Start  <  Vorträge  < Linus S. Geisler: ARZT-PATIENT-KOMMUNIKATION AM LEBENSENDE
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Vortrag anlässlich des 4. Friedrichshainer Gesprächs, veranstaltet vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) am 2. April 2003 in Berlin.
Jeder Mensch stirbt anders - Arzt-Patient-Kommunikation am Lebensende

Linus S. Geisler
In seinen Tagebüchern stellt Max Frisch eine Frage, die sich auch jeder Arzt stellen sollte: "Haben Sie Freunde unter den Toten?" [1]

Doch wie erwirbt man Freunde unter den Toten? Soll der Arzt überhaupt ein Freund seines Patienten sein? Und wenn nicht, was dann: Behüter? Kompetenter technischer Experte? Berater? Vielleicht sogar Lehrer?

Wenn jeder Mensch anders stirbt, muss der Arzt nicht jedes Mal eine andere Rolle wahrnehmen? Gibt es nicht wenigstens einige Regeln im Umgang mit Sterbenskranken, die immer gelten? Oder entsteht jedes Mal bei der Begegnung von Arzt und Patient eine gänzlich neue Form zwischenmenschlicher Beziehung, in der nicht nur ein hohes Maß an Intimität und Ausgesetztsein existieren, sondern in der es im Extremfall buchstäblich um Leben und Tode geht? So jedenfalls definiert der Philosoph Peter Kampits die Arzt-Patient-Beziehung [2].

Und da es um das Sterben geht, sollte auch das Ziel klar sein, das am Ende dieses Prozesses steht, also die schwierige Frage, auf die es möglicherweise keine letzte Antwort gibt: welcher Tod?

Welcher Tod?

Die Antwort lautet häufig: ein guter Tod. 

Damit tauchen neue Fragen auf. Was ist ein guter Tod? Und was ein guter Arzt? Ein Arzt, der nicht nur gut für das Sterben ist, sondern auch für das Leben. Denn Sterbende sind Lebende. Als solche wollen sie wahrgenommen werden. Sterben ist letztlich auch nur eine besondere Form des Zusammenlebens [3].

Und weiter: Setzt ein guter Tod ein gutes Leben voraus? Kann, was ein gutes, ein gelungenes Leben im ganzen ausmacht, stellvertretend von anderen definiert werden, zum Beispiel vom Arzt?

Vielleicht findet sich bei Sören Kierkegaard eine Antwort. Er schrieb: "Der Spaß, ein Menschenleben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß, der Ernst ist, selig zu sterben."

Möglichweise führt eine andere Annährung an die Frage "welcher Tod?" weiter, nämlich: welcher Tod auf keinen Fall? Rainer Maria Rilke hat diese Frage für sich selbst sehr präzise beantwortet. Er sagte zu einer Freundin, die auch bei seinem Sterben zugegen war: "... helfen Sie mir zu meinem Tod, ich will nicht den Tod der Ärzte - ich will meine Freiheit haben" [4]. Rilke, der an einer besonders schmerzhaften Form einer Blutkrankheit litt, lehnte jede Einnahme schmerzstillender Mittel ab. Er hielt diesen Entschluss bis zuletzt durch. Er tat dies offenkundig mit Bedacht, denn ihm war ganz und gar nicht gleichgültig, wie er aus diesem seinem Leben schied. Er wollte "seinen" Tod haben, "seinen" Tod sterben. 

Wer seinen eigenen Tod, nicht den Tod der Ärzte sterben möchte, will aber deswegen nicht auf sich gestellt, alleine als "homo clausus", wie es der Philosoph Norbert Elias [5] nennt, als Einsamer sterben.

Die Furcht Sterbender vor dem Tod der Ärzte ist kontinuierlich mit der Technisierung der Medizin gewachsen, ihrer zunehmenden Stummheit, ihrer dröhnenden Unruhe. Die Mechanisierung des Sterbens in den Krankenhäusern der Moderne begann bereits zu Anfang des vorigen Jahrhunderts. Rilke hat sie übrigens in seinem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge treffend beschrieben. Er spricht dort vom fabrikmäßigen Sterben und dass der einzelne Tod nicht mehr so gut ausgeführt sei [6]. Heute tut sich allerdings die Frage auf, ob nicht mancher Tod eher zu gut ausgeführt wird.

Was ein guter Tod ist, darum ist viel gerungen und darüber ist viel geschrieben worden. Das British Medical Journal hat im Januar 2000 eine ganze Ausgabe dem Thema "A good death" gewidmet. In dem Editorial [7 Externer Link] wendet sich der Herausgeber Richard Smith an die Leser des BMJ und empfiehlt ihnen, falls sie es bisher nicht getan hätten, mit den Vorbereitungen auf das Sterben zu beginnen. Immerhin würde jeder BMJ-Leser noch in diesem Jahrhundert sterben. 

Das Editorial nennt zwölf Prinzipien eines "guten Todes" [8]:
 

Prinzipien eines guten Todes
  • Zu wissen, wann der Tod kommt und zu verstehen, was zu erwarten ist
  • Die Kontrolle über das Geschehen zu behalten
  • Würde und Privatsphäre zugestanden zu bekommen
  • Eine gute Behandlung der Schmerzen und anderer Symptome
  • Die Wahl zu haben, wo man sterben möchte (zu Hause oder anderswo)
  • Alle nötigen Informationen zu bekommen
  • Jede spirituelle und emotionale Unterstützung zu bekommen
  • Hospizbetreuung überall, nicht nur im Krankenhaus, 
  • Bestimmen zu können, wer beim Ende dabei sein soll
  • Vorausbestimmen zu können, welche Wünsche respektiert werden sollen
  • Zeit zu haben für den Abschied
  • Gehen zu können, wenn die Zeit gekommen ist und keine sinnlose Lebensverlängerung zu erleiden 

Dieser Artikel löste eine wahre Flut von ärztlichen Leserzuschriften aus. Sie reichten von völliger Zustimmung bis zu kritischer Distanz und enthielten zusätzliche Anregungen. Im Kern sind sie Ausdruck der Vielfalt der Haltungen und Wertvorstellungen, die Ärzte unterschiedlichen Alters auf Grund ihrer Ausbildung, ihrer Erlebnisse und ihrer Erfahrungen entwickelt hatten. 

Diese Prinzipien eines guten Todes lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen. Sie reflektieren den Wunsch nach Information, nach Autonomie und nach umfassender Behandlung und Begleitung. In der Summe definieren sie also die Kriterien des eigenen Todes und schließen eine Schnittmenge mit jenem Sterben aus, der als Tod der Ärzte gefürchtet wird.

In der klinischen Realität sind diese Prinzipien untrennbar miteinander verzahnt. Das eine Prinzip ist nicht ohne das andere zu verwirklichen. Ihre gemeinsame Matrix ist die Beziehung der in das Sterbegeschehen eingebundenen Personen, im engeren Sinn die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Die Natur dieser Beziehung wird durch Kommunikationsabläufe bestimmt, wobei Kommunikation im weitesten Sinne als jedes Verhalten in einer sozialen Situation zu verstehen ist.

Es geht also um den eigenen Tod. Das bedeutet, dass Menschen Konzepte ihres Todes entwickeln können. Es wird ein Antwort darauf gefunden werden müssen, welche Rolle in diesem Prozess dem Arzt zufallen könnte, d.h. welche Form der Arzt-Patient-Beziehung dabei die größte Aussicht hat, jeweils hilfreich zu wirken. 

Dieser Versuch wird das Ende unserer Überlegungen bilden.

Das Sterben

Jeder Mensch stirbt anders. In diesem Sterben wirken viele Faktoren zusammen: die eigene Biographie, das Verständnis von Krankheit und Gesundheit, die Erwartungen und Ansprüche des Einzelnen und der Gesellschaft an die Medizin, das Lebens-, besser gesagt, Sterbensalter, die Art der zum Tode führenden Krankheit, das Setting, in dem sich das Sterben vollzieht. 

Zu den "großen Krankheiten", die das Sterben in einem besonderen, vielleicht sogar charakteristischen Maß prägen, zählt der "Krebs" als Sammelbegriff einer Vielzahl bösartiger Krankheiten. Krebs, diese Krankheit "in Anführungszeichen", wie Adolf Muschg schreibt, ist "ein asozialer Prozess der biologischen Norm" [9]. Ihn umgibt eine Aura des Tragischen, der Ohnmacht und der Entstellung, des Unbegreiflichen. In ihrem Buch "Der Knoten" [10] beschrieb die krebskranke Lieselotte Bappert Krebs "als Notlage, die sich schwerlich mit irgend etwas vergleichen lässt, das einem zivilisierten Menschen sonst zustoßen kann ..."

Es tauchen Fragen auf, auf die es scheinbar keine Antwort gibt: "Wie kann man leben, wenn man weiß, dass man bald sterben muss?"

Die Gewissheit des Sterbens hat die Psychoonkologin Ursula Gruber in einem Bild beschrieben: Für den Kranken, der weiß, dass er sterben muss, wird diese Gewissheit bildlich gesprochen zum Hinterhof, der von der Hochleistungsmedizin ummauert wird. "Ihn betreten zu müssen, heißt, den Kampf vor den Mauern schon verloren zu haben und im Dunkel zu stehen - allein in Unbehagen und Angst".

Kampf, Angst und Dunkel sind die häufigsten Vokabeln sterbenskranker Menschen.

Der letzte Satz in dem Buch "Mars" von Fritz Zorn, einem jungen, reichen von Lymphknotenkrebs befallenen Mann lautet: "Ich erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges." 

Ein junger Patient meiner früheren Klinik, bei dem wir einen sich ungewöhnlich rasch ausbreitenden Krebs der Bauchspeicheldrüse feststellen mussten, erklärte seinem Krebs, "dieser Sau", wie er ihn voller Aggression nannte, wörtlich den Krieg und war bis zu seinem raschen Tod derartig in diesen Kampf verstrickt, dass uns kein Zugang zu ihm gelang.

"An Krebs zu denken," schrieb die mit vierundvierzig Jahren an Brustkrebs gestorbene DDR-Schriftstellerin Maxie Wander [11] "ist, als wäre man mit einem Mörder in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Man weiß nie, wo wie und ob er angreift." 

Diese Angst ist ebenso gegen jenes "gnadenlose Zuviel" einer technisch überrüsteten Medizin gerichtet, wie gegen deren fast regelhafte Kehrseite, das "unbarmherzige Zuwenig". Zu wenig an Zuwendung, Empathie und Präsenz der Betreuer. Viel Technik und wenig Arzt, jetzt, wo doch genau das Gegenteil so bitter nötig ist [12].

Das Unbekannte dominiert, nicht selten in ambivalenter Weise, einerseits als Furcht vor dem Unbekannten, andererseits als Hoffnung auf das rettende Unbekannte oder beides zugleich. Dieses synchrone, für den Außenstehenden oft unerklärliche Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Emotionen, Gefühle und Verhaltensweisen, dem meist Prozesse der Verdrängung zugrunde liegen, macht die Vordringlichkeit einer individuellen, flexiblen und nicht schematisierten Einfühlung der Betreuer besonders deutlich.

So verdienstvoll auch die Abgrenzung bestimmter charakteristischer Phasen im Sterben durch die Forschungen von Elisabeth Kübler-Ross [13] gewesen ist, so deutlich muss auch klargestellt werden, dass die Krankheitsverarbeitung keiner generalisierbaren Abfolge von Phasen folgt. Dies ist die grundsätzliche Schwäche des Konzepts von Kübler-Ross [14]. Sterbende müssen nicht alle Phasen durchlaufen, geschweige denn in einer festen Reihenfolge.

Wechselnde Prozesse der Verdrängung können Ursache für changierende (wechselnde) Wahrnehmungen der Wirklichkeit sein. Das Recht auf Wissen ist ebenso verbürgt, wie das Recht auf Nicht-Wissen. Nicht wenige Kranke aber schwanken in ihren Ansprüchen zwischen diesen Rechten, manchmal von Tag zu Tag. An einem Tag wird das Recht auf Wissen als Ausdruck der Autonomie als unverzichtbar erlebt, an einem anderen Tag, sichert die "Gnade des Nicht-Wissen-Wollens" das Überleben. Der erfahrene Begleiter wird versuchen, dieses Problem zu lösen, in dem er den Patienten jeden Tag fragt: "Wie sehen Sie Ihre Lage heute?" [15 Externer Link

Die Vielfalt der Wertvorstellungen und Lebensentwürfe, das Dominieren von Patchwork-Biographien, das Phänomen, dass jeder seinen eigenen "Independence Day" zelebriert, wie Peter Gross es in seiner Abhandlung Ich-Jagd [16] formuliert hat, erweitert die Spielräume des Krankheitserlebens. 

Dies alles verlangt vom Arzt eine höhere Flexibilität und Sensibilität im Umgang mit Kranken in der letzten Lebensphase als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Es fehlt ein "Moral Esperanto", auf das wir uns verlassen könnten (Jeffrey Stout [17]), eine Art Welthilfsmoral zur Verständigung mit verschiedenen Positionen und Weltanschauungen. Auch ein Rückgriff auf die evidenz-basierte Medizin (EBM) lässt beim Begleiten Sterbender im Stich.

Mit anderen Worten: Sterben ist ein hochindividualisiertes Geschehen, in dem die Wirklichkeit des Sterbenden einem raschen, manchmal dramatischen Wechsel unterworfen sein kann. Dies nicht zu erkennen und zu akzeptieren, kann tragische Folgen haben.

Sehr genau erinnere ich mich an einen Patienten, wo mir dieser verhängnisvolle Fehler unterlaufen ist. Es handelte sich um einen höheren Offizier mit einem weit fortgeschrittenen Lungenkrebs, der bereits in Knochen, Leber und andere Organe metastasiert war. Alle gängigen Behandlungsmöglichkeiten wie Chemotherapie und Röntgenbestrahlung waren ausgeschöpft. Damals gab es eine Strömung in der Medizin, Tumorpatienten möglichst umfassend aufzuklären. Durch meine Mitarbeiter war der Patient über die Natur seiner Krankheit, alle Details und die wahrscheinliche Prognose informiert. Er kannte sozusagen jede einzelne Metastase nach ihrem Sitz und ihrer Größe. Bei den Visiten zeigte er eine beinahe militärische Haltung, wirkte unerschütterlich, klagte nicht, allenfalls machte er gelegentlich eine Bemerkung mit leicht zynischem Unterton. Alles in allem war er ein Bild stoischer Gelassenheit. 

Ich besuchte ihn außerhalb der regelmäßigen Visite an einem warmen, ruhigen Sommerabend. Die Situation wirkte friedlich, der Patient erschien entspannt und weniger um Haltung bemüht als sonst. Damals beschäftigte mich die Frage nach der seelischen Verarbeitung der fast schon rigorosen Aufklärung von Krebskranken ganz besonders. Sehr vorsichtig fragte ich den Patienten, ob ich ihm eine möglicherweise belastende Frage stellen könnte und versicherte ihm gleichzeitig, dass ihm die Beantwortung völlig freigestellt sei. Er stimmte sofort zu. Ich fragte ihn, wie er zu der weitreichenden Information über seine Krankheit stehe und ob unser Vorgehen angemessen gewesen sei. Ohne Zögern und in einem für mich absolut überzeugenden Ton sagte er: "Wie ich informiert worden bin, war völlig in Ordnung! Es war das einzig Richtige! Irgendwelche Halbwahrheiten hätte ich nicht ertragen können." Ich war beruhigt und wir trennten uns in einer fast freundschaftlichen Atmosphäre. 

In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass ich einem buchstäblich tödlichen Irrtum erlegen war. Gegen vier Uhr morgens rief mich der Diensthabende an und teilte mir mit, der Patient habe durch einen Sprung aus einem Fenster im vierten Stock der Klinik seinem Leben ein Ende gesetzt. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Patient war bisher von Assistenzärzten aufgeklärt worden. Der Krebsdiagnose mit allen ihren Konsequenzen fehlte sozusagen die Bestätigung "in letzter Instanz" d.h. ein Irrtum und damit ein Hoffnungsrest waren immer noch möglich. Meine Frage an ihn war diese "letztinstanzliche Bestätigung" gewesen. 

Zur Problematik des Autonomiebegriffs

Bei der Begleitung Sterbender geht es um Würde, Autonomie und die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Damit sind aber auch die Grundkonflikte abgesteckt, die sich häufig erst in der konkreten klinischen Alltagssituation demaskieren. Sie wurzeln unter anderem im Wandel der Medizin, der sich seit den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vollzogen hat.

Im heutigen Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung hat sich das Prinzip "Das Wohl des Kranken als oberstes Gesetz" zum Prinzip "Der Wille des Patienten ist oberstes Gesetz" verschoben. Die Autonomie des Patienten gewinnt Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge. Der frühere Paternalismus, der dem Arzt die väterlich-bestimmende Rolle zumisst, gilt als überholt. Als Ideal gilt der "mündige" Patient, der aufgeklärt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien seiner Behandlung vorgibt [18 Interner Link]. 

Aber die Frage ist: will der umfassend aufgeklärte Krebspatient bei der Entscheidung zwischen Chemotherapie oder Bestrahlung tatsächlich auf sich selbst gestellt sein? Erlebt er sich auch dann noch als "mündig" oder nicht doch zu allererst als krank? Wie rasch kann Selbstbestimmtheit in Sich-Selbst-Überlassensein umschlagen? Schotsmans hat von der Fiktion einer Art "olympischen Selbstkontrolle" gesprochen, zu der ein hinfälliger Kranker kaum (mehr) fähig sein dürfte [19]. 

Wie viel "Mündigkeit" ist aber zumutbar und wie hoch darf ihr Preis sein? Ein authentisches Beispiel: Eine Patientin mit malignem Melanom schildert, wie der Oberarzt bei der Ultraschalluntersuchung ihrer Leber einen zunächst unklaren Herd aufdeckt. Ob das harmlos ist, will sie wissen. "An sich ja" kommt es prompt zurück. Dann folgt - ohne die Patientin anzusehen - der Halbsatz, der ihr Leben radikal verändern könnte: "... aber es kann natürlich genauso gut eine Lebermetastase sein. Auf ihren entsetzten Blick hin entgegnet der Arzt erstaunt: "Aber Sie sind doch eine mündige Patientin ..." [20].

Wenn die Welt- und Menschenbilder, vielleicht auch die Gottesbilder schlagartig zusammenstürzen, ist das Aufrechterhalten einer stabilen Autonomie Illusion. 

Autonomie ist auch nichts absolut Statisches, sondern erweist sich, gerade in der Krankheit, als fluktuierend. Autonomie kann nicht grenzenlos sein, wenn sie sich am Ende nicht gegen den Kranken selbst richten soll. 

Der Wille des Menschen, der eigene eingeschlossen, ist immer nur ein mutmaßlicher. Der Wille von gestern muss nicht der von heute, der von heute nicht der von morgen sein. Selbst der Wille in der Frühe und am Abend, können sehr unterschiedlich sein. Fluktuierende Wirklichkeiten sind im Verlauf der Krebskrankheit ein häufiges Phänomen. Und seit jeher gilt, dass der Mensch nicht aus einem Stück ist, sondern eine Summe von Widersprüchen (Dragan Velikic [21]).

Gegen die Kälte des Todes ist die Kühle der reinen Autonomie eine schwache, manchmal untaugliche Hilfe. Dann kann milder Paternalismus ein letztes wärmendes Feuer sein.

Modelle der Arzt-Patient-Beziehung

Die Bioethiker Linda und Ezekiel Emanuel [22 Externer Link], haben sich, ausgehend von der Vorstellung, dass die Überwindung des Paternalismus zu einer sehr nüchternen und nur begrenzt tauglichen Form von Patientenautonomie führen könnte, mit nicht-paternalistischen Modellen der Arzt-Patient-Beziehung beschäftigt. Dem klassischen paternalistischen Modell stellen sie drei Modelle gegenüber, die dem Patienten Autonomie einräumen, aber auch dem Arzt eine aktive Rolle in der Beratung und Klärung, beispielsweise von Wertvorstellungen, ermöglichen:
 

Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung [23]
(nach Ezekiel J. Emanuel / Linda L. Emanuel)
  • "paternalistisches Modell": auch Eltern- oder Priestermodell, der Arzt weiß, was das Beste für den Patienten ist 
  • "informatives Modell": auch technisches oder Konsumentenmodell: Ärzte als technische Experten, die den Patienten fachliche Informationen als Entscheidungsgrundlage bieten 
  • "interpretatives Modell": der Arzt als Berater und Begleiter des Patienten, der Informationen liefert, bei der Klärung von Wertvorstellungen hilft und Maßnahmen vorschlägt (der Arzt sucht das Gespräch über die Werthaltungen der Patienten) 
  • "deliberatives Modell": der Arzt als Lehrer und Freund, der sich mit dem Patienten über die besten Handlungsmöglichkeiten unterhält (der Arzt sucht das Gespräch über mögliche Inhalte von Werthaltungen) 

Dabei wird deutlich, dass sich der kommunikative Anspruch dieser drei Modelle vom informativen, über das interpretative zum deliberativen Model deutlich ändert. Während beim informativen Modell die fachliche Information des Patienten im Zentrum steht, beruht das deliberative Modell in einem Gespräch zwischen Arzt und Patient, in dem es nicht nur um die besten Handlungsmöglichkeiten sondern auch Werthaltungen geht. Der Arzt übernimmt dabei die Rolle des Lehrers und Freundes.

Welches der nicht-paternalistischen Modelle bei der Betreuung von Patienten am Ende ihres Lebens das angemessene ist, kann nur individuell herausgefunden werden und sich im Krankheitsverlauf ändern. 

Das interpretative Modell dürfte in vielen Situationen Vorteile bieten. Der Arzt liefert nicht nur Informationen, sondern hilft dem Patienten bei der Klärung und Deutung seiner Wünsche und Einstellungen. Dieser Prozess kann aber nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn der Arzt sich auf seinen Patienten einlässt, wenn er bereit ist, die Selbstauslegung der Krankheit durch den Patienten auf- und ernst zu nehmen. 

Gestützte Autonomie

Ein vereinheitlichendes Modell möchte ich mein Konzept der "gestützten Autonomie" nennen. Auch hier steht die Selbstbestimmung des Patienten ganz im Mittelpunkt. 

Das Modell trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass manchem Schwerstkranken nicht mehr genügend Energie zur Verfügung steht, seine Autonomie überhaupt wahrzunehmen und seine Entscheidungen an ihr auszurichten. 

In einem ersten Schritt nimmt der Arzt die Rolle des "Ermöglichers", wie Viktor von Weizsäcker [24] es genannt hat, wahr. Diese Rolle kann vieles umfassen. Beispielsweise zunächst eine sorgfältige und individuell angepasste Behandlung somatischer Beschwerden, um überhaupt die physische Basis zu schaffen, in der Entscheidungsfähigkeit möglich ist. 

Die Ermöglicher-Rolle beinhaltet auch, ein Bewusstsein des Anspruchs auf Selbstbestimmung wieder freizulegen, das vielleicht unter massiven diagnostischen und therapeutischen Eingriffen verschüttet gewesen ist. In einem weiteren Schritt folgt das ärztliche Angebot der Präsenz als Begleiter und schließlich Berater, von dem der Kranke nach seinen Vorstellungen und Wünschen Gebrauch machen kann. Erst dann ist möglicherweise das Feld für eine Arzt-Patient-Beziehung bereitet, in dem die Selbstauslegung der Krankheit durch den Patienten möglich wird, eine narrative Aufarbeitung der Lebens- und Leidensgeschichte, die im Idealfall zu einer Neuorientierung führt. 

Mit anderen Worten, "gestützte Autonomie" bedeutet: die Wahrnehmung der Autonomie des Patienten kann in gewissen Situationen erst durch die stützende Funktion des Arztes möglich werden.

Der fragmentierte Patient

Die konventionelle Gesprächsführung in der Medizin ist nicht auf eine ganzheitliche Beschwerdenerfassung ausgerichtet. Vielmehr zerlegt sie die Patientenäußerungen in Einzelbeschwerden und blendet damit das Selbstbild des Kranken, die von ihm erlebten Bedeutungen, Zusammenhänge und Befindlichkeiten aus. Die Wahrnehmung des Kranken erfolgt dann nur noch in unzusammenhängenden Teilaspekten. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist treffend mit dem Begriff des fragmentierten Patienten beschrieben worden (Johanna Lalouschek [25 Externer Link], Walter Böker [26 Externer Link]).

Die Konsequenz ist, dass diese Art von kommunikativer Vivisektion kein Bild eines Kranken aus Fleisch und Blut entstehen lässt. Vielmehr setzt sie nicht selten erneute Wellen diagnostischer und auch fragwürdiger therapeutischer Aktionen in Gang. Die konsekutiv wachsenden Datenanhäufungen erweisen sich am Ende oft nur als Datenfriedhöfe. So kann sich die absurde Situation ergeben, dass in den letzten Lebenstagen eines Achtzigjährigen mehr Daten akkumuliert werden, als in den gesamten vorangegangenen achtzig Jahren. Die Lebens- und Leidengeschichte des Kranken enthalten sie nicht.

Doch genau um diese Geschichten geht es. Der Philosoph Odo Marquard schreibt: "Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr - kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie" [27].

Ein interessanter narrativer Ansatz stammt von Arthur W. Frank [28]. Er verwendet die Metapher des "verwundeten Geschichtenerzählers". Sie deckt auf, dass Patienten mehr sind als nur Opfer einer Krankheit. Indem sie ihre Krankheiten als Geschichten erzählen, eröffnet sich ihnen die Chance einer neuen Orientierung nachdem vielleicht ihre bisherige Welt zusammengebrochen ist. Auf diese Weise wird der Kranke selbst zum Heiler. Die Geschichten der Patienten sind mehr als Berichte über ihr persönliches Leiden, sie beinhalten auch die Chance, moralische Einsichten zu entwickeln. Früher oder später, schreibt Frank, der selbst an Krebs erkrankt war, wird jeder zum "wounded storyteller", zum verwundeten Geschichtenerzähler. 

Der erste meiner Patienten, den ich als "verwundeten Geschichtenerzähler" erlebt habe, war selbst Arzt. Es war auch der erste Patient, dessen Sterben ich überhaupt über eine Weile mitverfolgen konnte. Freilich wusste ich damals noch nichts vom "wounded storyteller" und den möglichen Wirkungen von Narration. Ich glaube, dass ich erst heute, nach mehr als vierzig Jahren - vielleicht - zu verstehen beginne, was damals geschehen ist. 

Der Patient war Anfang vierzig, hatte Jahre als Hausarzt praktiziert, war schwer morphinsüchtig, mit einem chaotischen Leben und mehreren Ehen hinter sich. Seine Approbation als Arzt war ihm längst entzogen worden.

An einem Sommermorgen war er, vollgepumpt mit Morphin vom Dach eines zweistöckigen Hauses gesprungen, um, wie er dabei ausrief "gegen die lächerlichen Gesetze der Schwerkraft" zu protestieren. Mit gebrochenen Beinen wurde er in das Krankenhaus eingewiesen, in dem ich als ganz junger Arzt zu arbeiten begonnen hatte. Wegen dieses gescheiterten Versuchs zu fliegen, nannte ich den Patienten später für mich einfach Ikarus. Entsprechend den damaligen Vorstellungen von Drogenabhängigkeit als schuldhaftem Versagen wurde er wie der letzte Underdog der Klinik behandelt oder besser gesagt, nicht behandelt. Sein Bruder, ein erfolgreicher Internist und Chef des Krankenhauses ließ sich so gut wie nicht blicken. Mich, als den Jüngsten im Team, ordnete man ab, um mich "irgendwie" um Ikarus zu kümmern. 

Ikarus überwand seine Entzugserscheinungen überraschend schnell, saß halb aufgerichtet, braungebrannt, mit dichten schwarzen Haaren, rauchend und mit eingegipsten Beinen im Bett. Er strahlte die Gesundheit eines kalifornischen Wasserskilehrers aus. Ich versuchte mich um diese Aufgabe, die mich völlig überforderte, möglichst zu drücken, wurde aber immer mehr von den Geschichten in Bann geschlagen, die Ikarus mir täglich erzählte. Es entwickelte sich ein Ritual, das darin bestand, dass ich Tag für Tag, oft länger als eine Stunde, an seinem Bett saß, ohne mich von seinen Erzählungen lösen zu können. Er erzählte nichts aus seinem Leben, sondern führte mir die alltäglichen oder dramatischen, die scheinbar unbedeutenden oder tragischen Geschichten seiner Kranken mit einer Plastizität vor Augen, die mich nicht mehr losließ. Mir begann zu dämmern, dass ich eine Abfolge von Lehrstücken erleben konnte, die von einer faszinierenden Einsichtsfähigkeit in die Welt seiner Kranken sprachen. Ikarus musste schlicht und einfach ein brillanter Arzt gewesen sein. Natürlich hatte er einen ständig wachsenden Zulauf, der ihn zunächst zur Hochform trieb, dann aber in eine immer stärkere Überforderung und Erschöpfung, in der er sich anfänglich nur ab und zu, später aber regelmäßig mit Morphin kurze Erholungsphasen zu verschaffen suchte. Ich nahm also als einziger Schüler an einem großartigen Seminar über ärztliche Grundhaltungen teil. Ikarus war mein erster wirklicher Lehrer geworden. Er selbst genoss diese Rolle mehr und mehr und lebte in ihr sichtlich auf.

An einem Morgen schlug er die Bettdecke zurück, deutete auf seine Beine und sagte: "Heute bin ich selbst der Fall, den ich Ihnen vorstellen will." Um es kurz zu machen, er demonstrierte mir, dass seine Beine nicht nur gebrochen, sondern bis über die Knie gelähmt waren, und wie die nächsten Tage zeigten, dass diese Lähmung unaufhaltsam von unten nach oben seinen Körper zu ergreifen begann. Er zeigte das klassische Bild einer sog. Landry-Paralyse, einer akuten aufsteigenden Rückenmarkslähmung, die zum Schluss die Atemzentren des Gehirns erreicht und durch Atemlähmung zum Tode führt. Mit wissenschaftlicher Akribie beschrieb er an sich selbst dieses seltene Krankheitsbild, den klinischen Verlauf und den zu erwartenden tödlichen Ausgang. 

Die einzige Behandlung, die hätte eingesetzt werden können, die künstliche maschinelle Beatmung, stand damals nur in Universitätskliniken zu Verfügung. Wenige Tage später, an einem Samstagmorgen eines sonnigen Julitages hatte die Lähmung bereits begonnen, seine Atemmuskeln zu erfassen. Ich hatte an dem bevorstehenden Wochenende dienstfrei. Ikarus lag, nun schwerer atmend als sonst, halb aufgerichtet, aber ausgesprochen heiter in seinem Bett, die ewige Zigarette im Mund. Er wusste, dass er allenfalls noch einen Tag zu leben hatte, und ich wusste es inzwischen durch ihn, ebenfalls. 

Das einzige, was ihn zu interessieren schien, war ich, sein Schüler. "Was werden Sie an diesem Wochenende machen, Kollege?" fragte er. Ich brachte es kaum heraus: "Ich werde schwimmen gehen, im Waldsee." Ich setze hinzu: "Aber ich werde lieber auch morgen hierher kommen." Er schüttelte den Kopf und sagte." Nein, nein. Diesen Sonntag brauche ich für mich." Dann fügte er, fast besorgt hinzu: "Geben Sie acht auf sich! Im Waldsee gibt es einige tückische Stellen. Da sind schon ein paar Leute ertrunken." Und nach einer kurzen Pause: "Es wäre mir gar nicht recht, wenn Sie vor mir drüben einträfen."

Als ich am Montag früh in sein Zimmer kam, lag dort schon ein anderer Patient, ein Studienrat, der sich über das Frühstück beschwerte.

Indem er die Geschichten seiner Patienten erzählte, erzählte Ikarus sein Leben. Als buchstäblich verwundeter Erzähler hatte er sich sozusagen selbst im weitesten Sinne geheilt und konnte seinen Tod friedlich sterben. Nicht als chaotischer Drogensüchtiger, sondern in dem Bewusstsein, dass sein Leben für viele andere sehr sinnvoll gewesen war. 

Damals lernte ich auch, dass es nicht immer leicht zu entscheiden ist, wer Arzt und wer der Patient ist. 

Auf den ganzen Komplex des "Story Telling" und der narrativen Ethik kann hier nicht weiter eingegangen werden (z.B. David H. Smith [29]). Das Phänomen des "verwundeten Heilers" reicht bis in die Mythen der Antike zurück. Der verwundete Heiler, weiß um seine Verletzlichkeit, was ihn zu einer vertieften Empathie befähigt. Am bekanntesten ist die Geschichte von Chiron, des durch einen vergifteten Pfeil verwundeten Arztes [30].

Der unbewaffnete Arzt

Was aber bleibt dem Arzt am Ende, angesichts des schwerstkranken oder sterbenden Patienten, wenn es schließlich nichts mehr zu messen, nichts mehr zu operieren, nichts mehr zu spritzen gibt? Wenn sich keiner mehr hinter babylonisch aufgetürmten Apparaturen verbergen kann? 

Das ist dann die Stunde der Instrumentenlosigkeit [31]. Die Stunde des unbewaffneten Arztes. Des Arztes, der seine eigenen Ängste kennen gelernt hat und seine eigene Sterblichkeit nicht verdrängt. Dieser Arzt ohne Waffen ist ein starker und zugleich einfühlsamer Arzt. Er erlebt das Sterben des Kranken nicht als Versagen. Er ist der Arzt, den sein Patient gerade jetzt dringend benötigt. 

Bei dem letzten Patienten, dessen Geschichte ich Ihnen erzählen möchte, befanden wir uns an der Schwelle zur Instrumentenlosigkeit. Der 59jährige Patient litt an einer besonders bösartigen Form von Lymphknotenkrebs (hochmalignes Non-Hodgkin-Lymphom). Zunächst war es gelungen durch Bestrahlung und Chemotherapie eine weitgehende Rückbildung der Krankheit zu erreichen, wobei der Patient eine bewundernswerte Kooperation an den Tag legte. Dann aber war es rasch zu einem ausgedehnten Rückfall gekommen, der auf die übliche Therapie nicht mehr ansprach. Der Patient war ein stiller, verschlossener, in sich gekehrt wirkender Mann, der allen bisherigen Behandlungsvorschlägen ohne größere Rückfragen zugestimmt hatte. Als letzte Behandlungsmöglichkeit kam allenfalls eine sogenannte aggressive Maximaltherapie in Frage, mit nur sehr geringen Aussichten auf eine auch nur vorübergehende Besserung. Ich war mir außerordentlich unsicher, wie wir uns verhalten sollten. Ich ahnte, dass der Patient, welche Alternative wir ihm auch vorschlagen würden (Maximaltherapie oder palliative Behandlung), jedem Vorschlag zustimmen würde. Ich sah mich mit meinem Team nicht imstande, seinen wirklichen Standort auszumachen.

In diesem Dilemma versuchte ich einen anderen Weg einzuschlagen. Ich brachte ihm einen Zeichenblock und Buntstifte und bat ihn, einfach aufzuzeichnen wie er sich fühlte, was in ihm vorging. Er zögerte zunächst. Aber am nächsten Tag schob er mir bei der Visite diese Zeichnung zu:

Zeichnung des Patienten
Als wir ihn um eine Deutung baten, sagte er: "Das ist ein blühendes Kornfeld mit vielen Blumen."

Wer sich etwas mit Bildsymbolik beschäftigt hat weiß, dass ein Kornfeld Fruchtbarkeit und Erfolg in jeder Hinsicht versinnbildlicht, und dass Blumen für das Werden und Vergehen des Lebens stehen.

Auf die Frage, was er in die Mitte des Bildes gezeichnet habe, antwortete er: "Das sieht man doch! Das ist die Bank, auf der ich mich endlich ausruhen möchte."

Drei Tage später starb der Patient ganz ruhig und friedlich.

Die Einsamkeit der Sterbenden

In seinem Buch Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen schreibt Norbert Elias [32]: "Was Menschen tun können, um Menschen ein leichtes und friedliches Sterben zu ermöglichen, bleibt noch herauszufinden."

Es bleibt jedes Mal und immer wieder neu herauszufinden, wenn gilt, dass jeder Mensch seinen eigenen Tod sterben will. Nicht den Tod anderer, d.h. auch nicht den Tod der Ärzte. Es gelingt immer nur annäherungsweise - mehr oder minder. Dabei gibt es Glücksfälle; dann ist es berechtigt, von einem glücklichen Tod zu sprechen. Nicht immer ist dieses Ideal zu erreichen. Wenn wir ehrlich sind, dann eher selten. 

Die Einsamkeit und das Ohnmachtgefühl im Sterben lassen sich nicht bewältigen durch ein Verständnis von Autonomie, das nicht mehr ist, als ein Widerstandsbegriff gegen jede Art von Bevormundung [33]. Sie kann Einsamkeit noch verstärken. Sie geht von einer illusorischen Symmetrie der Arzt-Patient-Beziehung aus. Fraglich ist, ob eine Symmetrie von Patientenseite überhaupt durchgängig erwünscht ist [34]. Nicht zwei Gleiche stehen sich gegenüber, sondern ein hilfesuchender Mensch und einer, der kompetent ist, diese Hilfe zu geben. 

Gestützte Autonomie dürfte den weitesten Spielraum für den Wunsch nach Selbstbestimmung im Sterben umfassen. Dies kann sogar auch bedeuten, dass das Prinzip der Fürsorge bei weitem überwiegt. 

Am Ende geht es jenseits bindender Modelle darum, dass der Sterbende gewiss sein kann, eine letzte Obhut zu finden. 

Literatur:

[1] Frisch, M.: Tagebuch 1966-1971. Suhrkamp. Frankfurt/Main. 1972

[2] Kampits, P.: Das dialogische Prinzip in der Arzt-Patienten-Beziehung. Passau. 1996

[3] Zimmermann-Acklin, M.: Zur Sterbehilfediskussion in der theologischen Ethik. Ethik Med (2000) 12:2-15

[4] Sill, Bernhard: Gedanken zu einer neuen "ars (bene) moriendi" in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Renovatio - Zeitschrift für das interdisziplinäre Gespräch. Heft 3. 49. Jahrgang. September 1993. S. 140-151

[5] Elias, N.: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt/Main. 1982. S. 100

[6] Rilke, R.M.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Insel Verlag. Frankfurt a.M. 1966. S. 712-724 ("Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei einer so enormen Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod?")

[7] Smith, R.: A good death. BMJ Volume 320, 15. Januar 2000. S. 129-130. - 
URL: http://bmj.com/cgi/content/full/320/7228/129 Externer Link

[8] Principles of a good death:
- To know when death is coming, and to understand what can be expected 
- To be able to retain control of what happens 
- To be afforded dignity and privacy 
- To have control over pain relief and other symptom control 
- To have choice and control over where death occurs (at home or elsewhere) 
- To have access to information and expertise of whatever kind is necessary 
- To have access to any spiritual or emotional support required 
- To have access to hospice care in any location, not only in hospital 
- To have control over who is present and who shares the end 
- To be able to issue advance directives which ensure wishes are respected 
- To have time to say goodbye, and control over other aspects of timing 
- To be able to leave when it is time to go, and not to have life prolonged pointlessly

[9] Muschg, A.: Geschichte eines Manuskripts. Vorwort in: Zorn, F.: Mars. Frankfurt/Main 1979.

[10] Bappert, L.: Der Knoten. Vertrauen und Verantwortung im Arzt-Patienten-Verhältnis am Beispiel Brustkrebs. Rowohlt. 1979

[11] Wander, M.: Leben wär' eine prima Alternative. Hrsg. Fred Wander. Darmstadt & Neuwied. Luchterhand. 1980

[12] Geisler, L.S.: Muss der Arzt alles tun, was möglich ist? Vortrag. Hamburg. 1996

[13] Kübler-Ross, E.: Interviews mit Sterbenden. Gütersloher Verlagshaus. 17. Auflage. 1996

[14] Kübler-Ross, E.: aaO. [13]

[15] Siegmund-Schultze, N.: Wie viel Aufklärung am Krankenbett ist moralisch vertretbar? Ärzte Zeitung, 22.10.1997. 
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/1997/10/22/190a0301.asp Externer Link

[16] Gross, Peter: Ich-Jagd. Suhrkamp. Frankfurt/Main 1999.

[17] Stout, J.: Ethics After Babel: The Languages of Morals and Their Discontents. Boston, Beacon. 1988. (Moral Esperanto: "an artificial moral language invented in the (unrealistic) hope that everyone will want to speak it.")

[18] Geisler, Linus: Arzt-Patient-Beziehung im Wandel - Stärkung des dialogischen Prinzips. Beitrag im Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" vom 14.05.2002, S. 216-220 - 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0514enquete-dialogisches.html Interner Link

[19] Schotsmans, P.T.: Der Mensch als Schöpfer. In: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.) Wem gehört der Mensch? 17. Sinclair-Haus Gespräch. Bad Homburg v.d. Höhe. 2002

[20] Poppe-Teufel, I.: Tollkirschenzeit. Malignes Melanom als Erfahrung an der Lebensgrenze. Frankfurt/Main 1991.

[21] Velikic, D.: Ein Mensch wie eine Insel - Erinnerungen an Aleksandar Tišma. F.A.Z., 20. Februar 2003. S. 40

[22] Emanuel E.J., Emanuel, L.L.: Four Models of the Physician-Patient Relationship. JAMA 267:2221-6, 1992
Übersicht z.B. unter URL: http://www.msu.edu/course/hm/546/ft1-4.htm Externer Link

[23] Zimmermann-Acklin, M.: Selbstbestimmung in Grenzsituationen. Vom Protest gegen den ärztlichen Paternalismus zur Wiederentdeckung von Beziehungsgeschichten. 4. Fachtagung in der Reihe "Gesundheit in eigener Verantwortung?". Deutsches Hygiene-Museum in Partnerschaft mit der DKV Krankenversicherung AG. 28./29. September 2001 - 
URL: http://www.dhmd.de/forum-wissenschaft/fachtagung04/ft04-z-acklin_ref.htm  - [Broken Link/Link zerbrochen]

[24] v. Weizsäcker, V.: Körpergeschehen und Neurose. Stuttgart. 1985.

[25] Lalouschek, J.: Ärztliche Gesprächsausbildung. Radolfzell. 2002 - 
URL: http://www.verlag-gespraechsforschung.de/lalouschek.htm Externer Link

[26] Böker, W.: Arzt-Patient-Beziehung: Der fragmentierte Patient. Deutsches Ärzteblatt 100, Ausgabe 1-2 vom 06.01.2003, Seite A-24 - 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=35041 Externer Link

[27] zit. n. Schernus, R.: Abschied von der Kunst des Indirekten - oder: Umwege werden nicht bezahlt. In: J. Blume et al (Hr.): Ökonomie ohne Menschen? Neumünster. Paranus. 1997. 

[28] Frank, A.: The wounded storyteller. Body, Illness and Ethics. University of Chicago Press. 1995

[29] Smith, D H.: Telling Stories as a Way of Doing Ethics. Connecticut Medicine, Bd. 51, Nr. 11, 1987, S. 725-31.

[30] Reinhart, M.: Chiron - Heiler und Botschafter des Kosmos. Edition Astrodata, CH-8907 Wettswil.1993.

[31] Schara, J.: Patientenführung bei Krebsschmerz. In: Baar H.A.: Schmerzbehandlung in Praxis und Klinik. Springer, Berlin 1987, 114-127 

[32] Elias, N.: aaO. [5]

[33] Zimmermann-Acklin, M.: aaO. [23]

[34] Eibach, U., Schaefer, K.: Patientenautonomie und Patientenwünsche. Ergebnisse und ethische Reflexion von Patientenbefragungen zur selbstbestimmten Behandlung in Krisensituationen. Medizinrecht, 1, S. 21-28. 2001
 


Geisler, Linus S.: Jeder Mensch stirbt anders - Arzt-Patient-Kommunikation am Lebensende. Vortrag anlässlich des 4. Friedrichshainer Gesprächs, veranstaltet vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) am 2. April 2003 in Berlin.
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/030402lebensende.html

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