Das präoperative
Gespräch
Das präoperative Gespräch mit dem
Anästhesisten oder Chirurgen verfolgt 2 Aspekte:
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die Aufklärung über den geplanten
Eingriff und eine rechtskräftige Einwilligung des Patienten,
-
die psychologische Stabilisierung.
Erstaunlicherweise hat die empirische und
systematische Erforschung der Psychologie der prä-, peri- und postoperativen
Phase zwar zu einer Reihe interessanter Ergebnisse, insgesamt gesehen aber
nur zu wenig allgemeinverbindlichen Richtlinien geführt. Die ersten
Pionierarbeiten auf diesem Sektor gehen auf den amerikanischen Psychologen
JANIS (1958) zurück.
Den Patienten, der vor einer Narkose oder
Operation steht, bewegen die unterschiedlichsten Ängste. Neben
Angstreaktionen, die durch die Krankheit selbst und den Krankenhausaufenthalt
ausgelöst werden, gibt es eine Reihe spezifischer Quellen der präoperativen
Angst (Tab.).
Spezifische Quellen präoperativer
Angst (nach
SPINTGE und DROH 1981) |
Anästhesie
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Todesängste
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Narkose als Bewusstseinsverlust
und Pseudotod
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Gefühl des totalen Ausgeliefertseins
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Warten vor der Operation
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Verschiebung der Operation
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Wirksamkeit und Komplikationen
(z. B. Angst vor dem Aufwachen aus der Narkose während der Operation)
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unbekannte Geräte und Maschinen
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Masken, Spritzen, Infusionen
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Sprechen während der Narkose
und u. U. Ausplaudern persönlicher Geheimnisse
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frühere unangenehme Erfahrungen
(z. B. mit Äthernarkose)
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Erzählungen Dritter
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Presseberichte über Zwischenfälle
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chirurgische Eingriffe
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vermutliche Folgen des Eingriffs
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vorübergehende oder überdauernde
Verletzung und Verstümmelung des Körpers
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schwerwiegende Befunde während
des Eingriffs (z. B. Krebs) und dadurch Abänderung der Operationsindikation
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postoperative Schmerzen
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Nachbehandlung (z. B. Verbandswechsel,
Fädenziehen, Spritzen, Infusionen, Drainagen, Blasenkatheter)
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frühere unangenehme Erfahrungen
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Erzählungen Dritter
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Presseberichte über Kunstfehler
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Bereits die Untersuchungen von JANIS haben
gezeigt, dass der Informationsgrad des Patienten nicht ohne Einfluss
auf den postoperativen Verlauf ist. Nach diesen Befunden scheint es so
zu sein, dass eine mittelgradige präoperative Furcht zur besten
postoperativen Anpassung führt. Diese "präoperative Furcht" ist
im weiteren Sinne als eine notwendige Auseinandersetzungsbereitschaft mit
der bevorstehenden Operation aufzufassen. Danach scheint es nicht sinnvoll
zu sein, dem Patienten vor einem operativen Eingriff jede Angst
nehmen zu wollen. Neuere Ergebnisse (MATHEWS und RIDGEWAY, 1981) haben
ergeben, dass hochgradige präoperative Angst postoperativ zu mehr
Schwierigkeiten und Komplikationen führt. Auch sehr geringe Befürchtungen
des Patienten vor dem Eingriff können den postoperativen Verlauf ähnlich
ungünstig beeinflussen.
Die psychologischen Auseinandersetzungsstrategien
mit
einer bevorstehenden Operation werden in 2 große Kategorien eingeteilt:
einerseits die Vigilanz, die zu einer überstarken Auseinandersetzung
mit der Operation führt, andererseits die Vermeidung.
COHEN
und LAZARUS (1973) kommen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass
vigilante Patienten postoperativ größere Schwierigkeiten aufweisen
als sogenannte Vermeider. Nach heutigen Vorstellungen scheinen die Beschränkung
auf eine relativ geringe präoperative Informationsmenge und die Strategie
der Vermeidung bei leichten und mittelschweren Operationen die besten Erfolgsaussichten
zu versprechen.
Das richtige Ausmaß der Information
abzuschätzen,
ist nicht einfach. Einerseits hat die Erfahrung gezeigt, dass die Prämedikationsvisite
des Anästhesisten und die Gespräche von Chirurgen mit dem Patienten
häufig hinter den Erwartungen des Kranken zurückbleiben. Dadurch
kann unnötigerweise Angst induziert werden. Nicht selten versuchen
die Patienten dann, von Pflegekräften oder Mitpatienten mehr Informationen
über den bevorstehenden Eingriff zu bekommen. Auf der anderen Seite
beinhaltet die heutige Aufklärungspflicht
die Gefahr einer
übermäßigen Information, die ihrerseits vermeidbare Ängste
auslöst (s. Kapitel "Das Aufklärungsgespräch" ).
Das präoperative Gespräch, das
sich allein auf Informationsvermittlung und die Berücksichtigung juristischer
Aspekte beschränkt, ist ein Torso. Die überwiegende Zahl der
Patienten wünscht mehr Aufklärung. Diese kann jedoch nicht losgelöst
von dem Phänomen Angst stattfinden. Das zentrale Thema ist
das "Unbekannte". Die Operation selbst kann als objektiver "Stressor" qualitativ
und quantitativ relativ gut erfasst werden. Die präoperative Angst
hingegen hängt in hohem Maße von der subjektiven Bewertung
dieses
Stressors ab. Allgemeingültige Konzepte eines präoperativen Gesprächs
sind daher nur schwer zu erstellen. Vieles spricht dafür, dass das
erfolgreiche präoperative Gespräch am ehesten gelingt, wenn sowohl
die individuellen psychosozialen Gegebenheiten des Patienten als
auch sein persönliches Informationsbedürfnis hinreichend
berücksichtigt werden.
Von WEISSAUER (s. Lit. Ch. KATZ und S.
MANN) stammt das Konzept der "Stufenaufklärung". Die Stufenaufklärung
umfasst 2 Aufklärungsphasen: In der 1. Phase werden dem Patienten
anhand kurzgefasster, allgemeinverständlicher Merkblätter
die
wichtigsten Informationen über den geplanten Eingriff und dessen Risiken
gegeben. In der 2. Phase erhält der Patient auf der Basis dieses Merkblattes
Gelegenheit zu einer individuellen Aufklärung.
Nach neueren
Untersuchungen (Ch. KATZ, S. MANN) hat diese Form des präoperativen
Gesprächs positive Auswirkungen auf das Angstniveau und den Wissensstand.
Die Mehrzahl der Patienten (90%) zieht die Stufenaufklärung der alleinigen
mündlichen Aufklärung vor (KATZ und MANN).
Gesprächstechnisch ist in der
präoperativen Situation eine besondere Gefahr zu berücksichtigen.
Der Patient verfügt in der Regel nur über sehr vage, häufig
auch abstruse anatomische Vorstellungen. Detaillierte Schilderungen des
operativen Vorgehens an den einzelnen Organen sind daher geradezu prädestiniert,
Missverständnisse, Fehlvorstellungen und erhebliche Ängste auszulösen.
Es empfiehlt sich deshalb, soweit nicht die Aufklärungspflicht juristisch
eine detaillierte Schilderung notwendig macht, die geplante Operation möglichst
in großen Zügen zu beschreiben und weitere Informationen von
dem eruierbaren Informationswunsch des Patienten abhängig zu machen.
Die meisten psychologischen Untersuchungen
beziehen sich auf Operationen in Allgemeinanästhesie. Die zunehmend
an Bedeutung gewinnende Regionalanästhesie stellt eine psychologisch
völlig andere Situation dar, weil die operative Maßnahme bei
Bewusstsein durchgeführt wird. Die Operation wird einerseits aktiv
miterlebt, andererseits ist dadurch eine psychologische Intervention auch
während des Eingriffs möglich. Hierfür haben sich noch keine
festen Regeln herausgebildet.
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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