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GENTECHNOLOGIE - Einführung in die Thematik [1]

Linus S. Geisler
Gentechnologie als Leitwissenschaft

Die Gentechnologie ist die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts - und gilt als Schlüsselindustrie. Sie berührt nahezu alle unsere Lebensbereiche. Aber es ist wenig wahrscheinlich, dass sie auch für alle Erwartungen Lösungen bieten kann. Dies wäre nicht einmal erwünscht. Denn es wird immer einen wesentlichen Kern an Problemen geben, die vorzugsweise mit gesellschaftlichen Mitteln und nicht mit technologischen Eingriffen gelöst werden sollten.

Mit der Gentechnologie betreten wir Neuland: medizinisch, ethisch und rechtlich. Sie konfrontiert uns mit ganz neuen Verantwortungen und zugleich mit der Tatsache, dass es (noch) keine allgemeingültigen Modelle für die Problemlösungen der Biotechnologie und Gen-Medizin gibt. 

Gemessen an den neuen Technologien, erscheinen unsere Gesetze häufig als nicht mehr adäquat. Typisches Beispiel ist das Embryonenschutzgesetz, anscheinend ein Hemmschuh für neue Techniken der Fortpflanzungsmedizin wie PID oder für die Forschung an menschlichen Embryonen. Der Ruf nach Anpassung der Gesetzeslage an den reellen oder vermeintlichen Fortschritt wird dann schnell laut.

Gentechnologie ist langfristig angelegt

Aber Biotechnologie ist komplex und langfristig angelegt. Sie rechnet in Jahrzehnten. Bereits im Oktober 1979 wurde die Förderung der Biotechnologien zum ersten Mal von einer deutschen Bundesregierung in einem Haushaltsplan festgelegt. Die Erfolgsbilanz ist heute, gemessen an den Erwartungen und Prophezeiungen, vergleichsweise mager. 1982 wurde das erste Medikament - Humaninsulin - genetisch hergestellt. Inzwischen sind einige wenige Dutzend dazugekommen. Seit 1990 wird die somatische Gentherapie am Menschen erprobt. Bisher sind rund 4000 Kranke behandelt worden. Ein eindeutiger Beweis, dass somatische Gentherapie einen echten therapeutischen Nutzen besitzt, ist aber bisher nicht erbracht worden (S. Nikol, M. Hallek [2]). Belastet ist sie jedoch durch den tragischen Tod des 18jährigen Jesse Gelsinger im Rahmen einer klinischen Studie.

Stammzellforscher räumen ein, dass alleine die Standardisierung menschlicher embryonaler Stammzellen fünf bis zehn Jahre in Anspruch nehmen könnte, bevor noch an irgendeinen therapeutischen Ansatz beim Menschen zu denken ist. Angesichts dieser Dynamik der Gen-Medizin erscheint für politische Entscheidungen Gelassenheit, statt Hektik angebracht. Forschungsattribute wie "hochrangig" und "alternativlos" bedürfen einer besonders kritischen Prüfung.

Visionen und Utopien

Visionen sind der Nährboden jeder Wissenschaft. Dies ist legitim. Auch dass Wissenschaft mit Überhöhungen ihres Gegenstandes zur Metapher operiert. Die DNA, der "Faden, an dem unser Leben hängt" wird zur Ikone stilisiert (Titelseite des Forschungsmagazins der Firma Bayer, Ausgabe 4). Gene enthalten danach den Schlüssel zu allem: zu Krankheit und Gesundheit, zum Altern und zu ewiger Jugend, zum Tod und zur Unsterblichkeit. Wer die Gene ändern kann, so die Folgerung, braucht nicht mehr die Gesellschaft zu verändern.

Hier setzen tiefgreifende Umdeutungen der Grundlagen des menschlichen Seins ein: Eine Genetisierung der menschlichen Existenz, die sich um anthropologische, kulturelle und religiöse Wurzeln nicht mehr schert. Hier greift der "Köder der Utopie" (Hans Jonas) und - hier beginnt ein fragwürdiger Umgang mit den Adressaten der Biomedizin, den kranken Menschen. 

Wer sich mit Gentechnologen offen austauscht, weiß, dass Verheißungen, wie z.B. die Züchtung ganzer Organe aus Stammzellen oder die Heilung diffuser Erkrankungen des Gehirns, wie z.B. Alzheimersche Krankheit durch Stammzellen nach heutigem Wissensstand utopische Ziele darstellen.

Grundlagen der Biopolitik können aber nicht Anpreisungen oder nicht einlösbare Verheißungen sein. Für eine rechtliche und ethische Bewertung greift die Forscherperspektive zu kurz.

Stammzellforschung

Die Stammzellforschung, befindet sich in ihren wesentlichen Anwendungsoptionen noch im Stadium der Grundlagenforschung an Tiermodellen und ist meilenweit vom klinischen-therapeutischen Einsatz entfernt. Weltweit existieren 3 Publikationen über menschliche embryonale Stammzellen [3]. Die Einlassung, für die Stammzellforschung generell sei Forschung an menschlichen Embryonen und embryonalen Stammzellen alternativlos, ist nicht schlüssig belegt. Dies war auch das Ergebnis des von der SPD-Arbeitsgruppe der Enquete im Februar veranstalteten öffentlichen Streitgesprächs zu "Alternativen zur embryonalen Stammzellforschung“ [4].

Es wäre ein Gebot der Klugheit und zugleich ethisch unbedenklich, die Stammzellforschung auf jene Felder zu fokussieren, die ohne Embryonenverbrauch oder Verwendung totipotenter Zellen, auskommen, d.h. vorrangig auf die Forschung mit adulten Stammzellen.

Präimplantationsdiagnostik (PID)

Überlegungen zur PID müssen davon ausgehen, dass 

  • hier der Wunsch nach einem genetisch eigenen und genetisch gesunden Kind eines nicht unfruchtbaren Paares abzuwägen ist mit der Selektion und Vernichtung von unerwünschten Embryonen, 
  • dass es sich um keinen Heilauftrag und keinen therapeutischen Vorgang handelt, denn einen "Patienten" gibt es bei der PID nicht, 
  • dass PID bestenfalls einem Kind, das eine dezidierte genetische Abweichung nicht aufweist, zum Leben verhelfen kann. Die Konfliktsituation des belasteten Paares bleibt aber grundsätzlich unverändert. 
  • Und schließlich: die Entscheidung für oder gegen PID ist gleichzusetzen mit einer Entscheidung gegen oder für den uneingeschränkten Schutz von Embryonen. 
Ein Drittes gibt es nicht [5 Interner Link].

Kernproblem: der Status des Embryo

Im Kern entzündet sich die ganze Problematik der biopolitischen Debatte an einer einzigen Frage: sie lautet, ob der menschliche Embryo von Anfang an am Schutz der Menschenwürde teilhat. Ob er "Mensch" im Sinne der verfassungsrechtlichen Menschenwürdegarantie und des Rechts auf Leben ist? Oder plakativ ausgedrückt: ob der menschliche Embryo in seinen ersten 14 Lebenstagen ein "Verrechnungsposten“ für Forschungsinteressen oder Kinderwunsch sein kann?

Die Antwort auf diese zentralen Fragen lässt sich weder auf der standesrechtlichen Ebene noch mit Konstruktionen wie "rechtswidrig aber straffrei“ umgehen.

Gentechnologie und Menschenbild

Gentechnik ist ihrer Natur nach, nicht "sanft", denn sie greift in den Kern unserer biologischen Identität, in unsere Erbsubstanz ein. Vor wenigen Tagen wurde aus Livingston/USA erstmals über durch künstliche Befruchtung erzeugte Kinder berichtet, die DNA von drei verschiedenen Menschen in ihren Zellen haben - der erste Schritt in Richtung Keimbahnmanipulation. 

In dem Gentechnologie unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, von Normalität und Behinderung prägt, bestimmt sie wesentlich das zukünftige Menschen- und Gesellschaftsbild. Sie ist der Humus für unsere Wünsche. Aber ohne angemessene ethische und rechtliche Grenzziehungen steht am Ende eine "Wunscherfüllungsmedizin". Ihr Charakteristikum ist letztlich eine sich perpetuierende Ohnmacht. 

Der biopolitische Auftrag 

Das Ausloten von Handlungsgrenzen erscheint somit als die wichtigste Herausforderung für eine verantwortliche, langfristig angelegte Biopolitik. Dieser Auftrag ist auch im Einsetzungsbeschluss der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" [6 Externer Download Link] verankert. Danach hat die Kommission "Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung, Diagnostik und Therapie sowie ihrer Anwendungen zu entwickeln, die das unbedingte Gebot zur Wahrung der Menschenwürde" beinhalten. 

Literatur:

[1] Geisler, Linus S.: Gentechnologie - Vortrag anlässlich des fraktionsoffenen Abends der SPD-Bundestagsfraktion am 16. Mai 2001 in Berlin.

[2] Nikol, S., M. Hallek: Therapie mit Genen. Erfahrungen und Zukunftsperspektiven 10 Jahre nach ihrer klinischen Einführung. In: Raem, A.M. et al (Hrsg): Gen-Medizin. Eine Bestandsaufnahme. Springer. Berlin. 2001. S. 267 ff.

[3] Wobus, A.M.: Angabe anlässlich der Expertenanhörung am 23. April 2001 vor der Themengruppe 2 der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin“ in Berlin.

[4] SPD-Bundestagsfraktion. Arbeitsgemeinschaft der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin“: Alternativen zur embryonalen Stammzellforschung? Ein öffentliches Streitgespräch. 14. Februar 2001, Französischer Dom, Berlin-Mitte. Synopse.

[5] Geisler, L.S.: Kinder auf Bestellung. Frankfurter Rundschau. Donnerstag, 10. Mai 2001. Nr. 108. Seite 18. - 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0105fr_pid.html - Interner Interner Link

[6] "Hierzu hat die Kommission ... Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung, Diagnostik und Therapie sowie ihrer Anwendungen zu entwickeln, die das unbedingte Gebot zur Wahrung der Menschenwürde beinhalten.“ Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode 22.03.2000, Drucksache 14/3011. - 
URL: http://dip.bundestag.de/btd/14/030/1403011.pdf - Externer Download Externer Download Link
 


Geisler, Linus S.: Gentechnologie - Einführung in die Thematik. Vortrag anlässlich des fraktionsoffenen Abends der SPD-Bundestagsfraktion am 16. Mai 2001 in Berlin 
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0105gentechnik.html

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