Vortrag vom 26.06.2004 anlässlich
des 2. Kongresses "Qualitätssicherung in ärztlicher Hand zum
Wohle der Patienten" in Düsseldorf. Veranstaltet vom "Institut
für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein Westfalen" (IQN)
Das Arzt-Patient-Gespräch als Instrument
der Qualitätssicherung
Linus S. Geisler
Der weltberühmte Kardiologe
Bernard Lown schreibt in seinem Buch "Die verlorene Kunst des Heilens",
die für ihn denkwürdigste Beschreibung einer guten Arzt-Patient-Beziehung
stamme von einer einfachen sibirischen Ärztin. Sie habe ihm gesagt:
"Jedes Mal, wenn ein Arzt einen Patienten sieht, sollte sich der Patient
anschließend besser fühlen." [1] Ich möchte ergänzen:
Idealerweise sollten sich beide besser fühlen.
Das klingt problemlos und
könnte zu der Annahme verleiten, dieser Zustand gegenseitiger Übereinstimmung,
sei mit einfachen Mitteln zu erreichen. In Wirklichkeit ist er das Resultat
eines hochkomplexen Geschehens, das auf einem fundamentalen Prozess beruht:
auf einem Kommunikationsgeschehen, in dem sich beide, Arzt und Patient,
mit ihren spezifischen Wirklichkeiten wieder finden können.
Arztsein - ein sprechender
Beruf
Arztsein ist ein sprechender
Beruf. Welche Kenntnisse, Fähigkeiten oder speziellen Qualitäten
und Begabungen ein Arzt auch haben mag, erst im Gespräch mit seinem
Patienten erhalten sie Gewicht, werden sie in die klinische Tätigkeit
umsetzbar, können sie nützliche Wirkung entfalten. Und was nicht
weniger zählt, das gute Arzt-Patient-Gespräch ist der Garant
für die Achtung der Selbstbestimmung des Kranken ohne dass die Fürsorge
für ihn zu kurz kommt, für das Prinzip des Nichtschadens und
der Gerechtigkeit, also für die ethischen Grundprinzipien in der Medizin
[2].
Arztsein ist ein sprechender
Beruf. Ein niedergelassener Arzt verbringt 60 bis 80 Prozent, ein Klinikarzt
40 bis 50 Prozent seiner täglichen Arbeitszeit im Gespräch mit
seinen Patienten. Die Zahl der Patientengespräche kann sich so im
Laufe eines ärztlichen Berufslebens auf bis zu 200.000 summieren [3].
Die unbestrittene Priorität,
die der Kommunikation in der Medizin zukommt, wird durch Patientenbefragungen
immer wieder bestätigt. Alle repräsentativen Patientenbefragungen
nach dem Wesen des idealen Arztes aus den USA, England, Österreich
oder Deutschland kommen zu deckungsgleichen Resultaten: Patienten wünschen
sich in erster Linie, dass der Arzt mit ihnen spricht, ihnen zuhört
und Interesse für sie zeigt. Medizinische Kompetenz und apparative
Ausstattung rangieren dahinter im Mittelfeld [4 ].
In einer groß angelegten Studie in Deutschland (1999) wünschten
sich 92 Prozent der befragten Patienten, das Gespräch zwischen Arzt
und Patient solle stärker in den Vordergrund rücken. Eine Befragung
von 824 Patienten in ärztlichen Praxen in England (2001) ergab, dass
88 Prozent vor allem das Gespräch mit ihrem Arzt suchten, nur jeder
Vierte wollte ein Rezept [5 ].
Die Akademie für Technikfolgenabschätzung
in Baden-Württemberg konnte in einer Studie über Patientensouveränität
zeigen, dass der Wunsch nach umfassender und verständlicher Information
von 93% aller befragten Patienten als "sehr wichtig" eingestuft wird. Allerdings
entsprechen weniger als 30 Prozent der Ärzte diesem Patientenwunsch
nach Information [6].
Sprache wirkt
Natürlich ist die Frage
berechtigt, ob ein gelungenes Gespräch zwischen Arzt und Patient auch
zu fassbaren nützlichen Effekten im klinischen Alltag führt.
Dies ist eindeutig der Fall. Die positiven Effekte einer guten Kommunikation
zwischen Arzt und Patient sind mittlerweile vielfach wissenschaftlich belegt.
Zelda Di Blasi und ihre Kollegen
von der Universität York in Großbritannien konnten in einer
Untersuchung 2001 an 3611 Patienten mit überwiegend körperlichen
Erkrankungen zeigen, dass eine warmherzige, freundliche und angstnehmende
Zuwendung den Krankheitsverlauf - unabhängig von der sonstigen Behandlung
- eindeutig verkürzen und die Nebenwirkungsquote verringern kann [7].
In einer kanadischen Untersuchung
(S.R. Harris und E. Templeton, 2001) wurden Frauen mit Brustkrebs befragt,
welches Verhalten ihres Arztes zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose am hilfreichsten
gewesen sei. Die häufigste Antwort lautete: seine Fähigkeit mir
zuzuhören [8].
Umgekehrt steht ebenso fest,
dass schlechte Kommunikation sich negativ auf den Krankheitsprozess auswirkt.
Eine große prospektive Untersuchung des Tumorzentrums München
(2003) an 1131 Brustkrebs-Patientinnen ergab, dass die Frauen, die eine
schlechte Kommunikation beklagten, eine signifikant schlechtere Lebensqualität
aufwiesen [9].
Gelungene Kommunikation
dient auch dem eigenen Befinden
Vielen Ärzten ist jedoch
nicht bewusst, dass eine gute kommunikative Kompetenz nicht nur die Zufriedenheit
ihrer
Patienten
erhöht, sondern auch ihre eigene. Das liegt unter anderem daran,
dass gut geschulte Ärzte fähig sind:
-
die Probleme ihrer Patienten
genauer zu identifizieren,
-
wodurch es ihren Patienten wiederum
besser gelingt, sich psychologisch an die Krankheitssituation zu adaptieren,
-
was schließlich zu einer
größeren Zufriedenheit mit der Behandlung und Betreuung führt.
Es ist erwiesen, dass für
Ärzte mit hoher Gesprächsführungskompetenz:
-
die subjektive Belastung
durch
die Krankheit ihrer Patienten geringer ist,
-
die Stressbelastung durch
den Beruf als niedriger empfunden wird,
-
die berufliche Zufriedenheit
wächst
und
-
die Neigung zu Depressionen,
Ängsten und Suizidalität (die bei Ärzten überdurchschnittlich
hoch ist) abnimmt [10 ].
Kommunikation im ärztlichen
Alltag
Analysiert man die klinische
Realität der Arzt-Patient-Kommunikation, kann man allerdings nicht
selten den Eindruck gewinnen, dass zwei Fremde in jeweils fremder Sprache
miteinander reden:
-
Die Hälfte der Beschwerden
des
Patienten kommen nicht zur Sprache
-
Oft erhalten Ärzte nur
wenig
Auskunft
über die Bedeutung der Erkrankung für den
Betroffenen
und ihre emotionalen und sozialen Folgen [11]
-
Weniger als die Hälfte
der psychosozialen Probleme und psychischen Störungen des Patienten
werden
erkannt
-
Arzt und Patient stimmen in
mehr
als der Hälfte der Fälle nicht über das hauptsächliche
Gesundheitsproblem des Patienten überein [12]
Im übrigen ist nachgewiesen,
dass Deutschland hinsichtlich der ärztlichen Gesprächsdauer in
Europa das Schlusslicht bildet. Die durchschnittliche Gesprächsdauer
in der Praxis beträgt in der Schweiz 15,6 min, in den Niederlanden
10,2 und in Deutschland 7,6 min [13 ].
In Analysen von Visitengesprächen
wird immer wieder beeindruckend deutlich, wie sehr Patienten und ihre Ärzte
in verschiedenen Perspektiven denken und in verschiedenen Welten leben.
Dieses Auseinanderklaffen der Wirklichkeiten von Arzt und Patient wird
bereits deutlich, wenn man die jeweils vom Arzt bzw. vom Patienten eingebrachten
Themen betrachtet:
Tabelle 1. Rangfolge
der Mittelwerte vom Arzt eingebrachter Themen (Westphale u. Köhle
[14])
Thema |
absolut |
prozentual |
Therapie |
1,35 |
_21,9 |
Diagnose |
1,33 |
_21,6 |
Untersuchungsergebnisse |
0,89 |
_14,4 |
körperliches
Befinden |
0,73 |
_11,8 |
Krankheitsverhalten |
0,71 |
_11,5 |
Krankheitserleben |
0,51 |
__8,3 |
Sonstiges |
0,50 |
__8,1 |
psychisches
Befinden |
0,19 |
__2,4 |
Summe
Themen |
6,17 |
100,0 |
Tabelle 2. Rangfolge
der Mittelwerte vom Patient eingebrachter Themen (Westphale u. Köhle)
Thema |
absolut |
prozentual |
Krankheitserleben |
0,73 |
_24,8 |
Diagnose |
0,54 |
_18,3 |
Krankheitsverhalten |
0,48 |
_16,3 |
Therapie |
0,47 |
_15,9 |
körperliches
Befinden |
0,32 |
_10,9 |
Untersuchungsergebnisse |
0,23 |
__7,8 |
Sonstiges |
0,13 |
__4,4 |
psychisches
Befinden |
0,05 |
__1,7 |
Summe
Themen |
2,95 |
100,1 |
Die Gegenüberstellung zeigt,
dass für den Arzt die sog. objektiven Kriterien der Krankheit
den thematisch größten Anteil an der Visite ausmachen, während
quasi spiegelbildlich dazu das Interesse des Patienten von seinem Krankheitserleben
dominiert wird.
Kommunikation - der Stoff
aus dem die Arzt-Patient-Beziehung lebt
Dieses Auseinanderklaffen
der Sichtweisen von Arzt und Patient ist einer der stärksten, oft
aber konkret gar nicht wahrgenommenen Hinderungsgründe für das
Zustandekommen einer fruchtbaren, qualitativ hoch stehenden, Beziehung
zwischen Arzt und Patient.
Die Lösung dieses Dilemmas
muss darin bestehen, dass der Arzt versucht, eine gemeinsame Wirklichkeit
mit seinem Patienten aufzubauen. Dieser Erweiterung seiner Wirklichkeit
setzt der Patient nicht selten erheblichen Widerstand entgegen. Im gelungenen
Arzt-Patient-Gespräch geht es allerdings nicht nur darum, dass beide
sich verstehen. Aufgabe des Arztes ist es vielmehr, seine Beziehung vom
Anderen her so zu gestalten, dass dieser sich selbst besser versteht
[15].
Kommunikative Beziehungen
sind der Stoff aus dem die Arzt-Patient-Beziehung lebt und die ihren "Kammerton",
genauer gesagt ihre Qualität bestimmen. Es herrscht Einigkeit, dass
in der Alltagspraxis erhebliche kommunikative Defizite bestehen, die häufig
von ärztlicher Seite nicht direkt realisiert werden [16 ].
Kommunikationsstörungen
und -defizite im Arzt-Patient-Gespräch führen jedoch nachweislich
zu einer Reihe unerwünschter Effekte, die durchweg die Arzt-Patient-Beziehung
direkt oder indirekt beeinflussen:
-
Mangelhafte Compliance,
-
gestörtes Vertrauensverhältnis
[17 ],
-
schließlich Bruch der
Arzt-Patient-Beziehung und Arztwechsel [18 ].
Medizinstudium: viel
Wissen, wenig psychosoziale Kompetenz?
Ein wesentlicher Grund für
die kommunikative Inkompetenz nicht weniger Ärzte ist eine defizitäre
Ausbildung mit zunehmender Tendenz, ein Mangel der häufig von den
Studierenden selbst erkannt und beklagt wird [19 ].
Ärzte werden ja nicht
geboren, um als unsensible Biotechniker ihren Beruf zu betreiben. Im Gegenteil:
Eine Studie von Guido Schmiemann an der Universität Göttingen
an 700 Medizinstudenten hat gezeigt, dass die meisten Studenten zu Beginn
des Studiums stark an der psychosozialen Situation der Patienten interessiert
sind. Reziprok zur Zunahme an "biologischem Wissen" kommt es dann allerdings
im Verlauf des Studiums zu einem ansteigenden Verlust an kommunikativer
und psychosozialer Kompetenz [20 ].
Das Medizinstudium erzieht
zu so genannter "wissenschaftlicher Objektivität". Es ist somatisch-,
fakten- und leistungsorientiert. Anstatt für die Wichtigkeit kommunikativer
Prozesse zu sensibilisieren, stellt es eher ein "konsequentes Desensibilisierungsprogramm"
gegenüber kommunikativen Prozessen und der psychosozialen Wirklichkeit
von Patienten dar (Helmich 1991 [21]).
Kommunikative Kompetenz wird
im Studium kaum gelehrt. Trotz exponentiell wachsender ethischer Probleme
in der Medizin werden ethische Grundbegriffe kaum oder nur unzureichend
vermittelt. Das Studium wird nicht selten als altmodischer Frontalunterricht
praktiziert, patientenfern, theoretisch überfrachtet, in unzusammenhängende
Fächer gesplittet.
Die Herangehensweise an Krankheitsbilder
orientiert sich am unsäglichen Multiple-Choice-Fragenkatalog des Staatsexamens,
der lediglich unzusammenhängenden Wissenserwerb und passive Wissensreproduktion
zulässt (bundeseinheitlich 870 MC-Fragen [22]).
Damit ist ein fataler Teufelskreis
vorgegeben: Der angehende Arzt gerät in einen klinischen Alltag, der
die Richtigkeit dieser Ausbildung zu bestätigen scheint und von ihm
kaum kommunikative Kompetenz erwartet. Wie sollte er fähig sein, seine
defizitäre
Sicht auf den kranken Menschen wahrnehmen zu können? Rationalisierungszwänge
und ökonomische Pressionen bestärken ihn weiter in seinem Verhalten
und üben eine subtile systemstabilisierende Funktion aus. Diese wiederum
schlägt zurück auf das Ausbildungssystem und erklärt dessen
unglaubliche Rigidität und Resistenz gegenüber wirklich tief
greifenden Reformen.
Insbesondere Berufsanfänger
und jüngere Ärzte erleben die Ökonomisierung ihres Berufs
als enttäuschend und traumatisch. Als "Geschichtenerzähler oder
Jongleur" komme sie sich vor, schreibt eine junge Kollegin, wenn sie statt
Patienten zu betreuen, am Computer die für das Haus kostenträchtigste
Hauptdiagnose zu finden versuche. "Nicht selten behandele ich nur Diagnosen
auf dem Papier - und erreiche dabei gar nicht den Menschen" klagt ein Berliner
Assistenzarzt [23].
Der fragmentierte Patient
Bestimmte weit verbreitete
Herangehensweisen an den Patienten, die unter dem Druck ökonomischer
Zwänge - und oft nur vermeintlichem Zeitmangel - in quasi ritualisierter
Form vor allem im klinischen Bereich etabliert sind, erweisen sich bei
genauerem Hinsehen nicht nur als menschlich fragwürdig, sondern in
hohem Maße als ineffizient und hinsichtlich von Qualitätsbildung
und Qualitätssicherung in der Medizin als kontraproduktiv.
Ich meine jene Form der Arzt-Patient-Beziehung
- wenn man sie überhaupt "Beziehung" nennen kann - die Walter Böker
mit dem Begriff des "fragmentierten Patienten" beschrieben hat [24 ].
Die konventionelle Gesprächstechnik
in der Medizin ist immer weniger auf eine ganzheitliche Beschwerdenerfassung
ausgerichtet. Vielmehr zerlegt sie die Patientenäußerungen in
Einzelbeschwerden
und blendet gleichzeitig das Selbstbild des Kranken, seine
Deutung und Auslegung der Krankheit aus.
Die auf dieser Grundlage
in Gang gesetzte, oft rational nicht begründbare, umfangreiche Diagnostik
liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das Leiden des
Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben.
"Die Grundmelodie menschlichen Leidens wird mehr und mehr übertönt
vom 'Rauschen der Daten'" (Walter Böker).
Die Wahrnehmung des Kranken
erfolgt dann nur noch in Teilaspekten, nämlich als fragmentierter
Patient. Jetzt ist der Patient dort, wo er scheinbar am ökonomischsten
behandelbar ist: im "Kerngeschäft" des Klinikbetriebes. Nun ist er
institutionell wahrnehmbar und verfügbar. Die klare und einfühlsame
Befundvermittlung,
auf die der Patient dringend wartet und absoluten Anspruch hat, tritt weit
zurück hinter die Datensammlung, die manchmal nicht mehr als ein Datenfriedhof
ist. Der Kranke ist zum passiven, duldenden Objekt geworden.
Am Zeitbudget des
Arztes, das ja in der Regel weitgehend festgelegt ist, zehren solche Befunderhebungstechniken
überproportional. Die Formalisierung und Verknappung des Gesprächsanteils
erfolgt dann quasi reflektorisch, ist aber letztlich der falsche Ansatz
zur Ökonomisierung ärztlichen Handelns. Das Gespräch als
"betriebswirtschaftlicher Luxus" wird Opfer missverstandener "Sparmaßnahmen".
Wer lange genug solch ein
Herangehen an den Patienten praktiziert, wird als Arzt allmählich
selbst
Opfer dieser Wahrnehmungsverzerrung. Er verlernt, dass zum Aufbau einer
stabilen und effektiven Arzt-Patient-Beziehung eine Abfolge von bestimmten
Annäherungen erforderlich ist:
-
Zunächst das Hinzutreten
an den Kranken zur Erhebung der Anamnese, körperlichen Untersuchung
und Gewinnung technischer Befunde.
-
Dann ein Zurücktreten,
um in einer Synopsis den Kranken ganzheitlich und nicht fragmentiert zu
erfassen.
-
Schließlich eine neuerliche
Zuwendung, um die Befunde zu übermitteln, eine Annäherung
der Wirklichkeiten zu versuchen und in einem partnerschaftlichen Ansatz
Übereinkunft über die Therapie zu erzielen (Böker).
Der nur "Bruchstücke",
also Fragmente sammelnde Arzt verliert zunehmend die Fähigkeit, Befunde
in einem der Individualität des Kranken entsprechenden Zusammenhang
zu bringen, "Übersetzer" für den Kranken zu werden, ihn als leidende
Person wahrzunehmen. Schließlich wird er zum "fragmentierten" Arzt.
Was dann als ökonomisch
verträgliche Medizin erscheint, ist in Wahrheit ärztlich und
menschlich eine Bankrotterklärung. Genau das ist das Gegenteil eines
qualifizierten Umgangs von Arzt und Patient.
Arzt und Patient als Experten
Das in den USA und zunehmend
auch bei uns favorisierte Modell des "Shared Decision Making" stellt einen
völlig anderen Ansatz dar [25]. Es versetzt in einem schrittweisen
Informations-, Diskurs- und Vertrauensbildungsprozess Patient und Arzt
in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren und zu erreichen.
Um zu einer shared decision
zu kommen, müssen sich Patient und Arzt Wissen und Wertvorstellungen
gegenseitig mitteilen. Ein wichtiger Aspekt des ärztlichen Gesprächs
beim shared decision making besteht darin, dem Patienten zu helfen seine
Wertvorstellungen, Präferenzen und Wünsche zu konkretisieren
und zu artikulieren. Der Arzt wiederum informiert in einer für den
Patienten angemessenen Weise über die fachlichen Hintergründe.
Der Arzt bleibt Experte für das Wissen, der Patient wird als Experte
für seine Präferenzen anerkannt. Eine Therapieentscheidung wird
zwischen beiden "Experten" einvernehmlich gesucht, die Verantwortung wird
geteilt [26].
In diesem Modell steht das
Dialogische der Arzt-Patient-Beziehung ganz im Mittelpunkt. Dieses vermag
nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus sozialethischer und ökonomischer
Sicht Wesentliches zu leisten. Hier wird der Kranke nicht fragmentiert,
sondern in eine fruchtbare partnerschaftliche Beziehung eingebunden. Shared
decision making eignet sich vor allem für chronische Krankheitsprozesse
bei entscheidungsfähigen Patienten.
Totschlagargument "Zeitnot"
Ärzte sind fast immer
bereit, den hohen Stellenwert des Arzt-Patient-Gesprächs anzuerkennen,
beklagen aber ebenso regelhaft, dass dafür im ärztlichen Alltag
nicht genügend Zeit vorhanden sei. Eine junge Berliner Kollegin, die
ihren Chef um Rat bat, weil sie befürchtete, mit ihrer Arbeit nicht
zurande zu kommen, erhielt die knappe Empfehlung: "Dann reden Sie einfach
etwas weniger mit Ihren Patienten."
Dabei ist erwiesen, dass
sich eine ausreichende Zeitinvestition, vor allem im Erst-Interview, "rechnet"
:
-
es entfallen viele zusätzliche
Kurzgespräche
-
eine patientengerechtere und
gezieltere Behandlung wird möglich
-
viele diagnostische und therapeutische
Umwege und Sackgassen können vermieden werden (verkürzte Verweildauer)
-
die beruflichen Anforderungen
werden reduziert und
-
Kosten im Gesundheitswesen gesenkt
[27 ]
Qualitätssicherung in
der Medizin durch das Gespräch
Arztsein ist ein sprechender
Beruf. Das gelungene Arzt-Patient-Gespräch ist ein qualitätssicherndes
Element erster Ordnung. Ohne den Arzt der befähigt ist sein wichtigstes
Werkzeug, die Sprache, ebenso einfühlend wie überzeugend einzusetzen,
ist Qualitätssicherung in der Medizin nur unzulänglich zu erreichen.
Der sprechende Arzt ist der
Garant für eine qualitativ hoch stehende Medizin.
Literatur:
[1] Lown, B.: Die verlorene
Kunst des Heilens. Schattauer, Stuttgart New York. 2002. S. 103
[2] Beauchamp TL, Childress
JF. Principles of Biomedical Ethics. 5th ed (Hrsg). Oxford University Press.
New York, 2001
[3] Stein, R.: Gespräch
in der Sprechstunde vernachlässigt. Frankfurter Allgemeine Zeitung,
06.12.2000, Nr. 284, S. N 3
[4] Geisler, L.: Arzt und
Patient - Begegnung im Gespräch. 4. Auflage, pmi AG. Verlag Frankfurt/Main.
2002.
URL: http://www.linus-geisler.de/monografien/monograf.html
[5] Little, P, Everitt H,
Williamson J, Warner G, Moore M, Gould C, Ferrier K, Payne Sh: Preferences
of Patients for Patient centred approach to consultation in primary care:
observational study. BMJ 2001; 322:468-472 (24 February).
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/322/7284/468.pdf
[6] Dierks, M. L. et al.:
Patientensouveränität - Der autonome Patient im Mittelpunkt.
Arbeitsbericht Nr. 195 der Akademie für Technikfolgenabschätzung
in Baden-Württemberg. Stuttgart. 2001.
[7] Di Blasi Z, Harkness
E, Ernst E, Georgiou A, Kleijnen J: Influence of Context Effects on Health
Outcomes: A Systematic Review. The Lancet 357 (2001): 757-762.
[8] Harris SR, Templeton
E: Who’s Listening? Experiences of Women with Breast Cancer in
Communicating with Physicians. Breast J 2001 Nov-Dec; 7(6): 444-9
[9] Kerr, J, Engel J, Schlesinger-Raab
A, Sauer H, Hölzel D: Communication, quality of life and age: results
of a 5-year prospective study in breast cancer patients. Annals of Oncology
14: 421-427, 2003.
[10] Maguire, P., C. Piceathly:
Key communication skills and how to acquire them. BMJ 325, 2002, S. 697-700.
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/325/7366/697.pdf
[11] Maguire P, C Pitceathly:
aaO [10]
[12] Buddeberg C, Willi J,
(Hrsg): Psychosoziale Medizin, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New
York 1998.
[13] Deveugele, M, Derese
A, van den BrinkMuinen A, Bensing J, De Maeseneer D: Consultation
length in general practice: cross sectional study in six European countries.
BMJ, 325, 31. August 2002. S. 1-6.
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/325/7362/472.pdf
[14] Westphale, C., K. Köhle:
Gesprächssituation und Informationsaustausch während der Visite
auf einer internistisch-psychosomatischen Krankenstation. In: Köhle,
K., H.-H. Raspe (Hrsg.): Das Gespräch während der ärztlichen
Visite. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore, 1982.
[15] Dörner, K.: Der
gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart. 2001.
S. 83
[16] Geisler, L.S.: Sprachlose
Medizin? Imago Hominis, 1997, IV(1).
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/97imagohominis_sprachlose.html
[17] Goedhuys, J. & Rethan,
J. J.: On the relationship between the efficiency and the quality of the
consultation. A validity study. Family Practice, 2001, 18(6), S. 592-596.
Abstract-URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/htbin-post/Entrez/query_old?uid=11739343&form=6&db=m&Dopt=b
[18] Keating N. L. et al.:
How are patient’s specific ambulatory experiences related to
trust, satisfaction, and considering changing physicians? Journal of general
internal medicine: official journal of the Society for Research and Education
in Primary Care Internal Medicine, 2002, 17(1), S. 29-39.
Abstract-URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/htbin-post/Entrez/query_old?uid=11903773&form=6&db=m&Dopt=b
[19] Andres, M.-S., Gaide,
P.: Kein Fleisch, kein Blut. Medizinstudenten klagen über zu wenig
Praxis während der Ausbildung. Die Zeit, 52/2001, 19. Dezember 2001.
URL: http://www.zeit.de/2001/52/Hochschule/200152_c-med-caseport.html
[20] Ärzte Zeitung,
30.05.2001: Studium: Patientengespräche immer unwichtiger.
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2001/05/30/099a2004.asp?nproductid=1653&narticleid=162757
[21] Helmich, P. et al.:
Psychosoziale Kompetenz in der ärztlichen Primärversorgung. Springer
Verlag. Heidelberg. 1991. S. 123
[22] Clade, H: Reform des
Medizinstudiums: Ein langer Weg. Deutsches Ärzteblatt 99, Heft 18,
03.05.03. Seite A -1189.
[23] Müller-Schubert,
A.: Ökonomisierung des Arztberufes. Berliner Ärzteheft 07/2002.
[24] Böker, W.: Arzt-Patient-Beziehung:
Der fragmentierte Patient. Deutsches Ärzteblatt 100, 06.01.2003, S.
A-24
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=35041
[25] Charles C, Gafni A,
Whelan T.: Shared decision-making in the medical encounter: what does it
mean? (or it takes at least two to tango). Soc Sci Med 1997; 44:681-692
[26] Büchi M, Bachmann
L M, Fischer J E, Peltenburg M, Steurer J: Alle Macht den Patienten? Vom
ärztlichen Paternalismus zum Shared Decision Making. Schweizerische
Ärztezeitung. 2000; 81: Nr. 49, 2776-2780
[27] Lalouschek, J.: Ärztliche
Gesprächsausbildung. Radolfzell. 2002
URL: http://www.verlag-gespraechsforschung.de/lalouschek.htm
|
|
Linus S. Geisler: Das Arzt-Patient-Gespräch
als Instrument der Qualitätssicherung |
Vortrag vom 26.06.2004 anlässlich
des 2. Kongresses "Qualitätssicherung in ärztlicher Hand zum
Wohle der Patienten" in Düsseldorf. Veranstaltet vom "Institut für
Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein Westfalen" (IQN) |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0406arzt-patient-gespraech_qualitaetssicherung.html |
|