operationell zum Fetisch erhoben und als normative Festlegung eingesetzt, die die Organnachfrage definiert und zum Orientierungspunkt für die Expansion des Transplantationssystems gerät. Dieses verfügt dann nur noch über einen illusionären Sättigungspunkt, der dem Wachstum keine Grenzen mehr setzt. Damit wird Organverpflanzung zum alternativlos prioritären Therapieprinzip, dessen Umsetzung nur noch konsequentialistisch angestrebt werden kann. 

Systemtragik

In der Unheimlichkeit einer technischen Welt, auf die der Mensch nur mangelhaft vorbereitet ist, ist unbeschädigtes Überstehen gebunden an die Kraft zur Redlichkeit zwischen Arzt und Patient und der Redlichkeit zwischen Medizin und Gesellschaft. Dies umfasst auch die Einsicht, dass es nur darum gehen kann "Grausamkeiten zu reduzieren" (Richard Rorty) anstatt Utopien zu errichten. Utopien sind der wahre Sündenfall des technischen Zeitalters.

Die Errichtung von "Wartelisten" ist die Etablierung von Hoffnungen, aber auch von Grausamkeiten. Fünf Jahre Wartezeit auf eine Nierentransplantation sind durchschnittlich 780 Dialysen, 3120 Stunden, also 130 ganze Tage, die nun nicht als Möglichkeit der Lebensverlängerung erlebt werden, sondern als "Warten, für dessen Schrecken man keine Sprache hat" (so ein Patient auf einer Warteliste [15]). Der Vorschlag, begrenzte Wartelisten zu führen, auf die nur Patienten aufgenommen werden, für die eine konkrete Transplantationsmöglichkeit besteht, könnte diese Grausamkeit mildern [16].
 
Das Bewusstsein, dass Heilung oder Rettung durch das Organ eines Anderen glückliche Fügung und nicht einklagbare Anspruchserfüllung ist, würde verständliche Ansprüche und ihre mögliche Erfüllung in einem anderen Lichte erscheinen lassen.

Über der Transplantationsmedizin liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht umfassend halten. Die Illusion der "leeren Warteliste" wird immer eine Illusion bleiben. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise. So lange der Mensch sterblich ist, wird es immer ein endgültig versagendes Organ geben, dessen Ersatz nicht mehr möglich ist. Mit einer imperativen Rhetorik ("Tod auf der Warteliste") schadet sich das System selbst. Transplantationsmedizin verleugnet die Endlichkeit des Menschen, doch sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existentiale Endlichkeit des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen [17]. 

Überwindung der Krise?

Der Versuch einer Überwindung der Systemkrise käme allen Beteiligten zugute, in erster Linie den Kranken, aber auch den um sie bemühten Ärzten und Wissenschaftlern. Sie setzt Bewusstseinsveränderungen voraus und den Mut, normativ gebrauchte Metaphern ("Organmangel") außer Kraft zu setzen. Die Frage von Thomas Schlich [18]: "Vielleicht dürfen nur so viele Organe in einer Gesellschaft transplantiert werden, wie es freiwillige Organspenden gibt?" führt zu gänzlich neuen Antworten, die geeignet sind, das System von seinem heillosen Druck zu entlasten.

Das Bewusstsein, dass Heilung oder Rettung durch das Organ eines Anderen glückliche Fügung und nicht einklagbare Anspruchserfüllung ist, würde verständliche Ansprüche und ihre mögliche Erfüllung in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Missionarischer Organbeschaffungseifer und hybrides, aber letztlich ineffektives Aufschaukeln des Systems könnten dann einer Empfindung von großer Ruhe weichen, deren Merkmal gelassene Dankbarkeit wäre. Fortschritt ist nur Fortschritt vor dem Hintergrund einer Freiheit, die die Alternativen offen hält, ja, aber auch nein zu einer Medizin der Hochleistungen sagen zu können.
 
 

Leseempfehlungen des Autors

Feuerstein G: Das Transplantationssystem. Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge. Weinheim und München. 1995. 

Geisler LS: Das Verschwinden des Leibes. Universitas, Nr. 598, Stuttgart 1996, 51. Jahrgang, S. 386-397. 

Krüger-Fürhoff IM: Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation. In: Barkhoff J, Böhme H, Riou J (Hg): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln Weimar Wien. 2004. 

Schlich T: Transplantation. Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München. 1998. 

Schneider I: Ein Markt für Organe? Die Debatte um ökonomische Anreize zur Organspende. In: Oduncu F S, U Schroth, W Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen. 2003. S. 189-208.

 

Literatur

[1] Deutsche Stiftung Organtransplantation 2004.

[2] Erste erfolgreiche Teilleberlebendspende 1989 in Chicago durch Christoph Broelsch (OPTN 2004a).

[3] Transplantationsgesetz - (TPG) vom 5. November 1997 (BGBL I Nr. 74 S. 2631)

[4] Henderson AJ et al: The living anonymous kidney donor: lunatic or saint? Am J Transplant. 2003 Feb;3(2):203-13

[5] Schneider I: Ein Markt für Organe? Die Debatte um ökonomische Anreize zur Organspende. In: Oduncu FS, U. Schroth, W. Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen. 2003. S.189-208

[6] Geisler LS: Das Verschwinden des Leibes. Universitas, Nr. 598, Stuttgart 1996, 51. Jahrgang, S. 386-397. 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9604universitas_leib.html  -  Interner Interner Link

[7] Körper als Baukasten. Wie die Organtransplantation das Menschenbild berührt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2003, Nr. 230, S. 38

[8] Krüger-Fürhoff IM: Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation. In: Barkhoff J, Böhme H, Riou J (Hg): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln Weimar Wien. 2004

[9] Feuerstein G: Das Transplantationssystem. Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge. Weinheim und München 1995.

[10] Eigler FW: Organtransplantation - Routine oder Experiment? In: Ach JS, Quante M (Hg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1999. 2. Auflage. S. 125-133

[11] Fox RC, JP Swazey: Spare Parts. Organ Replacement in American Society. Oxford University Press, New York, Oxford 1992

[12] Oberender O, Rudolf T: Das belohnte Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für Organtransplantate. Wirtschaftswissenschaftliches Diskussionspapier 12-03. Universität Bayreuth. ISSN 1611-3837. Oktober 2003

[13] Kliemt H: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" Anhörung vor der Enquete-Kommission 'Ethik und Recht der modernen Medizin'. Berlin. 18. Oktober 2004.

[14] Goyal M, Mehta RL, Schneiderman LJ, Sehgal AR: Economic and Health Consequences of Selling a Kidney in India. JAMA 288:1589-93, 2002.

[15] Büttler H: Herzversagen. In: Neue Zürcher Zeitung. Februar 1997.

[16] Nagel E: Schmerz und Leid auf Wartelisten. Ethik Med (2000) 12:227-235

[17] Sitter-Liver B: Gerechte Organallokation. Ethisch-philosophische Überlegungen zur Verteilung knapper medizinischer Güter in der Transplantationsmedizin. Studie zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Bern. Bern. 15. September 2003. 

[18] Schlich T: Transplantation. Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München 1998, S. 73.
 

Link zu UNIVERSITAS Online:
http://www.hirzel.de/universitas/  -  Externer Externer Link

Geisler, Linus S.: Organlebendspende. Routine - Tabubrüche - Systemtragik 
Universitas, 59. Jahrgang, Nr. 702, Dezember 2004, S. 1214-1225 
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412universitas-organlebendspende.html

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