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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Spezieller Teil
Gespräche gegen die Angst
Quellen der Angst
Zur Historie der Angst
Formen der Angst
Strategien gegen die Angst
Ängste vermeiden
Ängste erkennen und differenzieren
Ängste annehmen und abbauen
 
Bedenkt man das menschliche Dasein,
so ist es viel erklärungsbedürftiger,
dass der Mensch meist keine Angst hat,
als dass er manchmal Angst hat.
Schneider, 1967
Gespräche gegen die Angst
Quellen der Angst
Die moderne Medizin ist eine nahezu unerschöpfliche Quelle von Ängsten:
  • Ängste, die durch ein gigantisches Potential an Technik induziert werden;
  • Ängste, die aus Gesprächsdefiziten oder der Missverständlichkeit der Sprache resultieren; 
  • die atmosphärische Angst, die vom modernen Krankenhaus ausgeht;
  • Ängste, die die Helfer verbreiten, indem sie Kranke in einem Klima der Unpersönlichkeit und Hektik versorgen;
  • Krebsangst und die Angst vor der Intensivmedizin;
  • Ängste, in eine nicht mehr durchschaubare, nicht mehr selbst beeinflussbare "Mühle oder Apparatur" zu geraten;
  • Ängste durch negative medizinische Erfahrungen;
  • Ängste, die die eigenen Ängste des Arztes reflektieren;
  • Ängste, die von den Medien geschürt werden;
  • Fundamentalängste vor dem Verlust des Habens und Seins.
Hinzu kommen vielfältige Verlustängste, die aus dem Kranksein selbst resultieren: die Angst vor dem Verlust körperlicher Integrität, sozialer Geborgenheit, wirtschaftliche Absicherung, schließlich die Angst vor dem Verlust des eigenen Daseins.

Neueste Untersuchungen zeigen, dass die Zahl der Angst-Patienten in der Praxis des niedergelassenen Arztes zunimmt (H. RIEBELING). Vielfach handelt es sich um Patienten mit relativ unklarer Symptomatik. Die klassischen neurotischen Ängste, wie die Herzangst oder die Kantzerophobien, scheinen eher seltener zu werden. ENGELHARDT und Mitarbeiter haben analysiert, wie häufig Ängste bei Krankenhauspatienten auftreten. Die Interviewer beurteilten die Angstreaktion von Krankenhauspatienten einer Inneren Abteilung nach den Kategorien "gefasst", "ängstlich", "große Angst". Als "gefasst" wurden die Patienten eingestuft, die wussten, dass sie eine benigne Erkrankung hatten und die die geringen Auswirkungen deshalb gut beurteilen konnten. Auch Patienten, die erfolgreich unangenehme und bedrohliche Krankheitssymptome abgewehrt hatten, wurden in diese Kategorie eingereiht. Unter einer "ängstlichen" Reaktion wurde verstanden, dass Patienten bedrohliche Folgen ihrer Krankheit befürchteten, sie aber bewältigen konnten. "Große Angst" wurde bei Patienten angenommen, die ihre Existenz gefährdet sahen oder bei den die Krankheit, zu heftiger, frei flottierender Angst führte. Die Untersuchung zeigte, dass nur jeder 5. (21%) der untersuchten Patienten seine Krankheit gefasst aufnahm. Ungefähr die Hälfte der Patienten (47%) zeigten ein ängstliches Verhalten, und bei mehr als einem Viertel (30%) ließ sich große Angst, die mit Verzweiflung oder Todesangst einherging, konstatieren. Untersuchungen von DUFF und HOLLINGS-HEAD (1968) bei chirurgische Patienten ergaben ein noch ungünstigeres Bild: 10% zeigten geringe (minor), 30% mäßige (moderate) und 60% heftige (severe) Angst.
 
Belastungsfaktoren des Krankenhauses Abb.: Belastungsfaktoren des Krankenhauses, auf die der Patient (mit Angst) reagiert (nach K. ENGELHARDT und Mitarbeitern)

Die Induktion von Angst durch die moderne Medizin resultiert auch aus der eigenen Anonymität. Sie prägt einerseits die Architektur ihrer Kliniken, Krankenhäuser und Praxen und das Design ihrer Technik, andererseits auch den "Betrieb", der dort abläuft. Die Medizin von heute ist kaum mehr in der Lage, das Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Der Patient wird zwar versorgt, aber nicht umsorgt. Die Unwirklichkeit wird zum Charakteristikum unserer Hospitäler, Ambulanzen und Praxen. 

Die Angst, mit der ein Patient auf seine Krankheit, die ihn versorgende Institution und die ihn Betreuenden reagiert, muss nicht immer eine adäquate Reaktion sein. Es kann sich um den Ausdruck eines unbewusst motivierten Konflikts handeln, dessen Ursprung in der Vergangenheit liegt und für den die Krankheit nur als auslösendes Moment zu betrachten ist. In diesen Fällen erscheint die Angstreaktion dann übergroß und im Vergleich zu ihrer Ursache vernunftwidrig. Ob bei einem Patienten Angst vorliegt und wie schwer sie wirklich ist, kann schwierig zu erfassen sein, denn wie viel von der Angst nach draußen dringt, wird auch von der Angstabwehr des Patienten bestimmt. Typische Abwehrformen sind Verdrängung, Verleugnung, Regression, Rationalisierung und Projektion. Dabei handelt es sich keinesfalls um Mechanismen, die nur bei Neurotikern, sondern durchaus auch bei "normal" strukturierten Patienten nachweisbar sind (s.a. Kapitel "Gespräche mit Todkranken und Sterbenden" Link).



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Zur Historie der Angst
Die Ängste des Patienten können nicht losgelöst von zeitgeschichtlichen Strömungen gesehen werden. Der Begriff "Zeitalter der Angst" ist zweifelsohne plakativ. Präzise Zahlen über die Häufigkeit der Angstverbreitung sind naturgemäß schwer zu erhalten. So streuen die Angaben über gelegentliche Angstzustände in der klinisch gesunden Bevölkerung zwischen 10 und 40% bei Erwachsenen (V. FAUST).

Die Historie der Angst zeigt, dass Angst in den verschiedenen Epochen und Kulturen sehr unterschiedlich erlebt und verarbeitet wurde. Die Phänomene Furcht und Angst sind bereits im Altertum bei den Griechen anzutreffen. Dort sind sie an bestimmte Situationen, Haltungen und Verarbeitungen gebunden und können als "Teil der Ethik im Rahmen einer sozusagen als komisch geordnet interpretierten Welt" gesehen werden (L. BEYER). Die universalisierte, viel schwerer fassbare Angst in Gestalt einer "Weltangst" taucht später im Hellenismus und dann im Christentum auf. Bei KIERKEGAARD, HEIDEGGER, SARTRE und JASPERS wird Angst zum zentralen philosophischen Schlüssel. Angst wird als Bestandteil des menschlichen Handelns, als ein Grundzug des menschlichen Daseins begriffen. Sie ist ein Grundphänomen menschlicher Gemütsbewegung. Die Dichotomie in Angst (unbestimmt, gegenstandslos, anonym, unmotiviert) und Furcht (bestimmt, auf einen bedrohlichen Zustand oder eine bedrohliche Situation gerichtet, entsprechend motiviert) wurde von KIERKEGAARD eingeleitet. Die "Weltbezogenheit" besteht darin, dass sich der Mensch vor bestimmten Objekten fürchtet, aber vor dem Nichts ängstigt.

Sterbens- und Todesängste haben in unserer Zeit ein besonderes Gewicht. Im Denken der Neuzeit gewinnt die These von der Unvorstellbarkeit des persönliche Todes ein immer größeres Gewicht. J. AMÈRY formuliert sie mit folgenden Worten: "Dass er aber da ist und durchaus eine Welt ohne Dasein, nicht aber sein eigenes Nichtdasein denken kann, ist die Grundbewandtnis seiner Existenz." Diese These von der Unvorstellbarkeit des persönlichen Todes zählt zu den zentralen Problemen des Menschen der Gegenwart (J. E. MEYER). Die Kompensation durch immer weiter steigenden Konsum als die wichtigste Form des "Habens", kann nicht gelingen. Denn Konsumieren besitzt ja etwas Zweideutiges: Es vermindert die Angst, weil das Konsumierte nicht mehr weggenommen werden kann, aber es zwingt auch, immer mehr zu konsumieren, denn das einmal Konsumierte hört bald auf, zu befriedigen. Der moderne Konsument könnte sich mit der Formel identifizieren: "Ich bin, was ich habe und was ich konsumieren" (E. FROMM).

Dem modernen Menschen fällt es sehr schwer, seine Habe-Orientierung aufzugeben. Tiefe Angst und das Gefühl, auf jegliche Sicherheit verzichten zu müssen, wären die Folgen. Dieses Phänomen des Habe-Orientiertheit - im Gegensatz zur Existenzweise des Seins - als Quelle vielfacher Ängste beschreibt FROMM wie folgt: "Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe? Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise. Weil ich verlieren kann, was ich habe, mache ich mir natürlich ständig Sorgen, dass ich verlieren werde, was ich habe. Ich fürchte mich vor diesem Verlust, vor wirtschaftlichen Veränderungen, vor Revolution, vor Krankheit, vor dem Tod, und ich habe Angst zu lieben, Angst vor der Freiheit, vor dem Wachsen, vor der Veränderung, vor dem Unbekannten. So lebe ich in ständiger Sorge und leide an chronischer Hypochondrie, nicht nur in bezug auf Krankheiten, sondern hinsichtlich jeglichen Verlustes, der mich treffen könnte..."

Möglicherweise wird das allgemeine Angstpotential unserer Zeit noch dadurch verstärkt, dass Angst im gewissen Sinne ein Modesymptom ist. So stellt V. FAUST die Frage: "Gibt es nicht Anzeichen dafür, dass wir die Angst brauchen, ja, dass wir sie suchen, weil es uns an natürlichen Angstauslösungen zu mangeln beginnt? Haben wir nicht eine heimliche Schwäche für das ... schaurige Behagen - Koketterie mit der Angst?" Und ALEWYN (1971) schreibt: "Im Zeitalter der Angst sind viele weit davon entfernt, Angst als eine Not zu meiden und Befreiung von ihr zu begrüßen. Im Gegenteil: Es scheint, als ob die Angst als unentbehrliches Bedürfnis empfunden wird: Die Lust an der Angst als Koketterie mit der Angst ..."



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Formen der Angst
Die Definition des Zustandes Angst hängt vom Standort des Betrachters ab (Psychologie, Philosophie, Psychopathologie, Theologie). Eine Definition aus ärztlicher Sicht stammt von FAUST: "Angst ist ein unangenehmer emotionaler Zustand mit zumeist physiologischen Begleiterscheinungen, hervorgegangen aus einem Gefühl der Bedrohung, entweder konkret oder nicht objektivierbar."

Die Alltagsangst bezeichnet Angstzustände, die jeder Mensch aus seinem eigenen Erleben kennt. Es sind nachvollziehbare sinnvolle, durch Dinge, Umstände, Gefahren, Gedanken oder Glaubensinhalte des täglichen Lebens ausgelöste Ängste (Angst vor Krankheit, Alleinsein, Dunkelheit, Menschen, der Zukunft oder dem Sterben). Die Abgrenzung zur neurotischen Angst ist schwierig, da es sich nicht um quantitative Unterschiede handelt und ein Konflikt als tieferliegende Angstquelle nicht immer eruierbar ist. Der heutige Mensch neigt zu Somatisierungstendenzen seiner Angst, wahrscheinlich auch, weil die Organkrankheit einen höheren "Prestigewert" besitzt als seelische Störungen.

Der Begriff der frei flottierenden Angst wurde von FREUD eingeführt. Es handelt sich um eine "zwischen Normalität und Krankheit hin- und herdiffundierende Bereitschaft, jederzeit Bedrohliches zu erwarten und sich mit skrupulösen Gewissensängsten abzuquälen, eine generelle Ängstlichkeit, die von spezifischen Auslösesituationen unabhängig ist, ihr Objekt jeweils findet oder auch frei phantasiert" (VON BAEYER, 1971).

Umschriebene, bei bestimmten Neurosen auftretende Ängste werden als phobische Ängste bezeichnet. Am bekanntesten sind Klaustrophobie, Platzangst, Krebsangst oder Angst vor Erröten. Phobische Ängste können scharf auf den eigenen Körper fokussiert werden und sich dann beispielsweise als Herzneurose manifestieren.

Die psychotische Angst, wie sie vor allem bei Patienten mit Schizophrenie oder manisch depressiven Erkrankungen auftritt, zählt zu den schwersten Angstzuständen. Es besteht eine Angst vor etwas Grauenhaftem, Unfassbarem, oder es treten befremdende, nicht nachvollziehbare Ängste in Art einer Weltuntergangsstimmung auf. Angstzustände bilden ein zentrales Symptom vor allem der endogenen Depression.

Körperlich begründbare Angstzustände werden beispielsweise im Alkoholdelir oder beim Durchgangssyndrom auf der Intensivstation beobachtet. Die Patienten sind zeitlich und räumlich desorientiert, verwirrt und von intensiven Ängsten erfüllt, die u.a. zu erhebliche Aggressionen führen können.



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Strategien gegen die Angst
Der "Feldzug" gegen die Angst in der Medizin ist ein Mehrfrontenunternehmen, das sich auf 3 Hauptstrategien stützt:
  1. Ängste vermeiden, statt Ängste auszulösen.
  2. Ängste erkennen und differenzieren.
  3. Ängste annehmen und abbauen.
Kranksein geht schon an sich mit zahlreichen Ängsten einher. Eine der wichtigsten Aufgaben des Arztes und seiner Mitarbeiter muss es daher sein, das Angstpotential nicht noch durch vermeidbare Ängste zu erhöhen. Wer imstande ist, sich in die Wirklichkeit eines Patienten einzufühlen, der zum ersten Mal in ein Krankenhaus eingeliefert wird, wird sich rasch ein plastisches Bild von dem Szenario seiner Ängste machen können: Die ersten Ängste werden möglicherweise schon durch den Transport mit heulenden Sirenen zum Hospital induziert. Dort trifft der Patient auf lauter Unbekannte, deren Namen er nicht kennt und deren Funktionen schwer zu durchschauen sind. Vielleicht spricht man ihn mit seinem Namen an, vielleicht aber auch nicht, oder sein Name wird verstümmelt. Was um ihn herum geredet wird, geschieht in einer fremden Sprache, noch dazu in verkürzter Form. Er erlebt rasch, dass er sich eher in der unteren als der oberen Position der Krankenhaushierarchie befindet. Es werden Untersuchungen mit ihm angestellt. die zum Teil belästigend, zum Teil schmerzhaft sind und deren Sinn für ihn schwer erkennbar ist. Viele Fragen drängen sich ihm auf, aber er bekommt meist nur wenige oder abweisende Antworten. Er erlebt sich als Objekt und muss sich einem strengen Krankenhausreglement unterwerfen. Er liegt mit anderen Kranken zusammen, die für ihn ebenfalls Fremde sind, und erlebt deren Krankheit, evtl. sogar ihren Tod mit.
 
 Strategien gegen die Angst
I. Ängste vermeiden!
1. keine Angst induzierende, sondern verstehende und erklärende Sprache
2. Anonymität, Undurchschaubarkeit vermeiden
3. keine Verobjektivierung oder Isolation des Patienten
4. Kommunikationsbarrieren beseitigen
5. eigene Ängste erkennen und reflektieren
II. Ängste erkennen und differenzieren
1. "Masken" der Angst erkennen:
- "schwieriges" Verhalten
- Compliance-Probleme
- Abwehrmechanismen (Verleugnung, Rationalisierung, Vermeidung usw.)
- Alkohol- und Medikamentenabusus
2. Angst differenzieren:
- "normale" Angst?
- organisch bedingte Angst?
- Phobie?
- neurotische Angst?
- psychotische Angst?
III. Angst abbauen
1. die Angst annehmen
2. die Angst aussprechen (nicht "ausreden")
3. die Angst erklären
4. Ängste zu Ende denken lassen
5. Metakommunikation
6. Abwehrmechanismen nicht unterbrechen
7. verbale und nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten ausschöpfen

Natürlich ist es eine Illusion anzunehmen, dass sich das Konzept einer angstfreien Medizin lückenlos verwirklichen lässt. Die totale Angstfreiheit in der Begegnung zwischen Patient, Arzt und Helfern wird wahrscheinlich bei noch so gutem Willen nicht realisierbar sein. Es stellt sich sogar die Frage, ob nicht ein bestimmtes Quantum an "natürlicher Angst" zur besseren Adaption in bestimmten Situationen erforderlich ist. So hat JANIS gezeigt, dass eine mittelgradige präoperative Furcht die bestmögliche postoperative Anpassung erlaubt. Neuere Untersuchungen haben jedoch auch ergeben (MATHEWS und RIDGEWAY, 1981), dass Patienten mit hochgradigen präoperativen Befürchtungen postoperativ im Durchschnitt mehr Schwierigkeiten haben als Patienten mit einer "gesunden " Portion präoperativer Angst. Ärztliches Handeln muss als ein wesentliches Ziel die Verringerung des Angstpotentials in der Medizin beinhalten. Denn erst der Mensch ohne übertriebene Angst ist in der Lage, sich zu öffnen, zu verstehen, zu kooperieren, seine Krankheit richtig zu verarbeiten und seine Identität wiederzufinden. 

Angst, ihre Abwehr durch den Patienten und ihre Bekämpfung durch den Arzt in speziellen Situationen wird in verschiedenen Kapiteln dieses Buches behandelt, auf die hier hingewiesen werden soll ("Das ärztliche Gespräch vor und während belastender Maßnahmen" Link, "Das Gespräch mit dem sogenannten schwierigen Patienten" Link, "Gespräche in der Intensivmedizin" Link, "Gespräche mit Todkranken und Sterbenden" Link).



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Ängste vermeiden
Ängste lassen sich am ehesten vermeiden, wenn alles, worüber mit dem Patienten gesprochen wird und was mit ihm geschieht, durchschaubar und möglichst unmissverständlich ist. Ein erster Schritt dazu ist die Beseitigung der Anonymität in Praxen, Ambulanzen und Krankenhäusern: Ärzte und Helfer sollen sich mit ihrem Namen vorstellen und ihre Funktion nennen. Der Patient soll möglichst oft mit seinem (korrekten!) Namen angesprochen werden. Besonders dem älteren Menschen sollen zeitliche und örtliche Orientierungshilfen zur Verfügung stehen. Wichtig ist eine feste Bezugsperson innerhalb des Ärzteteams oder des Pflegepersonals. Alles, was mit dem Patienten geplant ist oder mit ihm unternommen wird, sollte ihm in groben Zügen erklärt werden. Tagtäglich wird gegen die einfachsten Regeln verstoßen: Nicht den Patienten nur gelegentlich ansehen, sondern den EKG-Schreiber, das Sonographiebild oder den Praxiscomputer. Es ist erstaunlich, wie dankbar Patienten reagieren, wenn sie im Krankenhausflur von einem Arzt oder einer Schwester gegrüßt werden, die nicht zu ihrem Behandlungsteam gehören.

Ganz entscheidend ist es, eine möglichst wenig angstinduzierende Sprache zu benutzen. R.S. BLACHER und H.L. LEVINE haben in einer schönen Übersicht (The Language of the Heart) gezeigt, wie viel Ängste alleine durch Begriffe, die das Herz betreffen, induziert werden können: Die Bezeichnung "Herzfehler" induziert nicht selten die Vorstellung eines terminalen Herzversagens, der Begriff "Herzblock" löst die Vorstellung aus, dass der Blutkreislauf verstopft ist, unter "Vorhofflimmern" versteht der Laie möglicherweise ein vollkommen unkoordiniertes Arbeiten des Herzmuskels, der Terminus "gespaltener Herzton" kann dramatische Vorstellungen von Rissen im Herzmuskel erwecken, und ein Patient, der etwas von einem Loch im Herzen hört, sieht möglicherweise das Blut aus diesem lebenswichtigen Organ in die Körperhöhlen entweichen. Unsicherheit und Missverständnisse können durch die häufige Verwendung von Abkürzungen (ZVD, TIA, PRIND usw.) ausgelöst werden. Undurchschaubar wird die Situation für den Patienten, dessen Ärzte bei der Visite nicht zu ihm, sondern über ihn oder sogar mit anderen Patienten sprechen.

Der Patient, der nicht fragen darf, dessen Fragen nicht beantwortet werden, dem Information verweigert wird, der auf Kommunikationshemmnisse nach allen Seiten stößt, wird zwangsläufig mit Angst reagieren. Untersuchungen haben gezeigt, dass beispielsweise die stärkste Belastung in der Intensivmedizin nicht durch den technischen Aufwand, sondern durch Kommunikationsdefizite zustande kommt. Dies begründet eine großzügige Besuchsregelung und ein Miteinbeziehen der Angehörigen in die Betreuung des Kranken. So war beispielsweise der Anstoß,1977 das Wiener Modell "Psychische Betreuung Schwerstkranker" zu entwickeln, eine 17jährige Patientin mit hoher Querschnittslähmung nach einem Kopfsprung in niedriges Wasser: Trotz eines maximalen technischen Aufwandes von einem Lungenschrittmacher bis zum automatisierten Schreibsystem erlebten sich Ärzte und Pflegepersonal hilf- und ratlos und empfanden ein Gefühl passiver Ohnmacht. Als wichtigste positive Maßnahme erwies sich der gezielt organisierte Besuch der Eltern. Diese durften nicht nur regelmäßig kommen, sondern wurden von den Pflegekräften immer dann, wenn es der Patientin besonders schlecht ging, auch nachts verständigt. Erst dadurch gelang es, die Patientin in einen weitgehend angstfreien Zustand zu versetzen (H. BENZER).

Alles, was die äußere und innere Isolierung des Patienten verstärkt, was ihm das Gefühl der Verobjektivierung gibt, wirkt angstinduzierend und sollte soweit als möglich vermieden werden. Moderne Medizin lässt sich nicht ohne einen großen technischen Aufwand betreiben. Die Angst vor der "Apparatemedizin" ist weit verbreitet. Der juristische Druck, eine sehr rigide Aufklärungstechnik zu betreiben, induziert weitere Ängste. Das optimal geführte Aufklärungsgespräch und das einfühlende Vorbereitungsgespräch vor belastenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen können ein starkes Gegengewicht zu diesen weitverbreiteten Quellen der Angst darstellen. Nonverbale Signale (Lächeln, Berührung, Hautkontakt) sind einfache, im Prinzip stets verfügbare und sehr wirksame Instrumente der Angstverhütung. Eine ungezwungene Heiterkeit und sparsam dosierter Humor wirken ebenfalls angstmindernd. Der Witz hingegen ist eine zweischneidige Sache, da er immer ein "Opfer" hat, das auf keinen Fall der Patient sein sollte. Offene Zuwendung, Dasein, Empathie und die Fähigkeit, die individuelle Wirklichkeit des Kranken zu erfassen, sind die besten Garanten einer möglichst angstarmen Medizin. Schließlich sollte der Arzt auch versuchen, seine eigenen Ängste zu erkennen und zu reflektieren. Denn gar nicht selten ist die Angst des Patienten nichts anderes als das Echo auf die Angst des Arztes.



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Ängste erkennen und differenzieren
Obwohl die heutige Medizin reich an vielfältigen Ängsten ist, treten diese nur in der Minderzahl offen zutage. Angst ist immer noch mit dem Etikett des Makels oder der Schande versehen. Daher fällt es manchem Patienten sehr viel leichter, die körperlichen Begleitsymptome seiner Angst zu schildern, als offen zu sagen: "Ich habe Angst". Gerade viele nachts auftretende unangenehme Zustände (Beklemmungen, Luftnot, Herzrasen) sind körperlicher Ausdruck von Angstzuständen. In der Regel werden jedoch die somatischen Symptome in den Vordergrund gestellt. Die behutsam gestellte Frage im weiteren Gesprächsverlauf, ob bei den Erscheinungen auch etwas Angst dabei war, wird dann überraschend oft bejaht. Als nächstes sollte weiter gefragt werden, was wirklich am Anfang der Attacke stand, die Angst oder die körperlichen Erscheinungen.

Ängste kommen sehr häufig eher durch das Verhalten eines Patienten zum Ausdruck als durch seine Worte. Das Ablehnen von diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen ist in einem wesentlich höheren Prozentsatz auf emotionale (Angst) als auf rationale Gründe zurückzuführen. Begünstigt wird ein solches Verhalten durch eine mangelhafte Aufklärungstechnik und die unzureichende Fähigkeit zu motivieren. Viele Complianceprobleme sind in Ängsten (z.B. vor Nebenwirkungen oder der Gewöhnung an das Medikament) begründet. Der sogenannte "schwierige" Patient ist ein typisches Beispiel für hintergründige und damit häufig unerkannte Ängste: der "abhängige" Kranke, der unter Vernachlässigungs- und Trennungsängsten leidet, der "Fordernde", der seine Wertlosigkeitsangst zu kompensieren versucht. Andere Masken der Angst können Alkohol- oder Tablettenabhängigkeit (Tranquilizer) sein. Immer, wenn ein Patient sich scheinbar uneinfühlbar, irrational, ablehnend, "unbequem" verhält, sollte die erste Überlegung dahingehen, ob sein Verhalten nicht durch unausgesprochene oder unbewusste Ängste bestimmt ist.

Der nächste Schritt muss eine Differenzierung der Angst sein: Handelt es sich um Ängste, die eher im Sinne einer Furcht eine verständliche und angemessene, das heißt "normale" Angst bedeuten? Ist die Angst organisch bedingt? Beruhen die Ängste auf Missverständnissen? Sind sie eine Reaktion auf die Krankheit selbst, das Verhalten des Arztes oder der Umgebung? Handelt es sich um neurotische oder psychotische Ängste? Ist die Angst Ausdruck einer Depression? Eine Differenzierungshilfe bei den klinischen Angstsyndromen bietet das folgende diagnostische Flussdiagramm von F. STRIAN.

Abb.: Diagnostisches Flussdiagramm zur Differenzierung von Angstsyndromen (F. STRIAN)



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Ängste annehmen und abbauen
Zunächst ist es ganz entscheidend, den Patienten mit seiner Angst anzunehmen. Übersehen, Beiseiteschieben oder Herunterspielen seiner Ängste führt in einem Circulus vitiosus zu einer weiteren Verstärkung der Angst. Der Patient muss wissen, dass er Angst haben darf und dass seine Angst nicht mit Schwäche, Versagen oder Schande gleichzusetzen ist. Dazu ist es notwendig, die Angst behutsam, aber offen anzusprechen. Durch das Aussprechen der Angst erkennt der Patient, dass der Arzt seine Angst registriert hat und bereit ist, auf sie einzugehen, und dass er mit seiner Angst nicht alleine dasteht. Es ist im allgemeinen wenig aussichtsreich, zu versuchen, jemandem seine Angst "auszureden" ("Sie brauchen aber wirklich keine Angst zu haben"). Zunächst kann es bereits hilfreich sein, im Sinne der Metakommunikation darüber zu sprechen, welche Ängste den Patienten bewegen. Ein wirksames Vorgehen besteht ferner darin, dem Patienten die Entstehung der Angst zu erklären und ihm zu versichern, dass unter den gegebenen Umständen eine Angst eine verständliche und adäquate Empfindung darstellt ("Ich kann durchaus verstehen, dass Sie bei dem Gedanken an ... Angst verspüren müssen"). Es ist auch günstiger, Ängste und Befürchtungen zu Ende denken zu lassen, als sie vorzeitig abzublocken. Angstinhalte, die verbalisiert sind, sind einer rationalen Bewältigung eher zugänglich. Besonders wichtig ist es, in Situationen, die mit starker Angst besetzt sind und gleichzeitig erhebliche Kommunikationsbarrieren beinhalten (Intensivstation!), alle verbalen und nonverbalen Möglichkeiten der Kommunikation auszuschöpfen.

Angstfreiheit erreichen zu wollen kann nicht das vorrangige Gesprächsziel sein. Einmal wäre dieses Ziel für die meisten zur Bewältigung der Angst illusionär. Ferner ist ein bestimmter Grundpegel an "natürlicher Angst" in vielen Situationen ein wirksamer Schutzmechanismus, beispielsweise vor Operationen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Patienten, die vor einer Operation so gut wie keine Angst aufweisen, postoperativ ungünstigere Verläufe haben als Patienten mit einer "normalen" präoperativen Angst. Das entscheidende Gesprächsziel ist vielmehr, Hilfen zu bieten, dass der Patient selbst Möglichkeiten findet, mit seiner Angst umzugehen, so dass er nicht die Angst ihn, sondern seine Angst beherrscht.

Beim todkranken und sterbenden Patienten kann die Erkennung der Angst besonders schwierig sein. Vielleicht dringt sie nur in Gestalt ihrer Abwehrmechanismen nach außen, so dass der Arzt mit der Angst seines Patienten sehr viel mehr durch das ganze Spektrum der Abwehrphänomene (Verleugnung, Rationalisierung, Vermeidung, Projektion usw.) konfrontiert wird als durch das offene Angst-Eingeständnis. Da die Abwehrmechanismen eine gewisse Kontrolle und Bewältigung der Angst ermöglichen, sollten sie zwar als Signale der Angst erfasst, nicht aber durchbrochen werden. Allerdings gelingt eine vollkommene Kontrolle der Angst in der Regel nicht, so dass ein Anteil an unkontrollierter frei flottierender Angst übrig bleibt, die dann in den Behandlungsplan einbezogen werden sollte. Die teilweise schweren Ängste des Depressiven bedürfen natürlich ebenfalls der Annahme im Gespräch, sind aber durch Gespräche selbst kaum zu bewältigen, sondern am wirksamsten durch eine antidepressive Pharmakotherapie zu dämpfen. Neurotische, insbesondere aber psychotische Ängste erfordern in der Regel eine psychiatrische Behandlung.

Die letzten Ängste, die den Menschen bewegen können, wenn ihn seine Krankheit unausweichlich seinem Tode näher bringt, werden allerdings vielleicht nur aus Zuversicht zu bewältigen sein, dass es nach dem Tode jene wirklich "Neue Welt" gibt, wo "ich ohne Angst ich selber sein darf ..." (H. KÜNG).
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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