Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DAS VERSCHWINDEN DES LEIBES. UNIVERSITAS - April 1996
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Das Verschwinden des Leibes

Linus S. Geisler

Entleiblichung, Virtualisierung: Die Zukunft liegt, glauben wir den Auguren, nicht in der Hardware - dem Anfaßbaren -, sondern in der Software. Auch die Medizin hat Anteil an diesem Trend der Hochtechnologie. Was bedeutet das für den menschlichen Körper? Wird die Hoch- und Überrüstung der Medizin den Körper zum Bio-Kitt reduzieren?

Gottfried Benn schreibt in seinem Gedicht "Der Arzt": "Ich lebe vor dem Leib." [1] Der Leib wird hier noch verstanden als eine Wirklichkeit des Menschen, die das rein Organismische weit überschreitet. Potentaten hielten sich einen Leib-Arzt, der gewiß mehr war als ein Arzt nur für den Körper. Nicht selten wurden früher Leib und Leben synonym gebraucht; die Leibrente war eine Zahlung auf Lebenszeit.

Der Leib beinhaltet Personsein, Leben haben und Körperlichkeit. Als die verleiblichte Seele sieht Thomas von Aquin den Menschen. Die Wirkungen dieses Leibes nach innen und außen werden auch von seiner Symbolhaftigkeit bestimmt. Der Leib ist ein offenes System in einem sozialen Kontext. Er ist aus dem gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben, zugleich aber auch letzte Subjektivität. Leib sind wir, während wir den Körper nur haben.

Ein beeindruckendes Beispiel dieses Leibseins in der brutalen Darstellung des nackten Körpers ist Frida Kahlos bekanntestes Werk "Die zerbrochene Säule" von 1944: In einer düsteren Landschaft ist ein entblößter, geöffneter Frauenkörper aufgerichtet, in dem eine zerbröckelnde ionische Säule, durch Riemen zusammengehalten, die zertrümmerte Wirbelsäule der Malerin symbolisiert und zugleich den fundamentalen Bruch ihrer Existenz.

Körper ist zunächst schon jeder materielle Gegenstand. Körper ist alles, was einen bestimmten, meßbaren Raum füllt. Damit steht der Körper im Gegensatz zum Unmeßbaren, zum Beispiel der Seele. Mathematisch betrachtet gilt jedes dreidimensionale Gebilde als Körper, physikalisch jedes makroskopische System, das aus einer sehr großen Zahl von Molekülen oder Atomen besteht.

Die begriffliche und sprachliche Differenzierung von Leib und Körper erfährt im historischen Verlauf Veränderungen, die immer auch zugleich das jeweilige Menschenbild prägen.

Indikator für das Menschenbild

So spannt sich ein weiter Bogen von der Antike und ihrem Verständnis der physischen Existenz des Menschen bis hin zur Postmodeme, die ihn als fraktales Subjekt oder menschlich kodiertes Terminal versteht und den Leichnam als herrenloses, verfügbares Gut. [2]

Schon immer war der Umgang einer Kultur mit dem toten Leib ein verläßlicher Indikator für das vorherrschende Menschenbild. Seine wirklich humanen Züge entfaltete der Homo sapiens in dem Augenblick, als er sich nicht nur altruistisch um seine Artgenossen bemühte, sondern begann, seine Toten zu beerdigen.

Das griechische "soma" steht anfänglich, zum Beispiel bei Homer, für den (toten) menschlichen oder tierischen Körper, den Körper als Ding. Bei den Vorsokratikern tritt die Seele zum Körper hinzu. Für Plato ist "soma" das Sichtbare des Menschen, das aber noch nicht das Ganze der Person ausmacht. Der Körper des Toten ist für ihn ein Scheinbild, während die Seele den wahren und unsterblichen Teil darstellt. Die Stoiker betrachten den Leib als Organ des Logos. Später erfährt der Leibbegriff überindividuelle Ausweitungen, so in der Übertragung des Bildes vom Leib auf den Staat bei Aristoteles, oder die Deutung des Kosmos als Leib, ebenso wie des Leibes als Kosmos. Demokrits berühmter Satz vom Menschen als Mikrokosmos wurzelt in dieser Betrachtungsweise. [3]

Auch bei vielen Naturvölkern wird der Leib nicht abgetrennt von der Natur erlebt, sondern ist innig mit ihm vermengt, bildet eine Kontinuität mit ihm. Vom langen Körper sprechen einige Indianerstämme und verstehen darunter den Leib in seinen Metamorphosen und Bedeutungsinhalten von der Geburt bis zum Tode.

Beschwichtigende Sinnbilder

Im Christentum ist der Leib ebenfalls mehr als reine Physis. Er wird spirituell und mystisch verstanden als das Ganze, das eigentliche Ich, die Person, wie es auch in der Abendmahlszene deutlich wird ("Dies ist mein Leib ...", Mk. 14. 22). Er steht aber auch allegorisch als Symbol für die Kirche, den Staat oder die Familie.

Auferstehung und Weiterleben nach dem Tod werden im christlichen Verständnis wie im Islam leiblich begriffen, freilich im spirituellen Sinne. Wenn es einen irdischen Leib gibt, gibt es auch einen überirdischen, so lautet die paulinische Antwort an die Korinther (1. Kor. 15. 44). Freilich ist für Paulus der Menschenleib nur ein "nacktes Samenkorn", das erst im Erdreich sterben muß, bevor ihm von Gott neues Leben geschenkt wird.

Gerade durch christliches Martyrium im 3. Jahrhundert erfuhr dieses heile Bild eine harte Prüfung: Werden auch diejenigen "fleischlich" auferstehen, deren Leiber zerstückelt oder von den wilden Tieren im Zirkus verschlungen wurden? Hier halfen beschwichtigende Sinnbilder, wie die vom "wieder aufgebauten Tempel", der "reparierten Statue" oder der "zersprungenen Vase", die von einem geduldigen Demiurgen wieder zusammengeflickt wird.

Fleischlose Schau

Nicht minder schwierige Fragen ergaben sich für den Zwischenzustand zwischen Tod und jüngstem Gericht: Wie kann die Seele ohne den abgetrennten Leib bestehen? Unnatürlich sei die Körperlosigkeit der Seele, argumentierten die Franziskaner, sie empfinde ein regelrechtes Körperbegehren, quasi eine Art Phantomschmerz. Dem hielt Thomas von Aquin entgegen, die Seele enthalte bereits den Leib - als Form -, sie sei das Prinzip seiner Einheit. Eine Sonderlösung wurde für die Heiligen ersonnen: Sie brauchten im Jenseits, so befand Papst Benedikt XII. im Jahr 1336, keinen Leib. Fleischlos sei ihnen sofort nach ihrem Tode die selige Schau Gottes gewiß. [4]

Nach dem Verständnis der Scholastiker konnten aus Brot und Wein durch den Akt der Wandlung ("Transsubstantiation") "Christi Leib und Blut" real gegenwärtig werden und sich konkret leiblich der menschlichen Wahrnehmung darbieten. In einem Akt der Entontologisierung hat dann der Denkgestus der Reformation Brot und Wein lediglich zu "Zeichen" des Leibes und Blutes Christi umgedeutet, mit denen an das Erlösungsgeschehen erinnert werden sollte.

Im Gegensatz zum Christentum besitzen das Altsemitische und Hebräische keinen besonderen Ausdruck oder Begriff für Leib. Wenn der Mensch dort Fleisch genannt wird, so ist er als Ganzer in seiner Hinfälligkeit gemeint. Fleisch, das bedeutet den unzulänglichen Menschen. So verwendet noch das Grimmsche Wörterbuch die Begriffe "Fleischlin" für ein junges Mädchen und "ein schlimm Stück Fleisch" für böse alte Frauen. [5]

Der Taoismus erlaubt der Person die Überschreitung des Leibseins, in dem sie meditativ das Universum inkorporiert. In dieser Dimension kann der Leib sich bis zum Universum ausdehnen und ist, obwohl begrenzt, auch die ganze Welt zugleich. Das Körperverständnis im Buddhismus, ausgehend von drei Körpern (Hervorbringungskörper, Seligkeitskörper und Wahrheitskörper) ist auf den abendländischen Begriff von Körper oder Leib nur unzulänglich übertragbar. [6]

Min lip

Im Mittelalter und der frühen Renaissance stellt der Leibbegriff immer noch eine idealisierte Projektion, eine Entität dar, die für die erkennbare Form des Menschen steht, ihn als Ganzes enthält. "Min lip" wurde synonym mit "ich" verwendet. Der Leibeigene war seinem Herrn mit dem "Übe eigen", mit seinem Leben als Person zugehörig. Ganz anders bereits der Sklave im Amerika des 17. und 18. Jahrhunderts, der als purer Körper in harter Währung gehandelt und dessen Wert nach seiner körperlichen Funktionsfähigkeit bemessen wurde.

Die Geburt des modernen Körpers als Objekt von Medizin und Biologie, seine Versachlichung als anatomisches Gebilde, als mechanistische Konstruktion bis zur heutigen Auffassung als biochemischer Maschine, vollzieht sich im 16. Jahrhundert. Im gleichen Jahr 1543, in dem Kopernikus "De revolutionibus orbium coelestium" veröffentlicht, legt Vesalius [7] sein Werk "De humanis corpori fabrica" vor, anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie ermöglichen die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen Theatern von Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang, und fokussieren das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen, seine strukturellen Manifestationen.

Aber die Vesalschen Abbildungen des menschlichen Körpers haben bereits den kalten Blick der Vivisektion. Die gehäuteten Objekte sind Projektionen einer herzlosen Schau, ganz anders als die Darstellungen Leonardo da Vincis. Obwohl auch er Perfektion anstrebt - zwei Dutzend Leichen mußte er nachts öffnen, bis er glaubte, ein einziges Organ aus allen Perspektiven erfaßt zu haben - eignet seinen Darstellungen noch die Qualität des Lebendigen. Dennoch: Der aufschneidbare "niedrige" Körper wird zwangsläufig separiert von den "höheren" Eigenschaften des Geistes.

In der Betrachtung Michel Foucaults "Die Geburt der Klinik", [8] die er eine "Archäologie des ärztlichen Blicks" nennt, regt er an, die Abhängigkeit der Medizin von den unterschiedlichen Interpretationen des menschlichen Körpers zu studieren. Ihre Geschichte sei besser zu begreifen, wenn man der Logik der verschiedenen Konzepte des Körpers folge. "Öffnen Sie einige Leichen!", ruft Foucault aus, und "die Nacht des Lebendigen weicht vor der Helligkeit des Todes ...!"

Das größte Hindernis bei der anatomischen Präparation bildete zunächst die katholische Kirche. Noch um 1300 wetterte Papst Bonifatius VIII. in seiner Bulle De sepultris gegen die Zerlegung von Leichen, dem Anschein nach aus Pietät, obwohl öffentliche Folterungen, Zerstückelungen und Exekutionen von der Kirche sehr wohl geduldet wurden. Die Bulle richtete sich vordergründig gegen die zunehmende Gewohnheit, das Skelett der im Orient umgekommenen Kreuzfahrer nach Abkochen der Leiche zurück nach Europa zu verfrachten. Der tiefere Grund aber mag die drohende Entthronung des Schöpfers durch die Zerteilung seiner Geschöpfe sein.

"Denn Autopsie", so Durs Grünbein, "ist der sicherste Weg zum Verlust des Glaubens oder, wem das nicht ausreicht, zur Befestigung des Unglaubens." [9] Und er weiß um die Folgen: "Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum Absurden genauso wie zur äußeren pragmatischen Demut."

Schatten des Mechanismus

Descartes [10] leitet die Subjekt-Objektspaltung ein, nach deren Verständnis der Körper eine menschliche Maschine ist und der kranke Mensch vergleichbar einer schlecht gemachten Uhr, Betrachtungsweisen die den Ausgangspunkt für epochale Entdeckungen, wie der des Kreislaufs durch William Harvey bilden. Das mechanistische Körperverständnis begleitet von da an Biologie und Medizin wie ein Schatten, der selbst die Seelenforschung nicht ausspart: Von (An-)Trieb spricht Freud, vom psychischen Apparat. [11]

Der Körper der klassischen Medizin war ein diffiziles Gebilde aus Säften und Eigenschaften. Jetzt begannen die Ärzte zum erstenmal den Körper als großes mechanisches Gebilde zu sehen, als extrem komplizierte Maschine. Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie widmet dieser aufregenden Maschine sein revolutionäres Buch: "L'Homme machine":

Braucht es noch mehr ...um zu beweisen, daß der Mensch nichts als ein Tier ist oder ein Bündel mechanischer Federn, die sich gegenseitig in einer Weise aufziehen, daß man nicht sagen kann, an welchem Punkt des menschlichen Triebwerks die Natur begonnen hat? In der Tat, ich irre mich nicht; der menschliche Körper ist ein Uhrwerk. [12]
In der Hochblüte der latromechanik beschrieb Friedrich Hoffmann [13] (Entdecker der "Hoffmanns-Tropfen"), Aesculapius hallensis genannt, um 1720 den Menschen in seiner "Medicina mechanica" als "hydraulische Maschine", zusammengesetzt aus großen und kleinen Röhren, in denen Blut, Lymphe und eine hypothetische Nervenflüssigkeit, der sogenannte "Spiritus animalis", zirkulierte. Das Ganze wurde immerhin noch von Gott in Bewegung gesetzt.

Die Weisheit des Körpers, der der amerikanische Physiologe Walter Bradford Cannon [14] in den dreißiger Jahren ein ganzes Buch widmete, wird nunmehr folgerichtig nicht spirituell verstanden, sondern rein biologistisch. Sie äußert sich in einem möglichst perfekten physiologischen Funktionieren des menschlichen Körpers als Maschine und stellt auch eine Eigenschaft des Tierkörpers dar. [15]

Als biochemische Maschine verstehen moderne Biologen wie zum Beispiel Jacques Monod [16] den Menschen, und Genetiker wie Richard Dawkins [17] weisen ihm die Funktion eines puren DNA-Replikators zu, einer Überlebensmaschine für seine Gene. Die Reduktion des Menschen oder seiner Organe auf das Fleisch findet sich auch in der Sprache der künstlichen Intelligenz, wenn beispielsweise Marvin Minsky das menschliche Gehirn als Fleischmaschine [18] ("meat-machine") apostrophiert. Er benutzt nicht den Terminus "flesh", also lebendiges Fleisch, sondern "meat", das Fleisch von Kadavern. Daß in der Sprache der Organtransplantation von "Kadaver-Nieren" gesprochen wird, dürfte nicht nur auf einer schludrigen Übersetzung von "cadaver" beruhen, was im Englischen Leichnam bedeutet, im Deutschen aber verwesendes Fleisch. In einem amerikanischen Chirurgie-Lehrbuch, dessen Autoren den Begriff "Organ-Emte" für das Sammeln von "Leichenorganen" zur Transplantation verwenden, wird der Körper des kranken Menschen als versagende Maschine beschrieben:

Der Mensch fällt auseinander, Stück für Stück, ... und ... es ist die Aufgabe der Transplantation, die verbrauchten Teile zu ersetzen, wenn sie ausfallen. [19]
Und natürlich hält das Maschinenbild vom Menschen auch unaufhaltsam Einzug in Kunst und Dichtung. In Krieg und Frieden schreibt Tolstoi: "Unser Körper ist eine Maschine, um zu leben. Er ist dafür gebaut, es ist seine Natur." [20]

Nach und nach gerät der Körper zur Erfindung, er wird zum "sozialen Konstrukt" [21]. "Es ist der Geist, der sich den Körper baut", findet sich schon bei Schiller. [22] Der Körper hat keine intrinsische Bedeutung mehr. Die Gesellschaften erschaffen ihre eigenen Bedeutungen des Körpers. In diesen Prozessen der Erschaffung des Körpers, seinen Änderungen und Umdeutungen, wird er schließlich zum sozialen Gebilde, zum sozialen Körper ("social body"). Der individuelle Körper muß dem sozialen Körper weichen.

Im englischen Habeas Corpus Act (Gesetz von 1679; Habeas Corpus = "du habest den Körper") wurde noch deutlich, daß der Körper eine letzte Grenze repräsentiert, die nicht überschritten werden darf. Diese Grenzlinie ist längst überwunden. Die Folge sind unter anderem radikale Änderungen der Körpermodelle.

Die Erfindung des Körpers

Den Körper der heutigen Frau, so findet Barbara Duden [23], habe weder ihre Großmutter gehabt, noch Königin Luise oder eine antike Göttin. Die Sozialisierung des Körpers, seine generelle Verfügbarkeit für die Gesellschaft, erfährt unter anderem eine unmißverständliche Artikulation in der Transplantationsmedizin. "Was wertvoll für die Gesellschaft ist," so lautet der Appell eines Transplantationschirurgen [24], "gebe ich nach meinem Tod an sie zurück."

Folgt man dieser fragwürdigen Interpretation, so wird der Körper nicht mehr als Frucht eines Zeugungsaktes verstanden, sondern als (Aus-) Geburt der Gesellschaft, über die sie autonom verfügen kann. Das Verständnis des Körpers als soziales Konstrukt macht ihn zu einem diskursiven Gebilde (discursive formation). Sobald die Patienten selbst begännen, ihren Körper in dieser neuen Weise zu verstehen, so die Vision von Levin und Solomon [25], könnten sie sich auch von seinen kontraproduktiven Konzepten befreien. Werden sie aber, so muß die Gegenfrage lauten, gefeit sein gegen andere Konzepte, die ihnen aus den verschiedensten Motiven von außen aufoktroyiert werden?

Wenn der genormte, wie geklont wirkende Körper des Models zum Ideal stilisiert wird, wie dann auskommen mit dem eigenen Körper, sobald er als subjektives Körperschema vom Ideal abweicht? Bleibt dann nur die Flucht in Anorexie und Bulimie, die - auch bei jungen Männern - im Zunehmen begriffen sind?

Dieser Körper als soziales Konstrukt ist ein öffentlicher Körper, ein "öffentlicher Ort". Seine Sichtbarmachung, noch bevor er geboren ist, wird konsequent mittels Ultraschall oder Fötoskopie in situ betrieben. Hier geht es nicht mehr um die noch naive Neugierde, die vielleicht vor mehreren Jahrzehnten den damals aufregenden Bildern heranreifender Föten eines Lennart Nilsson zugrunde lag, sondern um entlarvende optische Vorgriffe, nicht selten mit letaler Konsequenz.

Die Enthüllung des sozialen Körpers ist geboten und wird freizügig gewährt. Dies gilt ebenso für amerikanische Präsidenten, deren Operationssitus in den Medien detailliert dargestellt wird, wie für den Rentner mit der AOK-Chipcard. Schritt für Schritt wurde so der einst geheiligte Leib, geschützt durch kulturelle Tabus, der nicht verfügbar und nicht teilbar war, der einen Wert hatte, aber keinen Preis, zur weltlichen Maschine, zu profanem Fleisch.

Demütigung

Dieser Objektkörper ist allen invasiven Methoden geöffnet. Kaum irgendwo wurde die Demütigung des Menschen durch solche Eingriffe, aber auch die verlorengegangene Ehrfurcht vor dem Leib treffender beschrieben als in dem Gedicht "Scham" von Zbiginiew Herbert: [26]

Als ich sehr krank war verließ mich die Scham 
ohne Einspruch enthüllte ich fremden Händen überließ fremden Augen 
die armseligen Geheimnisse meines Leibes

Sie drangen alsbald in mich ein und vergrößerten die Erniedrigung

Mein Professor der Gerichtsmedizin der alte Mancewicz
verneigte sich wenn er die Leiche des Selbstmörders
aus dem Formalinteich holte
tief vor ihm als wollte er um Vergebung bitten
und öffnete dann mit geübter Hand den herrlichen Brustkorb
die verstummte Kathedrale des Atems

zart fast zärtlich...

Das Selbstverständnis des Menschen als Maschine, freilich anfällig und immer wieder reparaturbedürftig, spielt bis in die Alltagssprache hinein. Der ärztliche Check-up gerät zur TÜV-Prüfung, die sich an einem DIN-Körper vollzieht. "Ich komme zum Batteriewechsel", sagt der alte Herr mit Herzschrittmacher bei der stationären Aufnahme. Auf die Frage, ob er wisse, wo er sich befinde, antwortet ein deliranter Kranker: "Natürlich, im Krankenhaus, Abteilung Maschinen und Elektronik."

Barbara Duden beschreibt, wie ihre Studentinnen in Amerika von sich und ihrer Umwelt als "Systemen" sprechen: "I must take care of my system, ... my system cannot take this stress." [27] Eine nicht seltene Redewendung Verliebter lautet: "Honey, you got into my system ..." Und die feministische Politologin Donna Haraway [28] schlägt ernsthaft vor, Frauen sollten sich als Cyborgs erleben, als synthetische Geschöpfe aus kybernetischen Systemen und Organismen. Ihr Uterus sei potentiell das systemische Umfeld für ein sich dort einnistendes Immunsystem.

Warme Leichen und kalte Embryonen

Der Körper der modernen Medizin ist reduziert auf die Summe seiner Organe und Funktionen. Er ist beliebig zergliederbar, in wachsendem Maße in seinen Teilen austauschbar. Die Quelle der "lebensfrischen" Organe ist der hirntote Mensch. Eine "leere Körperhülle" soll dieser Mensch sein, ein Körper, in dem kein "Du" mehr angesprochen werden kann. [29] Die hirntote Schwangere wird als "Retorte" bezeichnet, als "hochkomplizierter Brutkasten", als "uterines Versorgungssystem", obwohl ihr Körper noch imstande ist, zu gebären und gesunde Kinder auszutragen.

Daß ein menschliches Herz innerhalb von zwei Wochen durch Reimplantation in drei verschiedenen Körpern schlägt, ist schon keine Sensation mehr. [30] Bei der "Domino-Transplantation" [31] werden überzählige Organe des Empfängers, wie beispielsweise bei en-bloque-Einpflanzung eines Herz-Lungen-Transplantats das "alte" Herz einem anderen Empfängern implantiert; schauriger Reigen oder ökonomischer Umgang mit Körperteilen?

Warme Leichen und kalte Embryonen werden, wie es der französische Psychoanalytiker Michel Tort beschreibt, zu den begehrten Objekten der Gesellschaft. [32] Die Industrialisierung des Lebens, die historisch mit dem Verkauf von Muskelarbeit in der Sklaverei ihren Anfang genommen hat, setzt sich konsequent über die Vermietung des Körpers (Leihmutterschaft) bis zur Organtransplantation fort. [33]

Der Körper wird verstanden und gehandhabt als Ressource von Fremdkörpern für andere Körper und mit allen denkbaren Fremdkörpern bestückbar. Nicht mehr in Afrika oder Südamerika liegen die umkämpften Rohstoffe, sondern "im körperlichen wie genetischen 'Material' von Menschen". [34]

Das Genom des Menschen, also die Summe seiner Erbeigenschaften, wurde soeben in einer Bioethik-Deklaration der UNESCO zum gemeinsamen Erbe der Menschheit ernannt. [35] Eine großartige Geste, wie es scheint. Aber kann man die eigentliche Identität des Menschen zum biologischen und rechtlichen Objekt machen und zur allgemeinen Verfügung freigeben wie die Mondoberfläche oder den Meeresboden? Die Motivation für dieses globale Vermächtnis wird deutlicher, wenn in dem gleichen Papier von der Möglichkeit und Rechtmäßigkeit von Eingriffen zu "wissenschaftlichen, therapeutischen und diagnostischen Zwecken" die Rede ist.

Simulated patient

Dieser Körper ist käuflich und verkäuflich, wie der florierende Organhandel in der Dritten Welt zeigt. [36] Er wird zum Objekt sozialer Verfügbarkeit und fremder Ansprüche. Als Ressource betrachtet, muß er zwangsläufig einer gerechten Verteilung zugeführt werden. "Nach unserer Auffassung scheint es ganz natürlich, zu sagen, daß die Organe lebender Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle andere lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen", schreiben zwei Bioethiker: 

Wir könnten uns daher gezwungen sehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere, schwerstkranke Personen umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben. ... Schließlich benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen [37]
Dieser Körper weckt Begehrlichkeiten, die die Medizin zunehmend weniger befriedigen kann. Im Fadenkreuz eines expandierenden Utilitarismus gilt er als herrenloses Gut. Sein einziges legitimes Geheimnis besteht in seiner Funktionalität. Die Bionik, [38] deren ausschließliches Interesse als unheiliger Allianz aus Biologie und Technik darin besteht, der Natur Anregungen für eigenständiges, technisches Gestalten abzugewinnen ("Technische Biologie") wird als unverzichtbare Grundlagenforschung und zivilisatorisch-kulturelle Aufgabe bewertet. Für den Reichtum an den überwältigenden ästhetischen Aspekten der Körperlichkeit ist sie blind.

Die Verzichtbarkeit des realen Körpers in bestimmten Bereichen, von der Edukation bis zum Cybersex zeichnet sich ab. [39] Der simulierte Körper in der virtuellen Realität ist im Vormarsch. Der SP, der "simulated patient" gehört in den USA bereits zum Alltag der Medizinerausbildung. Der digitale Leichnam und das virtuelle Gelenk dienen anatomischen Studien sowie der Übung und Planung von Operationen. Im "OP 2015" beschmutzt kein Chirurg mehr dank der von ihm entwickelten Software seine Hände, sondern betreibt unbefleckt "Cyberstick-Chirurgie". Aus einer "algorithmischen" Ursuppe, so die Visionen der virtual reality-Experten, [40] also mittels Rechenprozessen, wird sich eines Tages im Cyberspace virtuelles Leben erschaffen lassen.

Körper oder Biokitt?

Die Kolonisierung des Körpers, wie Paul Virilio sie nennt, [41] schreitet unaufhaltsam fort, beschleunigt durch die ständig weiter ins Extrem getriebene Miniaturisierung technischer Mittel. Die natürliche Evolution macht schrittweise der technischen Selektion Platz, weicht einer Art Technodarwinismus. Die implantierbaren Bioprothesen der guten alten Zeit (Schrittmacher, Defibrillatoren, Pumpen, Stents, Ventile) wirken wie Fossilien, gemessen an den Produkten einer Nanotechnologie, die das neue Design des Menschen bestimmt.

Seine Hoch- und Überrüstung reduziert den Körper schließlich zum Biokitt, zum Platzhalter für neue Organe und technische Implantate. Im Jahr 2000 werden nach ernsthaften Einschätzungen Transplantationen und die Inkorporierung von (Mikro-) Prothesen die Hälfte aller chirurgischen Eingriffe ausmachen. Die Vision des Australiers Stelarc [42] vom entleerten menschlichen Körper, dessen "unnütze" Organe in Zukunft durch die neuen Technologien ersetzt werden, nimmt Gestalt an.

Das Verschwinden des Leibes und der fragwürdige Triumph eines Körpers, der mit einem sozioökonomischem Aufwand jenseits aller Vernunft zum biologischen Perpetuum mobile hochgerüstet werden soll, sind verzahnte Komponenten des gleichen Systems. Systeme gehorchen in der Regel zirkulären Mechanismen. Arzt und Patient erfahren diese unentrinnbare Gesetzmäßigkeit tagtäglich aufs neue. [43] Die Fremdheit, mit der sich beide begegnen, nicht selten die Feindseligkeit, das Gefühl der Verlorenheit innerhalb einer unüberschaubaren Gesundheitsmaschinerie von babylonischen Ausmaßen, die Technologien auch als Zuwendungsersatz mißbraucht, wurzeln letztlich in der Aufgabe der Idee eines Leibes, der mehr ist als funktionierendes Fleisch. [44]

Mit dem Verschwinden des Leibes verschwindet nach und nach auch die Fähigkeit zu "leibhaftiger" Empfindung und Wahrnehmung. "In der Welt, in der ich lebe", schreibt die junge Soziologin Annegret Fründ, [45] "trauere ich der verlorengegangenen Leibhaftigkeit von Gefühlen nach." Die Warnung Nietzsches an die Verächter des Leibes, den er "eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne" nannte und ihn höher schätzte als die "beste Weisheit", [46] ist längst in den Wind geschlagen.

Folgt dem Verschwinden des Leibes vielleicht auch die Auflösung des Körpers, die Liquidation der körperlichen Individualität zugunsten von Fremdkörper-Konglomeraten, in denen weder Person noch Seele Raum haben? Wir bleiben in unserem Pessimismus nicht ungetröstet. Nach der Eigengesetzlichkeit des Machbaren wird die Medizin ihr Versprechen "Wir machen alles neu", nicht uneingelöst lassen. [47] Ob sie dann die Sprache des Leibes noch verstehen wird, sei dahingestellt. "Sie interessieren sich hauptsächlich für mein Herz und meine Lunge", sagt die junge Organempfängerin. "Aber das sind ja gar nicht meine Organe. Das bin ich nicht. Mich gibt es nicht mehr." [48]
 
 

Literatur:

[1] Benn, G.: Der Arzt. Ges. Werke. München 1975. S.11.

[2] Schoeppe, W.: Der Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. F.A.Z., 22.07.1994. S. 8.

[3] Stoa: Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. (An Lucilius. Briefe über Ethik. Hrsg. u. übers. v. M. Rosenbach. Darmstadt 1989.); Aristoteles: Opera. Hrsg. v. I. Bekker, 5. Bde. Nachdruck. 1961-1970; Demokrit: Kranz, W./Diehls H. (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 1985.

[4] Bynum, C.W.: The Ressurection of the Body in Western Christianity. 200-1336. Columbia University Press, New York 1995.

[5] Grimm, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch. Leipzig.1854-1961

[6] Dalai Lama, S. H. der XIV.: Einführung in den Buddhismus - Die Harvard-Vorlesungen. Herder Verlag; Freiburg im Breisgau 1993.

[7] Vesalius, A.: De humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543.

[8] Foucault, M.: Die Geburt der Klinik. Fischer Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1988.

[9] Grünbein, D.: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1995 am 21. Oktober 1995 in Darmstadt. taz, 23. 10.1995, S. 15

[10] Descartes, R.: Discours de la Méthode. Leiden 1637

[11] Freud, S.: Abriß der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1972.

[12] La Mettrie, J. O. de: L´Homme machine. 1748.

[13] Hoffmann, F.: Opera omnia. 1753

[14] Cannon, W. B.: The Wisdom of the Body. Norton, New York 1932.

[15] Preuss, F. R.: Die Weisheit des Tierkörpers. In: Anat. Histol. Embryol. 20/1991, S. 261-264

[16] Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. R. Piper & Co. München. 5. Aufl. 1973

[17] Dawkins, R.: Das egoistische Gen. Berlin 1978. S. 227

[18] Weizenbaum, J.: Wer erfindet Computermythen?. Herder. Freiburg/Basel/Wien 1993.

[19] Schwartz, S.I./Shires, G.T/Spencer, F.C./Stoner, E.H.: Principles of Surgery. 3rd Ed. New York, McGraw Hill 1979.

[20] Tolstoi, L.: Krieg und Frieden. Buch X, Kapitel 1

[21] Synnott, A.: Tomb, temple, machine and self: the social construction of the body. Br. J. Sociol. 1/1992, Seite 79 bis 110

[22] Schiller, F. von: Wallensteins Tod II, 13

[23] Duden, B.: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. München 1994.

[24] Gubernatis, G.: Hannoversche Zeitung, 27.10.1994

[25] Levin, D. M./Solomon, G.F.: The discursive formation of the body in the history of medicine. J. Med. Philos. (Netherlands), 5/1990, Seite 515 bis 537

[26] Herbert, Z.: Rovigo. Gedichte. Frankfurt am Main. 1995. S. 37

[27] Duden, B.: ebd.

[28] Haraway, D.: The Bio-Politics of Postmodern Bodies: Constitutions of Self in Immune System Discourse. In: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature. London. 1991

[29] Schöne-Seifert, B.: Stellungnahme zum Transplantationsgesetz am 28. Juni 1995 vor dem Gesundheitsausschuß des Bundetages in Bonn.

[30] Pasic, M. u.a.: Brief Report: Reuse of a transplanted heart. In: N. Engl. J. Med 5/1993, S. 319 bis 320

[31] Cochrane, A.D./Smith J.A./Esmore, D.S.: The "domini-donor" operation in heart and lung transplantation . In: Med. J. Aust. 9/1991, S. 589 bis 593

[32] Tort, M.: Le désir froid - Procreation artificielle et crise des repères symboliques.

[33] Mies, M.: Wider die Industrialisierung des Lebens. Eine feministische Kritik der Gen- und Reproduktionstechnik. Pfaffenweiler 1992.

[34] Paul, J.: Im Netz der Bioethik. Diss. Duisburg. 1994

[35] International Bioethics Committee of UNESCO. Proceedings 1995. Volume I/II.

[36] Pater, S./Raman, A.: Organhandel. Ersatzteile aus der Dritten Welt. Göttingen 1991.

[37] Kappel, K./Sandoe, P.: Bioethics 8, 1/1994, S. 84 bis 92. 

[38] Marguerre, H.: Bionik. Von der Natur lernen. Siemens AG. Publicis MCD 1991.

[39] Geisler, L. S.: Virtuelle Realität. UNIVERSITAS 3/1995. S. 264 bis 272

[40] Schröder, P.: Wir bauen eine Maschine, die stolz auf uns sein wird. In Waffender, M. (Hrsg.): Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten. Reinbek 1991.

[41] Virilio, P.: Die Eroberung des Körpers. München/Wien 1994. S.108

[42] Sterlac, P.: L'Autre Journal, Sept. 1992. S. 24

[43] Geisler, L. S.: Nach uns die Maschine? Das Menschenbild der modernen Medizin. F.A.Z., 04.08.1993, Nr. 178, S. N 4.

[44] Geisler, L. S.: Arzt und Patient im Zeitalter der High-Tech-Medizin. In: Nieren- und Hochdruckkrankheiten, 10 /1990, S. 446 bis 472

[45] Fründ, A.: Der "Erlanger Fall" als Konsequenz einer epochalbedingten Sichtweise auf den "weiblichen Körper". Diplomarbeit, FB Erziehungswissenschaften. Universität Frankfurt am Main. 1995

[46] Nietzsche, F.: Von den Verächtern des Leibes. Zarathustra I.

[47] Geisler, L. S.: Wieviel Fortschritt braucht der Mensch? Zwischen Nanotechnologie und Megaprothesen. Frankfurter Rundschau. 16.12.1995.

[48] Wellendorf, E.: Mit dem Herzen eines anderen leben. München 1993.
 


Geisler, Linus S.: Das Verschwinden des Leibes. UNIVERSITAS, Nr. 598, Stuttgart 1996, 51. Jahrgang, S. 386 bis 397.
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