Start  <  Monografien  <  Duftesser  <  Leseproben  <  Diderot 1
Linus S. Geisler: Duftesser
Kapitel 7

PDF-Druckversion (150 KB) pdf-Version

7Niemand hat mich sicherer durch die Erstarrungen jenes ersten eisigen Wintersemesters gerettet als Diderot. Damals froren die Enten mit ihren gelben Füßen im Fluss fest. Ich nannte ihn bald Didi. Er hieß wirklich so, war Sohn eines provenzalischen Weinbauern. Er studierte nicht in Frankreich sondern in Deutschland, weil er alle französischen Denker für schizothym hielt, bis zur Brüchigkeit ihrer Gehirne überfeinert, und in der germanischen Barbarei der Eigentlichkeit, wie er es nannte, ein Semester lang so etwas wie eine Klausur in Narkose durchleben wollte. Zunächst war er mir im Gedrängte des Präpariersaales nicht aufgefallen, obwohl er ein massiger Hüne war und sicher mehr als hundert Kilo wog, auch war er einige Jahre älter als die meisten von uns. Er trug die Haare schulterlang. Ich vermute, dass er sie in seinen gelegentlichen Anfällen von Rastlosigkeit mit hastigen Scherenschnitten selbst zurechtstutzte. Die Nase war knotig, seine Augen zu klein im massigen Gelände seines Gesichts, aber von wieselhafter Flinkheit, die dünnen Lippen eine Sperre, über deren Freigabe alleine er mit rigoroser Ichsucht verfügte. Nur beim ersten Hinsehen erschien er als tapsiger Unhold, immer mit einem kuttenartigen Stoffkonvolut behangen, das ihn von hinten zum debilen Trappistenmönch degradierte. Von dem Augenblick an aber, wo er zu sprechen begann - falls er sich entschloss, irgend einem Günstling diese Gnade zu erweisen -, wurde er zu einem Feuerwerker brillanter gallischer Fantasmen. Aber nie gab er sich unkontrolliert seinen Selbstverzückungen hin. Er unterwarf periodisch seine Gedanken und Visionen einer gnadenlosen und logischen Prüfung von unbestechlicher Klarheit.

Wie er auf mich verfallen war, weiß ich bis heute nicht. Nach dem einen gemeinsamen Wintersemester verlor ich ihn für drei Jahrzehnte aus den Augen, um ihn dann an der Sorbonne als einen der führenden französischen Genetiker wiederzutreffen. In seinem Institut hatte er sich mit acht seiner hyperbegabten Adepten in einer Mischung aus mediterraner Gelassenheit und preußischer Perfektion dem Ziel verschrieben, den herrenlosen Text des Lebens zu entschlüsseln, vor allem aber zu korrigieren. 

Er klingelte eines Abends bei mir, warf sich auf meine Couch, was diese für Sekunden in physikalische Grenzbereiche ihrer Belastbarkeit versetzte, sagte, er heiße Diderot, wirklich Diderot, wie jener Denis mit seiner Encyclopédie. Sein Vorname sei allerdings Alphonse, und ich würde im übrigen eines Tages verstehen, dass kein Name Zufall sei. So habe er wahrhaftig eine Augenärztin mit dem Namen Aveugle, also Blind - man stelle sich vor Madame Aveugle und einen Elektrizitätswerksdirektor kennen gelernt, der Lumière hieß. Zu verdanken habe er alles seinem Vater, dem Weinbauern.

»Er starb eines nachts an seinem eigenen Wein. Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht meinst, im Suff erstickt, nein, er zelebrierte einen für einen Winzer bemerkenswerten Abgang. Charlotte, rief er kurz nach Mitternacht meiner Mutter zu, schauen Sie her! Zugegebenermaßen keine sehr ausgefallenen letzten Worte, wenn ich an andere denke (Wagner: Was für eine herrliche Relieftapete! Ist sie bezahlt?), aber dann richtete er sich auf und spie schwallweise den köstlichsten Burgunder aufs Bett, das Surrogat aller Spitzengewächse, die er je gekeltert hatte, den Burgunder aller Burgunder. Dr. Moretat freilich, der schwachsinnige Hausarzt, den man überflüssigerweise hastig herbeizitiert hatte, wagte es, die rubinrote Eruption als ordinären Blutfluss aus einer geplatzten Speiseröhrenkrampfader bei alkoholischer Leberzirrhose zu deuten. So weit so gut, vielleicht kein ganz exzeptioneller Exodus für einen Weinbauern. Aber stell dir vor, nur zwei Tage später richtet sich sein Zwillingsbruder Jean, sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, um die gleiche Nachtzeit auf, ruft seiner Josephine zu, sehenSie her!, und gibt die gleiche karmesinfarbige Inkarnation aller Rotweine von sich, die Hände zu einem rasch überquellenden Kelch geformt. Und dann die Krönung: Ein halbes Jahr später stirbt der letzte, der ältere Bruder, Onkel Théophile. Er soff das Mehrfache seiner heimgegangenen Zwillingsbrüder. Bei einer Überlandfahrt in Irland knallt er zwischen Limerick und Killaloe mit seinem Wagen gegen einen Wegweiser aus Stein. Zuvor hatte er angewidert zwei Gläser irischen Malt-Whisky - eine Beleidigung für die Zunge jedes Provenzalen - getrunken und sich unter dessen Einwirkung plötzlich geweigert, den Linksverkehr als sinnvolle Regelung zu akzeptieren. Die irische Polizei bestand auf seiner Obduktion. In der Prosectur der Infirmary von Limerick öffneten sie seinen Leib. Die Leber, die sie erblickten, hätte in ihrer Unschuld dem von allen Spuren der Lüsternheit verschonten Körper einer Ursulinerin entstammen können. Da wurde ich stutzig. Wer oder besser gesagt welches Prinzip verteilte mit Perfidie so ungleiche Karten, zinkte sie mit Markierungen, die kein anderer sehen und somit auch keiner entfernen konnte, und die dem Spieler, dem sie zufielen, keinen Hauch einer Chance ließen?«

»Und das hat dich bewogen, Medizin zu studieren?« nahm ich mir den Mut, Diderot zu unterbrechen.

»Nenn mir Alternativen! Theologie? Ich habe sieben Semester in Rom an der Gregoriana studiert. Zuviel Dogmen, Sophisterei und Onanie und zu wenig kritische Köpfe. Biologie? Nach fünf Semestern Studium wusste ich mehr über das Innenleben der kleinen Essigfliege Drosophila melanogaster als über mein eigenes. Sieh sie dir an, die Herren Crick und Watson. Sie decodieren den Text des Lebens, die unbegreifliche geometrische Schönheit der Doppelhelix der DNA. Aber wofür haben sie Augen? Für das endlose Adenin-Thymin-Guanin-Cytosin-Alphabet. Wahrscheinlich murmeln sie selbst noch im Schlaf ihre endlosen ATGC-GTAC-Sequenzen, das OM MANI PADME HUM der Genetiker. Aber was liegt wirklich vor ihren Augen? Die Antwort findest du im ersten Buch der Genesis.«

Mit hohepriesterlich erhobenen Händen begann er zu rezitieren: 

»Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.«

»Da hast du sie, die Jakobsleiter, die Himmelsleiter, das ist die Doppelhelix in Wahrheit. Bei ihrem Anblick gestand Salvador Dalí, jetzt habe er in Wirklichkeit die Existenz Gottes geschaut!«

Diderot lehnte sich zurück und begann ein schwärzliches Gefaser, ähnlich den Haarbüschelchen der Maiskolben, in Zigarettenpapier einzudrehen. Angezündet war der Geruch der Selbstgedrehten überraschend aromatisch und von unaufdringlicher Süße. Rotwein werde er demnächst mitbringen, verkündete er dann, nichts Erlesenes, aber ein aufrichtiger Wein vom heimischen Gut, der zum Reden anregt und auf Ziegenkäse hungrig macht. Nie wieder aß ich soviel Ziegenkäse wie in jenem Winter.

»Was also bleibt?«, nahm er den Faden wieder auf. »Natürlich ist die Medizin auch nur ein fauler Kompromiss, um hinter das Geheimnis der gezinkten Karten zu kommen. Aber sie erlaubt es mir sozusagen von außen, naiv, wenn du willst, in die Sache einzusteigen. Da gibt es drei Brüder, zwei trinken Rotwein in Quanten, die gemessen an der Erhaltungsdosis französischer Weinbauern als bescheiden zu bezeichnen sind, und krepieren an einem Blutsturz mit Lebern, die aussehen wie alte Kartoffelsäcke. Der Dritte, ein unheiliger Trinker, der nach zwei Malt-Whisky die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, stirbt mit der Leber einer Madonna. Ich habe drei Lebensläufe, zwei so gut wie identisch, der dritte schlägt völlig aus der Art. Hier ist mein Einstieg und nicht beim Heiligen Augustinus oder den ATGC-Repetiermaschinen. Mag sein, dass ich zum Schluss bei dem einen oder den anderen lande. Aber zu Beginn ist dieser Lebensentwurf mein Stein von Rosette. In hieroglyphischen und demotischen Schriftzeichen enthält er den Text des Lebens und ich bin der begnadete Entzifferer Champollion.«

Er legte eine kurze Pause ein, dann nahm er den Faden wieder auf: 

»Aber das ist nur der erste, ich möchte fast sagen selbstverständliche Schritt. Der Stachel ist die Frage dahinter: Wer schrieb den Text und wozu? Was hatte er damit im Sinn? Warum entließ er den Menschen nicht ohne Gottesprogramm in die Evolution? Oder könnte es nicht sein, dass es gar niemanden gibt, der den Text verfasst hat? Du weißt, die Franzosen haben schon immer Gott am gründlichsten und raffiniertesten bezweifelt. Bernanos, Claudel, aber allen voran Pascal. Seine berühmte Wette: Wenn Gott nicht existiert, verliert man nichts, wenn man an ihn glaubt, aber wenn er existiert, läuft man Gefahr alles zu verlieren, wenn man nicht an ihn glaubt. Aber seine logique du cœur ist für mich ein Zwitter. Ich bin für logische Methoden, bei denen man nicht das Herz als Joker im Ärmel behält. Wirf einem Zufallsgenerator fünf Millionen Buchstaben in den Schlund. Mit einer mathematisch nicht mehr ausdrückbar verschwindenden Chance besteht die Möglichkeit, dass er in abermillionen Jahren daraus den Tartuffe konstruiert. Du hältst das für unmöglich? Jeder Statistiker wird dir sagen, dass die Chance der Randomisierungsmaschine beim ersten Versuch Molière Konkurrenz zu machen genau so groß oder klein ist wie beim letzten. Wozu also Molière? Hätte die Menschheit ausreichend Geduld, könnte sie im Vertrauen auf das Zufallsgerät glatt auf unser Genie verzichten. Die Frage, was wollte Molièreuns damit sagen, wäre der göttlichen Lächerlichkeit preisgegeben. Das sind die Fragen, die beim Anblick der makellosen Leber meines versoffenen Onkels Théophile aufsteigen. Letzte Fragen. Und die Medizin ist möglicherweise nur das Nadelöhr, durch das ich mich zwängen muss.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Diderot kramte die Ingredienzien zur nächsten Selbstgedrehten aus den Tiefen seiner Kutte. Nie wieder habe ich einen Menschen gesehen, der den Rauch einer Zigarette mit solch gedankenvoller Inbrunst in die äußerste Peripherie seiner Atemwerkzeuge saugte, ein singulärer Prozess der Verschmelzung von Anorganischem und Organischem.

»Habe ich dir schon einmal die Geschichte vom Beil im Gehirn erzählt?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ein grandioses Bild. Es stammt von meinem Namenspatron Denis. Bei ihm findest du die Metapher vom Beilhieb im Kopf. Nur durch diese gewalttätige und unberechenbare Absage an jede Regel könne das große Werk entstehen. Es ist der Beilhieb menschlicher Wissbegierde, der die Schädel spaltet und öffnet, sie aufnahmefähig macht für das absolute Neue. Im achtzehnten Jahrhundert gab es die hohe Zeit der Keratoplastiker. Sie formten aus Wachs anatomische Faksimile, wahre Wunderwerke an Plastizität und Lebensnähe. Einer der größten war André-Pierre Pinson. Von ihm stammt ein aus Wachs geformter weiblicher Kopf, vom Scheitel bis zum Hals aufgebrochen und die beiden Hälften auseinandergebogen. In diesen Spalt zwingt Pinson den Blick des Betrachters, er soll eindringen in das offengelegte Gehirn, ihm seine Geheimnisse entreißen. Pinson hat begriffen, was Diderot mit dem Beilhieb im Kopf meinte! Rituale, Regeln und Maxime sind das Todesurteil des Künstlers und Forschers. Du musst die Dinge spalten. Gehirne, Werke, Atome. Deswegen faszinieren mich bei allem kontrollierten Entsetzen die Rauchpilze über Hiroshima und Nagasaki. Seit Hiroshima ist nichts mehr wie zuvor, nicht die Natur und nicht die Liebenden. Aber die letzte große Aufspaltung der Menschheit liegt noch vor uns. Das Genom. Die vollständige Bibliothek der Erbinformationen des Menschen. In zwanzig, vielleicht dreißig Jahren wird es der letzte Beilhieb menschlicher Neugier gespalten haben. Gemessen an dieser Aufgabe war der Bau der Pyramiden ein Klitterwerk von schwarzarbeitenden Dilettanten. Stell dir vor, einhunderttausend Gene werden vor uns liegen, einhunderttausend aufgeschlagene Folianten! Der Text ohne Autor entziffert bis zum letzten Komma.«

»Das«, fragte ich zögernd »wird die Krönung - wessen auch immer - sein?«

Jetzt kam jener Ausdruck in Diderots tiefliegende, zu kleine Augen, der auch dreißig Jahre später, als das Genom vollständig entschlüsselt vor ihm lag, sich eher verstärkt als abgeschwächt hatte. Ein Wolfsblick, dachte ich im ersten Augenblick. Aber nein, es war der Blick einer Bestie, verrückt vor Hunger, einem Hunger, der durch jeden gierigen Bissen die Gier nur noch verstärkt, sich selbst zu verschlingen. Ein Blitz nur, so flüchtig, dass ich im nächsten Augenblick an meiner Wahrnehmung zweifelte.

»Krönung?«, fragte er und sah mich verständnislos an. »Nein, mon frère, die Dämmerung des ersten Schöpfungstages.«

Diderot war über mich gebeugt und träufelte das Gift seiner Visionen in mein Gehirn. Es verteilte sich in langsamen Rinnsalen über seine Oberfläche, schlängelte sich zwischen die Windungen, begann in das Neuronengeflecht einzusickern, ein Narkotikum mit schleichender, aber todsicherer Wirkung. Bevor seine volle Wirkung eintrat, versuchte ich Diderot zu provozieren, eine schwächliche Abwehr, um mich so lange wie möglich bei Besinnung zu halten:

»Und wer, Didi, wird im Aufdämmern dieses ersten Tages der Schöpfer sein?«

Statt auf meine Frage einzugehen, warf er sich mit gekünsteltem Pathos in die Brust und begann, Benn zu deklamieren:

»Wir tragen in uns Keime aller Götter,
das Gen des Todes und das Gen der Lust

Dann lachte er schallend und rief aus:

»Ich sehe sie schon vor mir, die Angsthasen und ethischen Deserteure der Wissenschaft. Für ihre Gehirne, mit denen sie ein Leben lang nur in den Genen der Taufliege herumgestochert haben, wird die Bibliothek des Lebens ein Ort babylonischer Verwirrung sein. Das Erschrecken des Narziss, der zum erstenmal sein Spiegelbild zitternd auf der Wasseroberfläche schaut. Nur wenige werden mit der großen Klarheit des Geistes Band für Band aus den Regalen holen. Die neuen Exegeten der uralten Genesis.«

Diderot kam immer mehr in Fahrt.

»Niemand weiß es heute genau. Aber die Schätzungen gehen von fünfzigtausend bis hunderttausend Genen aus. Stell dir das vor! Jedes Gen steht für irgendeine Facette menschlicher Erscheinungsformen oder Verhaltensweisen. Die Krümmungen deiner Ohrmuschel, die Farbe deiner Iris, die Elastizität deiner Haare, dein unverwechselbares Gangbild, alles ist in diesem Text niedergelegt, ob du eine Baß- oder Tenorstimme hast, beim Klettern geschickt bist oder tollpatschig, eher Moll- als Dur-Tonarten liebst, alles ist vorbestimmt, dein Leben aber auch dein Sterben. Ob du vertrottelt im Altenheim versanden wirst oder dich mit fünfzig der Schlag trifft, ob dein Magen dich jahrelang mit brennenden Geschwüren quälen oder zuerst deine Leber ihren Dienst einstellen wird - denk an Onkel Théophile -, im Orakel des Großen Textes ist alles unverrückbar niedergelegt. Die Landkarte ist längst da, bevor es dich als Gelände gibt. Was heute noch Terra incognita ist, wird sich schon übermorgen in geheimnisvolle Kontinente aufgliedern, die sehnsüchtig ihrem Odysseus, Magellan, Columbus oder Pedro Paez entgegenfiebern. Und wir werden die Weltenumsegler, die Entdecker neuer Erdteile, die Fährtensucher sein, die die Quellen des Blauen Nils aufspüren, die Quadratmeile um Quadratmeile die weißen Flecken wegschmelzen, bis am Ende alle Gebirge und Täler, alle Meere und Flussläufe, alle Seen und Wasserfälle, alle Dschungel und Wüsteneien, alle Eisgebirge und Tropenlandschaften des großen Atlas lückenlos, plastisch und in leuchtenden Kolorierungen dargestellt sind.«

Diderots narkotische Einträufelungen lösten eine wohlige Widerstandslosigkeit in mir aus. Zurückgelehnt ließ ich seine Kolossalgemälde der Vorbestimmtheit des Menschen vor meinen Augen emporsteigen und gab mich ihren Faszinationen hin, unfähig, die Folgerungen dieser monumentalen Bilderschau weiterzudenken, obwohl mich ein untergründiges Unbehagen zu beschleichen begann. Eine kleine, letzte Welle von Widerstand öffnete meinen Mund, aber ich brachte nur ein Satzfragment heraus:

»Was, dann ...?«

Zu meinem Erstaunen schien aber gerade dieser Ansatz einer Frage, Diderots visionäre Fahrt vehement zu beschleunigen.

»Dann, mon frère, wenn die Entdeckungen abgeschlossen sind, die Kartographie beendet, dann erst wird das Beil seine volle Wucht entfalten. Es wird den Weg von der Entdeckung zur Eroberung freischlagen, die Riesenmachete des Geistes, die den Dschungel der Unwissenheit lichtet. Dann werden wir den Atlas nach unseren eigenen Bildern umgestalten. Nichts wird sich der Kraft unserer Visionen in den Weg stellen können, alles was wir schauen werden, wird sich als neue Wirklichkeit erfüllen. Wir werden die Mystiker des zwanzigsten Jahrhunderts sein. Aber anders als Meister Eckhart, Hildegard von Bingen oder Franz von Sales werden wir nicht in Kartausen und Klausuren, in Gottesfrömmigkeit, abgeschirmt von der sündigen Welt, unsere Erscheinungen und Erleuchtungen ausleben. Nein, wir werden auf die Kanzeln der Kathedralen der Wissenschaft steigen und verkünden, was wir geschaut haben, unsere Enzyclica novae humanae vitae - bis die Völker uns zu Füßen liegen, nur noch von einer Sehnsucht erfüllt: dass diese Worte Fleisch werden.« 

Ich nahm Diderots Phantasmagorien immer weniger in Details wahr, sondern mehr und mehr als visionäre Spiegelungen neuer Welten, eine kosmische Fata Morgana. Und die Menschheit brach auf in das neue gelobte Land! Mein gallischer Koloss gönnte mir eine Besinnungspause. Er hatte die Wirkung seines Narkotikums genau dosiert und wusste, was er mir noch zumuten konnte. Mein Mund war bereits versiegelt, meine Glieder zu keiner Regung mehr fähig. Augen und Ohren verschmolzen zu einem gemeinsamen Sinnesorgan, dessen versickernde Wachheit eben noch fähig war, die Kulmination seiner mystischen Schau aufzusaugen.

»Wenn der Flügelschlag meiner Visionen ihre Stirnen gestreift hat und sie von meinem Nektar gekostet haben, werden sie mir in das neue gelobte Land nachfolgen!«

Hatte ich es nicht gerade schon gesehen, den Aufbruch der Massen in das Neue gelobte Land? Was hatte er verheißen und was hatte ich gehört? War da noch eine Grenze oder war er schon in meinem Kopf und ich dem seinen? Wo lag noch der Unterschied?

»Sie werden mir ihre Gene zu Füßen legen, mon frère, die Gene der Krankheiten und Gebrechen, des Alters und der Vergreisung, des Zerfalls der Sinne und des Denkens und als äußerste Opfergabe das Gen des Todes. Und ich, der ich die Texte aller Gene entschlüsselt habe, werde in gläsernen Schalen ihre Samen und Eier auffangen und werde mich an das letzte große noch unerledigte Werk machen: Ich werde die Texte umschreiben zu einer neuen, unvergänglichen Hymne! Brahma werde ich sein, der Erbauer der Welt, auf einem Lotusblatt schwimmend auf den Wassern, und ich werde das Wasser und die Dunkelheit trennen und aus dem universalen Ei als Licht hervorgehen.«

Als ich erwachte, war ich erschöpft und hungrig, mein übertölpeltes Hirn ein schmerzhaft pulsierender Ledersack. Schneelicht fiel in mein Zimmer. Autogeräusche und Straßenbahngeklingel drangen herein. Ich fühlte mich entsetzlich verlassen. Diderot war verschwunden. Nur die Couch wies eine kreisrunde Vertiefung auf dort wo er gesessen hatte, und es roch nach seinen Selbstgedrehten, scharf und säuerlich. Er hatte mich an der Angel.


Linus S. Geisler: DUFTESSER    Leseprobe: Kapitel 7 (Diderot 1)   ISBN: 978-3-8334-7472-9
URL: http://www.linus-geisler.de/duftesser/geisler_duftesser07.html

Start  <  Monografien  <  Duftesser  <  Leseproben  <  Diderot 1