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Linus Geisler: Zwischen Tun und Lassen
Linus Geisler
Zwischen Tun und Lassen
Ein Panorama bioethischer Streitfragen
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2008
ISBN: 3-938304-59-6 
Rezensionen
Cover Universitas 12/09Quelle: Rüdiger Vaas in UNIVERSITAS, 64. Jahrgang, Nr. 762, Ausgabe Dezember 2009, S. 1302-1307
PDF-Version: www.linus-geisler.de/monografien/200912universitas_vaas-rezension.pdf

Im gleichen Jahr, 1543, in dem Nikolaus Kopernikus in seinem Werk "De revolutionibus orbium coelestium" die Erde aus dem innersten Zentrum der Welt stieß, hat Andreas Vesalius in "De humanis corpori fabrica" anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue veröffentlicht und mit dem kalten Blick der Vivisektion das Innerste des Menschen freigelegt. Inzwischen sind die Fortschritte und vor allem die praktischen Anwendungen der Medizin so weitreichend und auch mit ethischen Problemen durchwoben, dass man um eine Anthropologiefolgenabschätzung nicht mehr herumkommt – und somit erst recht nicht um Fragen nach dem Menschen, nach seiner Einmaligkeit, Unvollkommenheit und Sterblichkeit. Das gilt für die deskriptiven, aber erst recht für die normativen Aspekte der modernen Biologie und Medizin.

In einer glänzend geschriebenen Sammlung von Essays fokussiert Linus Geisler diese komplexen Entwicklungen. Er besichtigt, befürchtet und beurteilt ein "Panorama bioethischer Streitfragen" – so auch der Untertitel seines Buchs. Der frühere Chefarzt der Inneren Abteilung eines Krankenhauses in Gladbeck und mehrfacher Sachverständiger der Enquete-Kommissionen "Recht und Ethik der modernen Medizin" kennt sich bestens aus mit den wissenschaftlichen und normativen Problemen der Erforschung vom Anfang, Leiden und Ende des menschlichen Lebens und den komplizierten Anwendungen neuer Erkenntnisse und Verfahren. Diese beschreibt er gut verständlich und analysiert luzide ihre Implikationen und Gefahren.

Deutlich wird: "Zwischen Tun und Lassen" gibt es in den biomedizinischen Praktiken oft nur einen schmalen Grat. Da ist guter Rat gefragt (und mit diesem Buch nicht einmal teuer): Nationale und lokale Ethikräte und ähnliche Institutionen wurden inzwischen etabliert, auch wenn die Klärung und Klarheit nach manchen Tagungen und Statements nicht selten zu wünschen übrig lässt oder, ein weiteres Problem, die Gefahr besteht, dass solche Gremien für politische und religiöse Interessen als Rechtfertigungsmaschinen instrumentalisiert werden.

Linus Geislers pointierte, kenntnisreiche und oft dezidierte Analysen sind überwiegend den Risiken, nicht den Chancen gewidmet. Er denkt und schreibt klar, auch mit philosophischem und literarischem Hintergrund und vielen Zitaten. Und er blickt über die Tellerränder hinaus. Deshalb ist die Lektüre ein Vergnügen, obschon es die Themen gar nicht sind. Es geht um die Würde des Menschen und um Embryonen (Reproduktionsmedizin, vorgeburtliche Diagnostik, genetische Auswahl), um Genmanipulationen, um das Verhältnis von Arzt und Patient (und Gesellschaft), um aktive und passive Sterbehilfe, um Todesdefinitionen, Organtransplantation und Menschenbilder. "Der werdende Mensch lässt sich immer weniger zu einem eindeutigen Bild fokussieren", er wird zu einem ungewissen Wesen in der Schwebe zwischen Nichtexistenz und Existenz. "Die Legalisierung von Organentnahmen aus hirntoten Menschen hat zu einem makabren Auseinanderdividieren des menschlichen Todes geführt." Und es droht "ein gnadenloses Wunscherfüllungssystem von globalen Ausmaßen", schreibt Geisler. Er berichtet über Retroeltern und den Frauenleib als öffentlichem Ort – bei der Leihmutterschaft etwa oder der gläsernen Gebärmutter durch entsprechende Detektionsverfahren. Embryonen als Rohstofflager, Klonphantasien und -betrügereien sowie die Konflikte zwischen Kinder- und Elternwohl werden beschrieben.

Weit fortgeschritten ist bereits die "Entleiblichung von Sexualität und Fortpflanzung". Dabei lassen sich vier medizinische Eingriffsebenen unterscheiden. Die erste besteht in Ersatz, Reparatur oder Umgehung von defekten Fortpflanzungsorganen. Der Kinderwunsch – nicht selten ein bloß imaginiertes Glückssurrogat – ist bei manchen Menschen so drängend, dass sie enorme Strapazen und Prozeduren in Kauf nehmen, um ihn zu erfüllen. Ein ganzes Volk von "Retortenbabys" wandelt bereits über unseren Planeten, mehr als drei Millionen "künstlich" befruchteter Erdenbürger, und jährlich kommen 200 000 neue durch die In-vitro-Fertilisation hinzu. Die zweite Ebene ist der Austausch der an der Fortpflanzung beteiligten Personen: Samenspender, Leihmütter und so weiter. Drittens dann die räumliche oder zeitliche Entkopplung des Fortpflanzungsvorgangs. Durch Kryokonservierung von Sperma entsteht beispielsweise eine aus der Zeit geworfene Generation von Gefrierwaisen. Mit der vierten Ebene schließlich wird das sumpfige Feld der Reproduktionsgenetik betreten – der Zugriff auf die genetische Identität eines Menschen durch Präimplantationsdiagnostik oder Eingriffe in die Keimbahn beginnt. Allein in Deutschland sind es 80 000 invasive vorgeburtliche Untersuchungen jährlich.

Viele anthropologische Fragen sind da unvermeidbar. Oft werden junge Embryonen als bloße Zellhaufen betrachtet und auch so behandelt. Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Was tun mit überzähligen befruchteten Eizellen? Darf man Menschen maßschneidern? Oder besteht umgekehrt nicht eine Pflicht, optimale genetische Randbedingungen bereitzustellen, wenn dies möglich ist? Doch was heißt schon "optimal"? Kommt womöglich ein Baby-TÜV? Und würde man selbst wissen wollen, ob man eine tickende genetische Zeitbombe in sich trägt? (1966 war bei knapp 1500 Krankheiten eine erbliche Veranlagung bekannt, inzwischen sind es mehr als zehnmal so viel.) Immerhin jeder Fünfte in Deutschland wäre bereit, sich entsprechend genetisch testen zu lassen. Aber es geht dabei ja nicht nur um eine individuelle Vorwarnung und, nur selten möglich, Prävention (etwa sich vorsorglich die Brüste amputieren zu lassen, wenn ein erhöhtes Krebsrisiko besteht), sondern auch um die soziale Dimension (etwa die Wissbegierde von Arbeitgebern oder Krankenversicherungen). Was die reproduktiven Aspekte des Menschseins betrifft, lassen Geislers Ausführungen jedenfalls deutlich erkennen, dass längst ein Dammbruch erfolgt ist.

Und wann bricht der nächste? Vielleicht schon bald, wenn es tatsächlich gelänge, Menschen zu klonen. Angekündigt wurde dies verschiedentlich. Und bei vielen Wirbeltierarten ist es auch bereits geschehen. Wobei die "Erfolgsrate" nur etwa ein Prozent beträgt und die so erzeugten Organismen oft krank sind. Aber bedeutet Menschenklonen schon per se eine Missachtung der Menschenwürde? Zumindest würde es den Klonen nicht an Identität fehlen, auch wenn oft anderes suggeriert wird. Zum einen sind Gene nicht alles, zum anderen gibt es ja auch viele natürliche Klone, nämlich die eineiigen Zwillinge. Das Problem ist also eher eines der Instrumentalisierung – freilich werden Kinder und Erwachsene ja auch sonst allerorten instrumentalisiert. Und die "zum Stillstand gebrachte Evolution", die Geisler kurz anspricht, ist auf absehbare Zeit sicherlich keine Gefahr.

Neben dem Klonen für die Fortpflanzung ist auch ein Klonen zu Heilungszwecken in der Diskussion. Wie in anderen Zusammenhängen, etwa bei der Zellentnahme von abgetriebenen Föten, droht hier der menschliche Organismus gezielt zum Ersatzteillager zu werden. Ähnliche ethische Probleme stellen sich auch beim Thema embryonale und adulte Stammzellen. Hüten sollte man sich vor allem vor den falschen Versprechungen – die zugleich unlauter Hoffnung machen, um des Profits willen –, die mit diesen heiklen Forschungsvorhaben verbunden sind. Geisler zitiert den Stammzellforscher Gerd Kempermann: "Fragen, nicht Versprechen, sollten im Mittelpunkt stehen."

Auch in anderer Hinsicht schreitet die gnadenlose Instrumentalisierung des Körpers voran. Denn die Industrialisierung des Lebens, die mit dem Verkauf von Muskelarbeit in der Sklaverei ihren Anfang nahm, setzt sich konsequent über die Vermietung des Körpers (Leihmutterschaft) bis zur Organtransplantation fort. Der Leib wird käuflich und verkäuflich, wie der florierende Organhandel in der Dritten Welt zeigt. Er birgt die Gefahr in sich, einander nicht mehr als autonome Personen zu respektieren, sondern als bloße wandelnde Organbanken zu betrachten. Geisler spricht von einer "Umwandlung des Person-Leib-Verhältnisses in ein Privateigentumsverhältnis". Nicht Altruismus steht bei der kommerzialisierten Organ "Spende" im Vordergrund, sondern ökonomischer Zwang. In Indien beispielsweise ließen sich schon Tausende eine Niere entnehmen. Gut zwei Drittel davon sind Frauen. Oft werden sie vom Ehemann gedrängt. Rund 1000 Euro wird für eine Niere bezahlt. Trotzdem bleiben diese Familien weiterhin überschuldet. Vier Fünftel der befragten Operierten rieten hinterher vom Nierenverkauf ab. Insgesamt hatte sich ihre gesundheitliche, soziale und ökonomische Situation durch den Organverkauf deutlich verschlechtert.

Hauptaufgabe des Arztes ist es, Leibwächter und nicht Schädiger des Patienten zu sein. Doch die Praxis sieht teilweise anders aus. Und während einerseits das Elend der Krankheit nicht auszurotten ist und viele Menschen sich nicht einmal eine ärztliche Behandlung leisten können, floriert anderswo die Schönheitschirurgie. Geisler beklagt zu Recht die "Hollywoodisierung der ärztlichen Moral". Bei 600 000 kosmetischen Operationen jährlich allein in Deutschland ist das keine Randerscheinung. Dabei gibt es doch viel existenziellere Probleme.

"Medizin muss Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein", schrieb der Internist Bernhard Nauyn vor gut 100 Jahren. Dass noch immer Quacksalber profitieren und unwirksame Medikamente vertrieben werden, teils mit öffentlichen Geldern unterstützt, ist ein Skandal. Doch – und durchaus nicht unabhängig davon – auch die reine Verwissenschaftlichung hat ihr Manko, wenn sie sich auf eine technokratische Apparatemedizin in einer bürokratisch verwalteten Krankenlandschaft beschränkt und humane Aspekte immer mehr verschwinden. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist ebenfalls ein Thema von Geisler: das unbarmherzige Zuwenig an menschlicher Zuwendung und ärztlicher Präsenz einerseits, das gnadenlose Zuviel der Apparatemedizin andererseits. An Letzterem leiden auch Ärzte. Die "unhappy doctors", eingebunden in Systemzwänge und unmenschliche Arbeitszeiten, sind ein bekanntes Phänomen, Drogenmissbrauch eingeschlossen. Die Patienten leiden hingegen unter menschlicher Unterversorgung, Verteilungsungerechtigkeit und erschreckend oft an mangelnder Fürsorge. Besonders die Schmerztherapie hat hier große Defizite. So wurden 2002 in Großbritannien 353,5 Kilogramm Morphin pro Million Einwohner eingesetzt, in Deutschland dagegen nur 22,2.

Der medizinische Fortschritt kann zwar lebens-, dann oft aber auch leidensverlängernd wirken. Und so stellt sich die Frage nach Tun und Unterlassen – sich dem Tod nicht in den Weg zu stellen versus ihm zuvorzukommen –, also nach aktiver und passiver Sterbehilfe. Der Arzt wird hier leicht zum Handlanger des Patienten, gedrängt in die Rolle des Richters und Vollstreckers. Andererseits steht er mit einem Bein im Gefängnis, wenn er den dringlichsten Sterbewünschen unheilbar Kranker nachgibt. Dies alles ist furchtbar tragisch, ambivalent und ein ethisches Minenfeld – und sollte wohl nicht rigorosen, fragwürdigen Prinzipien unterstellt, sondern abhängig von den konkreten Umständen fallweise entschieden werden. "Im Sterben sind wir Gewöhnliche allemal Anfänger", schreibt Geisler. Einerseits sagten in einer Umfrage 84 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner, sie würden auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten, wenn es keine Hoffnung auf Genesung gibt. Andererseits äußerten von 200 terminal Erkrankten nicht einmal zehn Prozent den ernsthaften Wunsch zu sterben – und die meisten von diesen waren depressiv. Tatsächlich steht bei vielen Menschen gar nicht der Tod im Zentrum ihrer Furcht, sondern dessen Umstände, nämlich Schmerzen, Einsamkeit, Entwürdigung und Persönlichkeitsverlust. Doch das Verlangen nach Selbstbestimmung und Fürsorge wird häufig nicht adäquat erfüllt. Dabei kann gerade die Schutzbedürftigkeit der Hilf- und Wehrlosen "nicht hoch genug angesetzt werden", betont Geisler und mahnt "zu größter Behutsamkeit anstatt zu rigorosem Aktionismus". Er hat auch die soziale Dimension im Blick: "Was heute nur Recht auf aktive Tötung im Sterben ist, kann morgen zur Pflicht werden."

Der Tod ist eben nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziokulturelles Phänomen. Das zeigt sich schon an den Todeskriterien. Geisler diskutiert hier die Definition und Implikationen des Hirntods. Der hat es juristisch erst ermöglicht, toten beziehungsweise doch noch lebenden Menschen Organe zu entnehmen. Dies bringt auch Konsequenzen für das Verständnis des menschlichen Körpers mit sich. "Die neue Sicht bewirkt nicht nur Leiblichkeitsferne (Leib bin ich), sondern bringt auch den Körper (Körper habe ich) zum verschwinden." Und es ist schon keine Sensation mehr, dass ein menschliches Herz innerhalb von zwei Wochen durch Reimplantation in drei verschiedenen Körpern schlägt. Bei der Domino-Transplantation erhält ein Empfänger, dem nur die Lungen eingepflanzt werden müssten, gleich das anhängende Herz des Spenders dazu, weil dies technisch einfacher zu machen ist; das alte, noch gesunde, aber gleichsam überflüssige Herz bekommt dann ein anderer Empfänger.

Fest steht, dass die Fragen zu biomedizinischen Herausforderungen keine einfachen Antworten haben; fest steht aber auch, dass man sie nicht einfach offenlassen kann; und fest steht schließlich, dass man wohl, wie in den meisten Normenkonflikten, so oder so (moralisch) schuldig wird. Linus Geisler ist nicht auf einfache, allgemeinverbindliche Rezepte aus, und oft setzt er mehr Fragezeichen und Doppelpunkte als Ausrufezeichen und Punkte. Das ist aber keine Schwäche, sondern eine Stärke des Buchs. Zudem sind die Explikationen nicht auf vage Unverbindlichkeiten oder auf harmoniebestrebende Kompromisse ausgerichtet. Vielmehr bezieht Geisler dezidiert Stellung, zuweilen sogar mit rhetorischen Tricks oder Polemik. Das mag das Buch mitunter etwas einseitig erscheinen lassen. Aber wer Position bezieht, kann nicht gleichzeitig auf und zwischen allen Stühlen sitzen.

Rüdiger Vaas


Logo Quelle: ethik-report, Nr. 2/2008, S. 8-13
URL/PDF-Version - Externer Link: www.ph-weingarten.de/zpe/ethikreport_2_-_2008.pdf

Die heutige Biomedizin entwickelt immer neue Visionen und Utopien. Sie verspricht nicht nur Heilung, sondern auch schon Heil, indem sie den Menschen verschiedene Versprechungen macht: die Vermeidung von Behinderung, die Verringerung von Leiden, die Überwindung unheilbarer Krankheiten, die Verlängerung des Lebens in angenehmer Verfassung. Diesen Versprechungen geht Linus Geisler in der vorliegenden Essaysammlung kritisch auf den Grund. Als ein durch mehrjährige Kommissionsarbeit und klinische Praxis ausgewiesener Medizinethiker sieht er zunächst im Menschenbild moderner Medizin ein Grund für deren Tendenz, den Menschen viel, wie Geisler meint: zu viel zu versprechen. Dabei spielt nicht mehr die Leiblichkeit des Menschen mit ihrem personalen Aspekt die maßgebende Rolle. Der Mensch wird in der Biomedizin vielmehr auf den instrumentalisierbaren Körper reduziert, "gentechnisch alterslos gemacht, durch Botox geglättet, von Chirurgenhand beliebig umgeformt - von der Neuinszenierung gelebter Gesichter bis zur 'Designervagina'" (10). Der Körper wird zur Ansammlung von Organen, die beliebig ausgetauscht und deren Verfügungsrechte verhandelbar sind. Dabei gehören Grenzverletzungen zum Geschäft mit dem Körper: Um Organentnahme zu ermöglichen, wird die Todesgrenze vom organischen zum bewusstheitsbezogenen Tod verschoben. Auch der Tod soll planbar gemacht werden. Nicht mehr um einen "guten Tod" geht es, sondern um einen "schnellen Tod von fremder Hand" (11).
Geisler zitiert zur Illustration des biomedizinischen Menschenverständnisses aus dem jüngsten Bericht des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics mit dem an die amerikanischen Verfassung angelehnten Untertitel "The Pursuit of Happiness". Eine von der entwickelten Biomedizin ausgelöste "globale Glücksjagd" (Geisler) soll hervorbringen: optimierte Kinder (better children), überragende Leistungsfähigkeit (superior performance), alterslose Körper (ageless bodies) und glückliche Seelen (happy minds). Geisler konstatiert den Verlust einer herkömmlichen (Medizin-)Moral. Auf der Suche nach einer neuen Moral plädiert er für die Grundhaltung eines bioökonomischen Dissenses, der eine harmonistische Konsensethik und eine beliebige und begriffslose "Fuzzy-Ethik" hinter sich lässt. Es geht ihm darum, den Blick frei zu machen auf "das Innere". Dort sieht Geisler den Ort, über Tun und Lassen zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund analysiert er die einschlägigen Themengebiete: den ethischen Status des Embryo und seine Verwertung, die Fragen der Reproduktionsmedizin, die Stammzellforschung und die bioethischen Fragen rund um den Tod.

Geisler vertritt auch in der Frage nach dem Status des Embryos eine klare beziehungsethische Position: "Ein Embryo, auch im Glas erzeugt, ist das zukünftige Kind zukünftiger Eltern und sonst nichts. Es steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Weder ist es ein Medikament zur Behandlung irgendeiner Fruchtbarkeitsstörung noch ist der Embryo ein Werkstück, das man unter Mangeleinreden betrachten kann, noch ein Rohstoff für andere Zwecke." Mit diesem Zitat von Margot von Renesse wehrt Geisler zugleich sprachliche Unsauberkeiten ab. Dazu gehört die Rede von den "überzähligen Embryonen". "Überzählig" werden sie erst als Überschussprodukte der Fortpflanzungsmedizin. Sie sind aber nicht einfach überzählig, sondern werden erst dazu gemacht. Die Zuschreibung der Überzähligkeit von Embryonen verleugnet zum einen deren Ununterscheidbarkeit von natürlich gezeugten Embryonen. Und es stellen sich zum anderen Fragen hinichtlich der Legitimation der Überzählig-Macher. Wer oder was ist der Maßstab für Überzähligkeit, der über Leben und Tod entscheidet? Wer wird wodurch zur Selektion legitimiert? Wer definiert jene magische Zahl, ab der menschliche Wesen überzählig sind? Wer - so fragt Geisler - hat die "Lizenz zum Zählen"? 

Der Embryo in der Petrischale ist kein isoliertes Etwas, sondern ein Jemand, der mit der Frau als "reproduktive Einheit" zu sehen ist. Er verkörpert nämlich in der Regel die Absicht, Kind einer Mutter zu werden. Im Gegensatz zu vielen natürlich erzeugten Embryonen ist der In-Vitro-Embryo ein Wunschkind, das seine Existenz der Selektion und dem Verbrauch bzw. Vernichtung anderer Embryonen verdankt.

Auch in der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) bezieht Geisler kritisch Stellung. Dem Argument der Befürworter von PID, die deren Zweck in der Geburt eines gesunden Kindes sehen, hält er entgegen, dass sich die PID - ähnlich wie die Pränataldiagnostik (PND) - längst von diesem Ursprungswunsch entfernt habe. Wurden 1999 noch 131 PIDs pro Jahr gezählt, so waren es schon 3000 PID-Untersuchungen im Jahr 2006. Damit brechen zugleich die ethischen Dämme. Galt es zunächst als unzulässig, mittels PID eine Geschlechterwahl des künftigen Kindes vorzunehmen, so ist dies heute schon fast in allen Reproduktionskliniken gängige Praxis.

Im Fall der PND wird inzwischen deutlich, dass sie einem ökonomischen Kostenkalkül zur Verhinderung von Behinderung (hier vor allem des Down-Syndroms) dient. Dabei versucht PND Unvereinbares zu vereinen: Je nach Ergebnis der Diagnose führt sie zum Schutz des Ungeborenen oder zu dessen Abtreibung. Schwangerschaft wird in diesem Klima zu einem stets widerrufbaren Geschehen. Kinder wachsen im Mutterleib schon unter dem Odium der Vorläufigkeit heran. Geislers Diagnose der PND: So werden Kinder schon verlassen, bevor sie angenommen werden. Inzwischen herrscht bei der PND fast schon keine Wahlfreiheit mehr, sondern Wahlzwang. Wurden 1974 bundesweit 308 PNDs durchgeführt, so sind es im Jahr 1998 schon 80.000 Diagnosen des vorgeburtlichen Lebens. In der PND und PID geht es nicht nur um Selektion. Nach dem Urteil von Geisler handelt es sich um die Eliminierung nicht nur von Krankheiten, sondern auch von deren Träger. Trotz aller Probleme im Umgang mit PID und PND sieht Geisler keine Chance mehr, die Einsatzmöglichkeiten reproduktiver Medizin rückgängig zu machen.

Geisler blickt auch skeptisch auf die Möglichkeiten der Stammzellforschung, hier vor allem auf die biotechnische Möglichkeit des Klonens. Zunächst beschreibt er nüchtern die geringen Erfolgsquoten beim Tierklonen und erinnert an den "Friedhof der Klontiere", der durch die hohe Mortalitäts- und Misserfolgsrate bei wissenschaftlichen Klonversuchen entstanden ist. Die vielerorts gebräuchliche Unterscheidung von therapeutischem und reproduktivem Klonen vollzieht Geisler nicht mit, weil es sich bei beidem immer um die Absicht handele, einen zweiten, mit dem ersten genidentischen Organismus zu schaffen. Und immer sei es nötig, Embryonen zu töten wegen spekulativer Heilzwecke. Mit der Klonierung menschlicher Erbsubstanz entstehen aber nach Geisler künftig Probleme, die nur demjenigen auffallen, der im Klon ein Beziehungswesen sieht. So werden etwa selbstverständliche Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse durch das Klonen aufgelöst: "Das nach dem "Vater" geklonte Kind wäre gleichzeitig dessen genetischer Zwilling, ein Halbgeschwister und Onkel früherer Kinder. Eine Frau, die den Klon ihrer eigenen Mutter austrägt, wird physiologisch betrachtet Mutter des Zwillings ihrer Mutter, also ihrer Tante. Das Kind hat nur einen genetischen Elternteil, der noch nicht einmal mit der biologischen Mutter und den sozialen Eltern genetisch verwandt sein muss. Die soziale Identifikation innerhalb solcher bisher nicht da gewesenen Familienstrukturen wäre bemerkenswert." (76) Allein schon dieses Beispiel gesprengter Genealogien macht deutlich: Klonen führt in eine Sackgasse.

Zudem erweist sich - so Geisler - auch die auf Stammzellforschung basierende Wissenschaft in ihrer Heilungsprognose als Lüge. Hauptbeleg für diese These ist zum einen der skandalöse Wissenschaftsbetrug des koreanischen Biowissenschaftlers Woo Suk Hwang. Die von Geisler so apostrophierten "Ankündigungswissenschaften" lassen mit ihren Heilungsversprechen eine unheilvolle Melange von Perspektivenverzerrung, Hypostasierung von Forschungszielen, politischer Aufladung, Täuschung von Schwerkranken und ökonomischer Raffgier entstehen. Geisler führt in seinem Essay "Kein Kaiser, keine Kleider. Das Phantom des 'therapeutischen Klonens'" viele Belege für seine These an, die hier aus Platzgründen keine Erwähnung finden können.

Zum Thema Sterben und Tod konstatiert Geisler eine breite Entwicklung für den Wunsch nach einem "schnellen Ende". Genährt von der Illusion der Unsterblichkeit und eines leidfreien Daseins werde ein "bioethischer Weichmachereffekt" gefördert. Das Kriterium des "bewussten und selbstbewussten Lebens" führt zur Aufweichung des Anrechts auf Schutz und Menschenwürde im Sterben. Gerade Wachkomapatienten sind - nach dem Urteil Geislers - dem medizinischen Zugriff zunehmend ausgeliefert. Statt immer neuer Richtlinien zur Sterbehilfe oder neuer Patientenverfügungen fordert Geisler eine Rückkehr zum sensiblen Hinhören auf die Wünsche der Sterbenden. Sie wünschen nicht "die Hinrichtung durch die Hand eines Arztes, sondern jemanden, der ihnen in der Kälte moderner Gesundheitsfabriken zuhört, ihnen ihre Schmerzen nimmt, sich in ihr Sterben einfühlt und keine Scham empfindet, ihre Hand zu halten" (163)

Geislers bioethische Essaysammlung ist von einer dem Ethos der Aufklärung verpflichteten Herangehensweise an die komplexe Materie von Reproduktionsmedizin, Stammzellforschung und Sterbegleitung geprägt. Als Arzt brilliert er mit einer auch für den medizinischen Laien verständlich gemachten Fachlichkeit. Zugleich wägt er nüchtern die vorgebrachten bioethischen Argumente ab, und er arbeitet mittels Sachkenntnis und Beispielen seinen der Beziehungsethik verpflichteten bioethischen Ansatz heraus. Damit begibt er sich zwischen die bekannten bioethischen Frontlinien fundamentalistischer Lebensschützer und medizinpositivistisch denkender Forscher, Praktiker und Biopolitiker. Nicht ohne einen melancholischen Unterton konstatiert er dabei den Verlust einer konventionellen Moral und macht sich auf die Suche nach gültigen Kriterien im bioethischen Disput. Die lebendig und pointiert geschriebenen Essays machen deutlich, weswegen der Rat Linus Geislers in verschiedenen Ethikkommissionen und parlamentarischen Enquetekommissionen in verschiedenen Bundesländern und im Bundestag gesucht wurde. Alle Essays dokumentieren einen Grundzug seines Lebenswerkes: die Qualität der Arzt-Patienten-Kommunikation und ein leidenschaftliches, zivilisationskritisches Engagement für den Menschen.

Hans-Martin Brüll
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