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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Das Gespräch vor und während belastender Maßnahmen
Das Gespräch vor und während belastender Maßnahmen
Ziel des vorbereitenden ärztlichen Gesprächs bei belastenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ist ein möglichst stressarmer und komplikationsloser Verlauf. Hinzu kommt ein präventiver Aspekt, wenn damit zu rechnen ist, dass eine Untersuchungs- oder Behandlungsmethode, die mit stärkeren Belästigungen verbunden ist, wiederholt werden muss. In diesem Fall soll das Gespräch Ablehnung und Abwehrhaltung verhindern.

Die Reaktionen des Patienten während einer belastenden medizinischen Maßnahme wirken sich fast unweigerlich auf den Untersucher aus: Angst-, Abwehr- und Schmerzreaktionen erzeugen eine Atmosphäre der Spannung und Gereiztheit, die dem Untersucher ein souveränes und zügiges Vorgehen erschwert. Insofern bestehen hier Rückkopplungsphänomene im negativen und positiven Sinne.

Der beste Weg, sich in die Erlebniswelt eines Patienten während einer bestimmten Untersuchung oder Behandlung einzufühlen, ist, sich einer solchen Maßnahme selbst einmal zu unterziehen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Weg nicht häufig beschritten werden kann. Grundvoraussetzung einer wirksamen Vorbereitung des Patienten ist die Bereitschaft, sich im Sinne der Empathie mit den Auswirkungen der Maßnahme aus der Sicht des Patienten zu beschäftigen. Es muss immer bedacht werden, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen der subjektiven, vom Patienten erlebten Gefährdung und Belastung und der objektiv gegebenen bestehen kann. Während beispielsweise aus der Sicht des Nuklearmediziners die Durchführung eines Knochenszintigramms als harmlose Untersuchungsmethode gilt, kann das längere Liegen auf harter Unterlage unter der Gammakamera für einen Patienten mit Knochenmetastasen hochgradig belästigend sein.

F. ANSCHÜTZ hat bei 679 Patienten eine schematische Befragung zur Quantifizierung des Schmerzerlebnisses bei invasiven diagnostischen Maßnahmen (einfache Venenpunktion, Koloskopie, Koronarangiographie usw.) durchgeführt. 

Die Befragungen erfolgten unmittelbar nach dem jeweiligen Eingriff und wurden 24 Stunden später - meist mit dem gleichen Ergebnis - wiederholt. Das subjektive Schmerzempfinden wurde in 10 Intensitätsgrade eingeteilt. Zum Beispiel: Grad 1: Schmerz gerade fühlbar, äußere Ablenkung möglich. Grad 5: mäßiger bis mittelschwerer Schmerz, der zu unwillkürlichen Unterbrechungen geistiger und körperlicher Arbeit führt, ausgeprägtes Unbehagen sowie Abwehr- und Ausweichreaktionen hervorruft. Grad 10: schwerster Schmerz mit Todesangst und Vernichtungsgefühl.

Die Untersuchung ergab, dass das Schmerzerlebnis innerhalb der einzelnen Methoden erheblich schwankt und von Arzt und Patient unterschiedlich eingestuft wird. Die geringsten Schmerzen wurden von den Patienten bei unkomplizierten Venenpunktionen, Nierenpunktionen sowie einfachen Gastroskopien angegeben, die höchsten bei Koloskopien, Rektoskopien und Sternalpunktionen.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei Vorbereitungsgesprächen die einfache Formel: "Viel Information = gute Vorbereitung" generell stimmt. Ausführliche Information und intensive Vorbereitung müssen nicht grundsätzlich günstigere Effekte erbringen. Erst die Mitbewertung von Auseinandersetzungsstrategien, eine Reihe von Persönlichkeitsvariablen sowie frühere Erfahrungen des Patienten mit ärztlichen Maßnahmen ermöglichen ein optimales Vorgehen (L. R. SCHMIDT).

"Erfahrenheit" des Patienten scheint sich auf den Untersuchungsablauf günstig auszuwirken. So konnte SALM (1982) bei 80 Patienten, die herzkatheterisiert wurden, feststellen, dass Störungen bei Patienten, die erstmals untersucht wurden und "unerfahren" waren, in 12 von 59 Fällen während der Untersuchung auftraten, bei Patienten mit Vorerfahrung hingegen nur in einem von 21 Fällen. SALM beschreibt bei Patienten, die vor einer belastenden Untersuchungs- oder Behandlungsmaßnahme stehen, 2 typische Grundhaltungen mit polarem Charakter: "aktive Skepsis" gegenüber "blindem Vertrauen" und "offene Panik" gegenüber "bewusster Gelassenheit".

Der 1. Typ setzt sich mit der geplanten Untersuchung oder Behandlung kognitiv-intellektuell auseinander, entweder indem er eine bewusst kritische Haltung einnimmt oder die Maßnahme im Sinne der Vermeidung verarbeitet. Das Verhalten des 2. Typs ist überwiegend durch emotionale Reaktionen gekennzeichnet. Bei der Vorbereitung sollte daher je nach "Patiententyp" differenziert vorgegangen werden. Dazu führt SALM (1982) aus:

"So erscheint es offensichtlich, dass Patienten mit 'offener Panik' vor der Untersuchung diejenigen sind, die eine besondere Betreuung benötigen; denn sie sind es auch, die den Eingriff am stärksten als belastend erleben und die auch am meisten gefährdet sind, was das Auftreten von Störungen bei der Untersuchung angeht. Bei diesen Patienten spielt die Angst vor dem Ergebnis eine besondere Rolle. Möglicherweise bezieht sich ihre Panik vor allem auf eine spätere Operation. Dies muss bei der Vorbereitung dieser Patienten berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu den Patienten mit offener Panik sind die 'bewusst gelassenen' Patienten diejenigen, die am wenigsten Schwierigkeiten machen. Sie wirken kooperativ und fallen niemandem mit negativen Gefühlsäußerungen oder besonderem Wissensdurst und Misstrauen (wie die 'aktiven Skeptiker') zur Last. Es sind die 'idealen' Patienten, die die an sie gestellten Erwartungen am besten erfüllen. Hier mag die Gefahr bestehen, dass diese Patienten sich unter schweren Belastungen mit ihrer Überanpassung überfordern und überfordert werden. Für Patienten mit 'aktiver Skepsis' scheinen Informationen besonders wichtig zu sein, weil sie die Sicherheit brauchen, ihre Situation intellektuell 'im Griff zu haben'. Sie können sich mit massiv bedrohenden Vorstellungen auseinandersetzen, ohne dabei in Panik zu geraten. Man braucht bei ihnen nicht die Befürchtung zu haben, dass sie bedrohliche Informationen nicht vertragen, sondern sollte ihrem Bedürfnis entgegenkommen, alles genau wissen zu wollen. Mit ihrem Misstrauen können sie den Arzt kränken und dadurch zu unangenehmen Patienten werden (während Patienten mit 'blindem Vertrauen' ihn eher bestätigen). Es ist hier hilfreich zu verstehen, dass auch das Misstrauen einen Stellenwert in der Angstbewältigung dieser Patienten hat und nicht den Arzt in seiner persönlichen Kompetenz betrifft."

Konkret gelten folgende Leitlinien für das Gespräch vor und während belastender Eingriffe und Maßnahmen:

  • Es muss versucht werden, dem Patienten das Ziel der Maßnahme klarzumachen. Damit ist ein deutlicher Motivationseffekt verbunden, der eine günstige Ausgangslage schafft.
  • Der Vorgang der Maßnahme soll zunächst in groben Zügen erklärt werden, soweit er für den Patienten relevant ist. Hier muss differentiell vorgegangen werden, weil große Unterschiede im individuellen Informationswunsch und Informationsstand bestehen können. Während für den Patienten mit "aktiver Skepsis" die Information gar nicht umfassend genug sein kann, wird der Patient mit "blindem Vertrauen" mit relativ wenig Information auskommen. Der Spielraum wird allerdings durch die von der Rechtsprechung vorgegebene Pflicht zur Aufklärung deutlich eingeengt.
  • Die voraussichtliche Dauer der Maßnahme soll genannt werden. Dies erleichtert es dem Patienten, sich innerlich auf die Untersuchung einzustellen. Denn eine wenig belästigende Maßnahme die in der Vorstellung des Patienten nur einige Minuten in Anspruch nimmt, in Wirklichkeit aber eine Dreiviertelstunde dauert, kann einen höheren Belästigungscharakter gewinnen als eine subjektiv stark belastende Maßnahme, die sich über längere Zeit hinzieht, von der Patient jedoch vorher weiß, wie lange sie dauern wird.
  • Dem Patienten soll gesagt werden, welche Begleiterscheinungen nach menschlichem Ermessen eintreten und welche nicht eintreten werden, dass also beispielsweise die Probeexzision aus der Magenschleimhaut schmerzlos ist oder eine sachgerecht durchgeführte Bronchoskopie nicht mit einem Erstickungsgefühl einhergeht, andererseits aber, dass die Prämedikation zu Müdigkeit führen kann und die Instillation des Lokalanästhetikums in den Tracheobronchialbaum zu Hustenreiz. Dadurch lassen sich Ängste durch unbegründete Erwartungshaltungen ebenso vermeiden wie Abwehrreaktionen durch ungenügende Vorbereitung.
  • Es ist sehr wichtig, dem Patienten das Gefühl zu geben, dass er in den Untersuchungsgang eingreifen kann. Mit dem Patienten kann z. B. ein Handzeichen ausgemacht werden, durch das er während einer Untersuchung, die ihm das Sprechen erschwert (z. B. Bronchoskopie), Luftnot, Schmerzen oder den Wunsch nach einer Untersuchungspause signalisieren kann. Durch eine gezielte vorbereitende Information können Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung positiv beeinflusst werden. Dabei kommt der Vorwarnung besonderes Gewicht zu. Die Vorwarnung sollte Zeitpunkt, Ausmaß, Qualität und Dauer des Schmerzes möglichst genau charakterisieren. Natürlich ist auch eine "Entwarnung" erforderlich. Die Vorwarnung, verbunden mit einer tatsächlichen oder vermeintlichen Kontrollierbarkeit des Untersuchungsvorgangs, kann dessen Durchführung erheblich erleichtern. Vielen Menschen hilft einfach das Gefühl, eine Maßnahme von sich aus zu wollen, auch wenn sie schmerzhaft oder belästigend ist, und eingreifen zu können, wenn die Belästigung unerträglich erscheint.
Das ärztliche Gespräch vor und während belastender Maßnahmen
1) Vorbereitungsphase
  1. Ziel erklären (Motivation!)
  2. Maßnahme in groben Zügen darstellen
  3. Informationsumfang individuell bemessen ("Skepsis?" "Blindes Vertrauen?")
  4. Dauer der Maßnahme nennen
  5. spezifische Ängste eruieren und abbauen
  6. Aufklärung im juristisch erforderlichen Umfang
  7. exakten Termin nennen; möglichst keine Terminverschiebung
  8. Kontakt mit "erfahrenem" Patienten vermitteln
2) Durchführung
  1. Gefühl der Kontrollierbarkeit vermitteln
  2. Möglichkeit des Eingreifens besprechen (Handzeichen usw.)
  3. bei schmerzhaften Manipulationen: Vorwarnung und Entwarnung geben
  4. sparsamer, aber kontinuierlicher verbaler Kontakt; nonverbale Kontakte
  5. Patienten nicht "vergessen"
  6. Gespräch innerhalb des Teams auf das notwendige Minimum beschränken
  7. keine verunsichernden Äußerungen
  8. Angstauslöser minimalisieren
  9. Maßnahme nicht unnötig verlängern oder unterbrechen
  10. bei Abwehr- und Panikreaktionen: ruhiges, einfühlsames Vorgehen
  • Spezifische individuelle Ängste sollten eruiert und gezielt abgebaut werden. Nicht selten haben Patienten irrationale, häufig durch ein Missverständnis zustande gekommene Befürchtungen, die besonders stark ängstigend wirken. Solche Ängste ("Kann dabei nicht die Lunge einreißen?", "Was passiert, wenn Luft an das Herz kommt?") sollten offen angesprochen und durch einfühlende rationale Argumente entkräftet werden.
  • Der Termin einer geplanten Maßnahme sollte dem Patienten rechtzeitig mitgeteilt und wenn irgend möglich exakt eingehalten werden. Wartenlassen oder Verschiebungen ohne Grund sind unnötige zusätzliche Belastungen.
  • Die Faszination der Technik oder aber die Schwierigkeit des Untersuchungsverfahrens kann leicht dazu verführen, dass der Patient "vergessen" wird und sich dadurch noch stärker isoliert und ausgeliefert fühlt. Deshalb sollten kontinuierlich verbale Kontakte aufrechterhalten werden, die durchaus kurz gehalten sein können: die Frage nach dem augenblicklichen Befinden, ein kleiner (angebrachter!) Scherz, der Hinweis, dass die momentane Belästigung rasch abklingen wird oder die Untersuchung ihrem Ende zugeht. Bei manchen Patienten sind nonverbale Kontakte (Berührung, Halten) ebenso wichtig und wirksam.
  • Die Untersucher und ihre Helfer sollten während der Maßnahme so wenig wie möglich miteinander sprechen. Der ständige Austausch medizinischer Informationen ist eine besonders ergiebige Quelle von Missverständnissen für den Patienten. Dass der Small talk über den nächsten Urlaub, die Schikanen der Krankenhausverwaltung oder das neueste Automodell während einer Maßnahme, die mit starken Belästigungen eines Patienten einhergeht, ein absolutes Tabu darstellt, dürfte selbstverständlich sein.
  • Redewendungen, von denen eine verunsichernde Wirkung ausgehen kann, müssen vermieden werden (z. B. "Wenn wir Glück haben, klappt es beim ersten Mal. . .", "Dieses Problem haben wir jedes Mal beim Einführen des Katheters.").
  • Schließlich kann es hilfreich sein, den Patienten mit einem anderen "erfahrenen Kranken" in Kontakt zu bringen, falls dieser fähig ist, die Untersuchungsmethode sachlich und beruhigend darzustellen.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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