 |
Linus
Geisler
|
Zwischen Tun
und Lassen |
Ein
Panorama bioethischer Streitfragen |
|
Mabuse-Verlag,
Frankfurt am Main, 2008 |
ISBN: 3-938304-59-6 |
|
Rezensionen
Im
gleichen Jahr, 1543, in dem Nikolaus Kopernikus in seinem Werk "De
revolutionibus orbium coelestium" die Erde aus dem innersten Zentrum
der Welt stieß, hat Andreas Vesalius in "De humanis corpori fabrica"
anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue
veröffentlicht und mit dem kalten Blick der Vivisektion das Innerste
des Menschen freigelegt. Inzwischen sind die Fortschritte und vor allem
die praktischen Anwendungen der Medizin so weitreichend und auch mit
ethischen Problemen durchwoben, dass man um eine
Anthropologiefolgenabschätzung nicht mehr herumkommt – und somit erst
recht nicht um Fragen nach dem Menschen, nach seiner Einmaligkeit,
Unvollkommenheit und Sterblichkeit. Das gilt für die deskriptiven, aber
erst recht für die normativen Aspekte der modernen Biologie und
Medizin.
In
einer glänzend geschriebenen Sammlung von Essays fokussiert Linus
Geisler diese komplexen Entwicklungen. Er besichtigt, befürchtet und
beurteilt ein "Panorama bioethischer Streitfragen" – so auch der
Untertitel seines Buchs. Der frühere Chefarzt der Inneren Abteilung
eines Krankenhauses in Gladbeck und mehrfacher Sachverständiger der
Enquete-Kommissionen "Recht und Ethik der modernen Medizin" kennt sich
bestens aus mit den wissenschaftlichen und normativen Problemen der
Erforschung vom Anfang, Leiden und Ende des menschlichen Lebens und den
komplizierten Anwendungen neuer Erkenntnisse und Verfahren. Diese
beschreibt er gut verständlich und analysiert luzide ihre Implikationen
und Gefahren.
Deutlich
wird: "Zwischen Tun und Lassen" gibt es in den biomedizinischen
Praktiken oft nur einen schmalen Grat. Da ist guter Rat gefragt (und
mit diesem Buch nicht einmal teuer): Nationale und lokale Ethikräte und
ähnliche Institutionen wurden inzwischen etabliert, auch wenn die
Klärung und Klarheit nach manchen Tagungen und Statements nicht selten
zu wünschen übrig lässt oder, ein weiteres Problem, die Gefahr besteht,
dass solche Gremien für politische und religiöse Interessen als
Rechtfertigungsmaschinen instrumentalisiert werden.
Linus
Geislers pointierte, kenntnisreiche und oft dezidierte Analysen sind
überwiegend den Risiken, nicht den Chancen gewidmet. Er denkt und
schreibt klar, auch mit philosophischem und literarischem Hintergrund
und vielen Zitaten. Und er blickt über die Tellerränder hinaus. Deshalb
ist die Lektüre ein Vergnügen, obschon es die Themen gar nicht sind. Es
geht um die Würde des Menschen und um Embryonen (Reproduktionsmedizin,
vorgeburtliche Diagnostik, genetische Auswahl), um Genmanipulationen,
um das Verhältnis von Arzt und Patient (und Gesellschaft), um aktive
und passive Sterbehilfe, um Todesdefinitionen, Organtransplantation und
Menschenbilder. "Der werdende Mensch lässt sich immer weniger zu einem
eindeutigen Bild fokussieren", er wird zu einem ungewissen Wesen in der
Schwebe zwischen Nichtexistenz und Existenz. "Die Legalisierung von
Organentnahmen aus hirntoten Menschen hat zu einem makabren
Auseinanderdividieren des menschlichen Todes geführt." Und es droht
"ein gnadenloses Wunscherfüllungssystem von globalen Ausmaßen",
schreibt Geisler. Er berichtet über Retroeltern und den Frauenleib als
öffentlichem Ort – bei der Leihmutterschaft etwa oder der gläsernen
Gebärmutter durch entsprechende Detektionsverfahren. Embryonen als
Rohstofflager, Klonphantasien und -betrügereien sowie die Konflikte
zwischen Kinder- und Elternwohl werden beschrieben.
Weit
fortgeschritten ist bereits die "Entleiblichung von Sexualität und
Fortpflanzung". Dabei lassen sich vier medizinische Eingriffsebenen
unterscheiden. Die erste besteht in Ersatz, Reparatur oder Umgehung von
defekten Fortpflanzungsorganen. Der Kinderwunsch – nicht selten ein
bloß imaginiertes Glückssurrogat – ist bei manchen Menschen so
drängend, dass sie enorme Strapazen und Prozeduren in Kauf nehmen, um
ihn zu erfüllen. Ein ganzes Volk von "Retortenbabys" wandelt bereits
über unseren Planeten, mehr als drei Millionen "künstlich" befruchteter
Erdenbürger, und jährlich kommen 200 000 neue durch die
In-vitro-Fertilisation hinzu. Die zweite Ebene ist der Austausch der an
der Fortpflanzung beteiligten Personen: Samenspender, Leihmütter und so
weiter. Drittens dann die räumliche oder zeitliche Entkopplung des
Fortpflanzungsvorgangs. Durch Kryokonservierung von Sperma entsteht
beispielsweise eine aus der Zeit geworfene Generation von
Gefrierwaisen. Mit der vierten Ebene schließlich wird das sumpfige Feld
der Reproduktionsgenetik betreten – der Zugriff auf die genetische
Identität eines Menschen durch Präimplantationsdiagnostik oder
Eingriffe in die Keimbahn beginnt. Allein in Deutschland sind es 80 000
invasive vorgeburtliche Untersuchungen jährlich.
Viele
anthropologische Fragen sind da unvermeidbar. Oft werden junge
Embryonen als bloße Zellhaufen betrachtet und auch so behandelt. Ab
wann ist ein Mensch ein Mensch? Was tun mit überzähligen befruchteten
Eizellen? Darf man Menschen maßschneidern? Oder besteht umgekehrt nicht
eine Pflicht, optimale genetische Randbedingungen bereitzustellen, wenn
dies möglich ist? Doch was heißt schon "optimal"? Kommt womöglich ein
Baby-TÜV? Und würde man selbst wissen wollen, ob man eine tickende
genetische Zeitbombe in sich trägt? (1966 war bei knapp 1500
Krankheiten eine erbliche Veranlagung bekannt, inzwischen sind es mehr
als zehnmal so viel.) Immerhin jeder Fünfte in Deutschland wäre bereit,
sich entsprechend genetisch testen zu lassen. Aber es geht dabei ja
nicht nur um eine individuelle Vorwarnung und, nur selten möglich,
Prävention (etwa sich vorsorglich die Brüste amputieren zu lassen, wenn
ein erhöhtes Krebsrisiko besteht), sondern auch um die soziale
Dimension (etwa die Wissbegierde von Arbeitgebern oder
Krankenversicherungen). Was die reproduktiven Aspekte des Menschseins
betrifft, lassen Geislers Ausführungen jedenfalls deutlich erkennen,
dass längst ein Dammbruch erfolgt ist.
Und
wann bricht der nächste? Vielleicht schon bald, wenn es tatsächlich
gelänge, Menschen zu klonen. Angekündigt wurde dies verschiedentlich.
Und bei vielen Wirbeltierarten ist es auch bereits geschehen. Wobei die
"Erfolgsrate" nur etwa ein Prozent beträgt und die so erzeugten
Organismen oft krank sind. Aber bedeutet Menschenklonen schon per se
eine Missachtung der Menschenwürde? Zumindest würde es den Klonen nicht
an Identität fehlen, auch wenn oft anderes suggeriert wird. Zum einen
sind Gene nicht alles, zum anderen gibt es ja auch viele natürliche
Klone, nämlich die eineiigen Zwillinge. Das Problem ist also eher eines
der Instrumentalisierung – freilich werden Kinder und Erwachsene ja
auch sonst allerorten instrumentalisiert. Und die "zum Stillstand
gebrachte Evolution", die Geisler kurz anspricht, ist auf absehbare
Zeit sicherlich keine Gefahr.
Neben
dem Klonen für die Fortpflanzung ist auch ein Klonen zu Heilungszwecken
in der Diskussion. Wie in anderen Zusammenhängen, etwa bei der
Zellentnahme von abgetriebenen Föten, droht hier der menschliche
Organismus gezielt zum Ersatzteillager zu werden. Ähnliche ethische
Probleme stellen sich auch beim Thema embryonale und adulte
Stammzellen. Hüten sollte man sich vor allem vor den falschen
Versprechungen – die zugleich unlauter Hoffnung machen, um des Profits
willen –, die mit diesen heiklen Forschungsvorhaben verbunden sind.
Geisler zitiert den Stammzellforscher Gerd Kempermann: "Fragen, nicht
Versprechen, sollten im Mittelpunkt stehen."
Auch
in anderer Hinsicht schreitet die gnadenlose Instrumentalisierung des
Körpers voran. Denn die Industrialisierung des Lebens, die mit dem
Verkauf von Muskelarbeit in der Sklaverei ihren Anfang nahm, setzt sich
konsequent über die Vermietung des Körpers (Leihmutterschaft) bis zur
Organtransplantation fort. Der Leib wird käuflich und verkäuflich, wie
der florierende Organhandel in der Dritten Welt zeigt. Er birgt die
Gefahr in sich, einander nicht mehr als autonome Personen zu
respektieren, sondern als bloße wandelnde Organbanken zu betrachten.
Geisler spricht von einer "Umwandlung des Person-Leib-Verhältnisses in
ein Privateigentumsverhältnis". Nicht Altruismus steht bei der
kommerzialisierten Organ "Spende" im Vordergrund, sondern ökonomischer
Zwang. In Indien beispielsweise ließen sich schon Tausende eine Niere
entnehmen. Gut zwei Drittel davon sind Frauen. Oft werden sie vom
Ehemann gedrängt. Rund 1000 Euro wird für eine Niere bezahlt. Trotzdem
bleiben diese Familien weiterhin überschuldet. Vier Fünftel der
befragten Operierten rieten hinterher vom Nierenverkauf ab. Insgesamt
hatte sich ihre gesundheitliche, soziale und ökonomische Situation
durch den Organverkauf deutlich verschlechtert.
Hauptaufgabe
des Arztes ist es, Leibwächter und nicht Schädiger des Patienten zu
sein. Doch die Praxis sieht teilweise anders aus. Und während
einerseits das Elend der Krankheit nicht auszurotten ist und viele
Menschen sich nicht einmal eine ärztliche Behandlung leisten können,
floriert anderswo die Schönheitschirurgie. Geisler beklagt zu Recht die
"Hollywoodisierung der ärztlichen Moral". Bei 600 000 kosmetischen
Operationen jährlich allein in Deutschland ist das keine
Randerscheinung. Dabei gibt es doch viel existenziellere Probleme.
"Medizin
muss Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein", schrieb der
Internist Bernhard Nauyn vor gut 100 Jahren. Dass noch immer
Quacksalber profitieren und unwirksame Medikamente vertrieben werden,
teils mit öffentlichen Geldern unterstützt, ist ein Skandal. Doch – und
durchaus nicht unabhängig davon – auch die reine Verwissenschaftlichung
hat ihr Manko, wenn sie sich auf eine technokratische Apparatemedizin
in einer bürokratisch verwalteten Krankenlandschaft beschränkt und
humane Aspekte immer mehr verschwinden. Die Beziehung zwischen Arzt und
Patient ist ebenfalls ein Thema von Geisler: das unbarmherzige Zuwenig
an menschlicher Zuwendung und ärztlicher Präsenz einerseits, das
gnadenlose Zuviel der Apparatemedizin andererseits. An Letzterem leiden
auch Ärzte. Die "unhappy doctors", eingebunden in Systemzwänge und
unmenschliche Arbeitszeiten, sind ein bekanntes Phänomen,
Drogenmissbrauch eingeschlossen. Die Patienten leiden hingegen unter
menschlicher Unterversorgung, Verteilungsungerechtigkeit und
erschreckend oft an mangelnder Fürsorge. Besonders die Schmerztherapie
hat hier große Defizite. So wurden 2002 in Großbritannien 353,5
Kilogramm Morphin pro Million Einwohner eingesetzt, in Deutschland
dagegen nur 22,2.
Der
medizinische Fortschritt kann zwar lebens-, dann oft aber auch
leidensverlängernd wirken. Und so stellt sich die Frage nach Tun und
Unterlassen – sich dem Tod nicht in den Weg zu stellen versus ihm
zuvorzukommen –, also nach aktiver und passiver Sterbehilfe. Der Arzt
wird hier leicht zum Handlanger des Patienten, gedrängt in die Rolle
des Richters und Vollstreckers. Andererseits steht er mit einem Bein im
Gefängnis, wenn er den dringlichsten Sterbewünschen unheilbar Kranker
nachgibt. Dies alles ist furchtbar tragisch, ambivalent und ein
ethisches Minenfeld – und sollte wohl nicht rigorosen, fragwürdigen
Prinzipien unterstellt, sondern abhängig von den konkreten Umständen
fallweise entschieden werden. "Im Sterben sind wir Gewöhnliche allemal
Anfänger", schreibt Geisler. Einerseits sagten in einer Umfrage 84
Prozent der erwachsenen US-Amerikaner, sie würden auf
lebensverlängernde Maßnahmen verzichten, wenn es keine Hoffnung auf
Genesung gibt. Andererseits äußerten von 200 terminal Erkrankten nicht
einmal zehn Prozent den ernsthaften Wunsch zu sterben – und die meisten
von diesen waren depressiv. Tatsächlich steht bei vielen Menschen gar
nicht der Tod im Zentrum ihrer Furcht, sondern dessen Umstände, nämlich
Schmerzen, Einsamkeit, Entwürdigung und Persönlichkeitsverlust. Doch
das Verlangen nach Selbstbestimmung und Fürsorge wird häufig nicht
adäquat erfüllt. Dabei kann gerade die Schutzbedürftigkeit der Hilf-
und Wehrlosen "nicht hoch genug angesetzt werden", betont Geisler und
mahnt "zu größter Behutsamkeit anstatt zu rigorosem Aktionismus". Er
hat auch die soziale Dimension im Blick: "Was heute nur Recht auf
aktive Tötung im Sterben ist, kann morgen zur Pflicht werden."
Der
Tod ist eben nicht nur ein individuelles, sondern auch ein
soziokulturelles Phänomen. Das zeigt sich schon an den Todeskriterien.
Geisler diskutiert hier die Definition und Implikationen des Hirntods.
Der hat es juristisch erst ermöglicht, toten beziehungsweise doch noch
lebenden Menschen Organe zu entnehmen. Dies bringt auch Konsequenzen
für das Verständnis des menschlichen Körpers mit sich. "Die neue Sicht
bewirkt nicht nur Leiblichkeitsferne (Leib bin ich), sondern bringt
auch den Körper (Körper habe ich) zum verschwinden." Und es ist schon
keine Sensation mehr, dass ein menschliches Herz innerhalb von zwei
Wochen durch Reimplantation in drei verschiedenen Körpern schlägt. Bei
der Domino-Transplantation erhält ein Empfänger, dem nur die Lungen
eingepflanzt werden müssten, gleich das anhängende Herz des Spenders
dazu, weil dies technisch einfacher zu machen ist; das alte, noch
gesunde, aber gleichsam überflüssige Herz bekommt dann ein anderer
Empfänger.
Fest
steht, dass die Fragen zu biomedizinischen Herausforderungen keine
einfachen Antworten haben; fest steht aber auch, dass man sie nicht
einfach offenlassen kann; und fest steht schließlich, dass man wohl,
wie in den meisten Normenkonflikten, so oder so (moralisch) schuldig
wird. Linus Geisler ist nicht auf einfache, allgemeinverbindliche
Rezepte aus, und oft setzt er mehr Fragezeichen und Doppelpunkte als
Ausrufezeichen und Punkte. Das ist aber keine Schwäche, sondern eine
Stärke des Buchs. Zudem sind die Explikationen nicht auf vage
Unverbindlichkeiten oder auf harmoniebestrebende Kompromisse
ausgerichtet. Vielmehr bezieht Geisler dezidiert Stellung, zuweilen
sogar mit rhetorischen Tricks oder Polemik. Das mag das Buch mitunter
etwas einseitig erscheinen lassen. Aber wer Position bezieht, kann
nicht gleichzeitig auf und zwischen allen Stühlen sitzen.
Rüdiger Vaas
Die heutige Biomedizin entwickelt immer
neue Visionen und Utopien. Sie verspricht nicht nur Heilung, sondern auch
schon Heil, indem sie den Menschen verschiedene Versprechungen macht: die
Vermeidung von Behinderung, die Verringerung von Leiden, die Überwindung
unheilbarer Krankheiten, die Verlängerung des Lebens in angenehmer
Verfassung. Diesen Versprechungen geht Linus Geisler in der vorliegenden
Essaysammlung kritisch auf den Grund. Als ein durch mehrjährige Kommissionsarbeit
und klinische Praxis ausgewiesener Medizinethiker sieht er zunächst
im Menschenbild moderner Medizin ein Grund für deren Tendenz, den
Menschen viel, wie Geisler
meint: zu viel zu versprechen. Dabei
spielt nicht mehr die Leiblichkeit des Menschen mit ihrem personalen
Aspekt
die maßgebende Rolle. Der Mensch wird in der Biomedizin vielmehr
auf den instrumentalisierbaren Körper reduziert, "gentechnisch
alterslos
gemacht, durch Botox geglättet, von Chirurgenhand beliebig umgeformt -
von der Neuinszenierung gelebter Gesichter bis zur 'Designervagina'" (10).
Der Körper wird zur Ansammlung von Organen, die beliebig ausgetauscht
und deren Verfügungsrechte verhandelbar sind. Dabei gehören
Grenzverletzungen
zum Geschäft mit dem Körper: Um Organentnahme zu ermöglichen,
wird die Todesgrenze vom organischen zum bewusstheitsbezogenen Tod
verschoben.
Auch der Tod soll planbar gemacht werden. Nicht mehr um einen "guten
Tod"
geht es, sondern um einen "schnellen Tod von fremder Hand" (11). Geisler zitiert zur Illustration des
biomedizinischen Menschenverständnisses aus dem jüngsten Bericht
des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics mit dem an
die amerikanischen Verfassung angelehnten Untertitel "The Pursuit of Happiness".
Eine von der entwickelten Biomedizin ausgelöste "globale Glücksjagd"
(Geisler) soll hervorbringen: optimierte Kinder (better children), überragende
Leistungsfähigkeit (superior performance), alterslose Körper
(ageless bodies) und glückliche Seelen (happy minds). Geisler konstatiert
den Verlust einer herkömmlichen (Medizin-)Moral. Auf der Suche nach
einer neuen Moral plädiert er für die Grundhaltung eines bioökonomischen
Dissenses, der eine harmonistische Konsensethik und eine beliebige und
begriffslose "Fuzzy-Ethik" hinter sich lässt. Es geht ihm darum, den
Blick frei zu machen auf "das Innere". Dort sieht Geisler den Ort, über
Tun und Lassen zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund analysiert er die
einschlägigen Themengebiete: den ethischen Status des Embryo und seine
Verwertung, die Fragen der Reproduktionsmedizin, die Stammzellforschung
und die bioethischen Fragen rund um den Tod.
Geisler vertritt auch in der Frage
nach dem Status des Embryos eine klare beziehungsethische Position: "Ein
Embryo, auch im Glas erzeugt, ist das zukünftige Kind zukünftiger
Eltern und sonst nichts. Es steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung.
Weder ist es ein Medikament zur Behandlung irgendeiner Fruchtbarkeitsstörung
noch ist der Embryo ein Werkstück, das man unter Mangeleinreden betrachten
kann, noch ein Rohstoff für andere Zwecke." Mit diesem Zitat von Margot
von Renesse wehrt Geisler zugleich sprachliche Unsauberkeiten
ab. Dazu gehört die Rede von den "überzähligen Embryonen".
"Überzählig" werden sie erst als Überschussprodukte der
Fortpflanzungsmedizin. Sie sind aber nicht einfach überzählig,
sondern werden erst dazu gemacht. Die Zuschreibung der Überzähligkeit
von Embryonen verleugnet zum einen deren Ununterscheidbarkeit von natürlich
gezeugten Embryonen. Und es stellen sich zum anderen Fragen hinichtlich
der Legitimation der Überzählig-Macher. Wer oder was ist der
Maßstab für Überzähligkeit, der über Leben und
Tod entscheidet? Wer wird wodurch zur Selektion legitimiert? Wer definiert
jene magische Zahl, ab der menschliche Wesen überzählig sind?
Wer - so fragt Geisler - hat die "Lizenz zum Zählen"? Der Embryo
in der Petrischale ist kein isoliertes Etwas, sondern ein Jemand, der mit
der Frau als "reproduktive Einheit" zu sehen ist. Er verkörpert nämlich
in der Regel die Absicht, Kind einer Mutter zu werden. Im Gegensatz zu
vielen natürlich erzeugten Embryonen ist der In-Vitro-Embryo ein Wunschkind,
das seine Existenz der Selektion und dem Verbrauch bzw. Vernichtung anderer
Embryonen verdankt.
Auch in der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik
(PID) bezieht Geisler kritisch Stellung. Dem Argument der Befürworter
von PID, die deren Zweck in der Geburt eines gesunden Kindes sehen, hält
er entgegen, dass sich die PID - ähnlich wie die Pränataldiagnostik
(PND) - längst von diesem Ursprungswunsch entfernt habe. Wurden 1999
noch 131 PIDs pro Jahr gezählt, so waren es schon 3000 PID-Untersuchungen
im Jahr 2006. Damit brechen zugleich die ethischen Dämme. Galt es
zunächst als unzulässig, mittels PID eine Geschlechterwahl des
künftigen Kindes vorzunehmen, so ist dies heute schon fast in allen
Reproduktionskliniken gängige Praxis.
Im Fall der PND wird inzwischen deutlich,
dass sie einem ökonomischen Kostenkalkül zur Verhinderung von
Behinderung (hier vor allem des Down-Syndroms) dient. Dabei versucht PND
Unvereinbares zu vereinen: Je nach Ergebnis der Diagnose führt sie
zum Schutz des Ungeborenen oder zu dessen Abtreibung. Schwangerschaft wird
in diesem Klima zu einem stets widerrufbaren Geschehen. Kinder wachsen
im Mutterleib schon unter dem Odium der Vorläufigkeit heran. Geislers
Diagnose der PND: So werden Kinder schon verlassen, bevor sie angenommen
werden. Inzwischen herrscht bei der PND fast schon keine Wahlfreiheit mehr,
sondern Wahlzwang. Wurden 1974 bundesweit 308 PNDs durchgeführt, so
sind es im Jahr 1998 schon 80.000 Diagnosen des vorgeburtlichen Lebens.
In der PND und PID geht es nicht nur um Selektion. Nach dem Urteil von
Geisler handelt es sich um die Eliminierung nicht nur von Krankheiten,
sondern auch von deren Träger. Trotz aller Probleme im Umgang mit
PID und PND sieht Geisler keine Chance mehr, die Einsatzmöglichkeiten
reproduktiver Medizin rückgängig zu machen.
Geisler blickt auch skeptisch auf die
Möglichkeiten der Stammzellforschung, hier vor allem auf die biotechnische
Möglichkeit des Klonens. Zunächst beschreibt er nüchtern
die geringen Erfolgsquoten beim Tierklonen und erinnert an den "Friedhof
der Klontiere", der durch die hohe Mortalitäts- und Misserfolgsrate
bei wissenschaftlichen Klonversuchen entstanden ist. Die vielerorts gebräuchliche
Unterscheidung von therapeutischem und reproduktivem Klonen vollzieht Geisler
nicht mit, weil es sich bei beidem immer um die Absicht handele, einen
zweiten, mit dem ersten genidentischen Organismus zu schaffen. Und immer
sei es nötig, Embryonen zu töten wegen spekulativer Heilzwecke.
Mit der Klonierung menschlicher Erbsubstanz entstehen aber nach Geisler
künftig Probleme, die nur demjenigen auffallen, der im Klon ein Beziehungswesen
sieht. So werden etwa selbstverständliche Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse
durch das Klonen aufgelöst: "Das nach dem "Vater" geklonte Kind wäre
gleichzeitig dessen genetischer Zwilling, ein Halbgeschwister und Onkel
früherer Kinder. Eine Frau, die den Klon ihrer eigenen Mutter austrägt,
wird physiologisch betrachtet Mutter des Zwillings ihrer Mutter, also ihrer
Tante. Das Kind hat nur einen genetischen Elternteil, der noch nicht einmal
mit der biologischen Mutter und den sozialen Eltern genetisch verwandt
sein muss. Die soziale Identifikation innerhalb solcher bisher nicht da
gewesenen Familienstrukturen wäre bemerkenswert." (76) Allein schon
dieses Beispiel gesprengter Genealogien macht deutlich: Klonen führt
in eine Sackgasse.
Zudem erweist sich - so Geisler - auch die auf Stammzellforschung basierende Wissenschaft in ihrer Heilungsprognose
als Lüge. Hauptbeleg für diese These ist zum einen der skandalöse
Wissenschaftsbetrug des koreanischen Biowissenschaftlers Woo Suk Hwang.
Die von Geisler so apostrophierten "Ankündigungswissenschaften"
lassen mit ihren Heilungsversprechen eine unheilvolle Melange von Perspektivenverzerrung,
Hypostasierung von Forschungszielen, politischer Aufladung, Täuschung
von Schwerkranken und ökonomischer Raffgier entstehen. Geisler führt
in seinem Essay "Kein Kaiser, keine Kleider. Das Phantom des 'therapeutischen
Klonens'" viele Belege für seine These an, die hier aus Platzgründen
keine Erwähnung finden können.
Zum Thema Sterben und Tod konstatiert
Geisler eine breite Entwicklung für den Wunsch nach einem "schnellen
Ende". Genährt von der Illusion der Unsterblichkeit und eines leidfreien
Daseins werde ein "bioethischer Weichmachereffekt" gefördert. Das
Kriterium des "bewussten und selbstbewussten Lebens" führt zur Aufweichung
des Anrechts auf Schutz und Menschenwürde im Sterben. Gerade Wachkomapatienten
sind - nach dem Urteil Geislers - dem medizinischen Zugriff zunehmend ausgeliefert.
Statt immer neuer Richtlinien zur Sterbehilfe oder neuer Patientenverfügungen
fordert Geisler eine Rückkehr zum sensiblen Hinhören auf
die Wünsche der Sterbenden. Sie wünschen nicht "die Hinrichtung
durch die Hand eines Arztes, sondern jemanden, der ihnen in der Kälte
moderner Gesundheitsfabriken zuhört, ihnen ihre Schmerzen nimmt, sich
in ihr Sterben einfühlt und keine Scham empfindet, ihre Hand zu halten"
(163)
Geislers bioethische Essaysammlung
ist von einer dem Ethos der Aufklärung verpflichteten Herangehensweise
an die komplexe Materie von Reproduktionsmedizin, Stammzellforschung und
Sterbegleitung geprägt. Als Arzt brilliert er mit einer auch für
den medizinischen Laien verständlich gemachten Fachlichkeit. Zugleich
wägt er nüchtern die vorgebrachten bioethischen Argumente ab,
und er arbeitet mittels Sachkenntnis und Beispielen seinen der Beziehungsethik
verpflichteten bioethischen Ansatz heraus. Damit begibt er sich zwischen
die bekannten bioethischen Frontlinien fundamentalistischer Lebensschützer
und medizinpositivistisch denkender Forscher, Praktiker und Biopolitiker.
Nicht ohne einen melancholischen Unterton konstatiert er dabei den Verlust
einer konventionellen Moral und macht sich auf die Suche nach gültigen
Kriterien im bioethischen Disput. Die lebendig und pointiert geschriebenen
Essays machen deutlich, weswegen der Rat Linus Geislers in verschiedenen
Ethikkommissionen und parlamentarischen Enquetekommissionen in verschiedenen
Bundesländern und im Bundestag gesucht wurde. Alle Essays dokumentieren
einen Grundzug seines Lebenswerkes: die Qualität der Arzt-Patienten-Kommunikation
und ein leidenschaftliches, zivilisationskritisches Engagement für
den Menschen. Hans-Martin Brüll
|