Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: SCHAMLOSE SCHÖPFER. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 02.01.1999
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Schamlose Schöpfer

Genmanipulation oder: die Endlospirale zum Metamenschen / Linus S. Geisler über Träume und Visionen von Biowissenschaftlern

International führende Biowissenschaftler glauben, daß sie nun bald soweit sind, den Menschen selbst gentechnisch verändern zu können. Bei einer Konferenz vor einigen Monaten in Chicago warben sie vehement für diesen "besseren Menschen". Welches Denken hinter diesen fragwürdigen Träumen steckt, hat Linus S. Geisler untersucht. Der Autor ist Chefarzt am St. Barbara Hospital in Gladbeck und einer der bedeutendsten kritischen Köpfe in der deutschen bioethischen Debatte.

Man nehme eine befruchtete Eizelle und verändere ihr genetisches Material nach Belieben. In jeder einzelnen Zelle des daraus entstehenden Individuums findet sich später eine exakte Kopie aller Veränderungen - auch in den Geschlechtszellen. Im Erbmaterial aller künftigen Generationen ist diese Kopie enthalten - bis in alle Ewigkeit. Wer solches zustande bringen kann, wird zum Träumer nie zuvor gekannter Träume und zum Herrscher unbegrenzter Visionen. 

Was die somatische Gentherapie dramatisch in Aussicht gestellt, bisher aber nicht im Ansatz geleistet hat, den Sieg über Krebs, AIDS und Altern, wird die Keimbahnmanipulation quasi als Nebeneffekt abwerfen. Ungleich mehr ist dabei über gentechnologisch herstellbare neue Medikamente zu lesen, als über die Möglichkeit, innerhalb kürzester Frist biologische »Designerwaffen« zu kreieren, für die auf Jahre hinaus keine Gegenmittel zur Verfügung stehen. 

Angesagt ist jetzt, so der US-Molekularbiologe Craig Venter, das Ende des Unwissens, ein völlig neues Verständnis des menschlichen Körpers, eine Revolution für die Medizin. Die Selbst-Evolutionierung des homo sapiens steht vor der Tür. Leben, in unaufgeklärten Zeiten der Menscheitsgeschichte als Schöpfungsgeschenk Gottes verstanden, von Darwin als Produkt eines Zufallsprozesses durch natürlich Selektion decouvriert, wird auf eine neue Formel gebracht: Leben ist durch Menschenhand manipulierbare (genetische) Information. Die Umprogrammierung des Lebens wird zum technologischen Imperativ der Biowissenschaften. Naturwissenschaftler, so belehrt uns Steen Willadsen, Schöpfer der Chimäre »Schiege«, sollten die sogenannten Naturgesetze weder akzeptieren noch bestätigen, sondern »sie brechen« (im übrigen aß Willadsen später seine Chimäre aus Kuh und Schaf auf, war aber vom Geschmack wenig begeistert).

Nach Gregory Stock, Biophysiker und Direktor des Programms Science, Technology and Society an der UCLA eröffnet uns die Gentechnik »die tiefreichende Macht, unsere Kinder und die Zukunft unserer Art zu formen.« Keimbahnmanipulation als größte Möglichkeit und Herausforderung der Molekulargenetik »... werde uns dazu zwingen, jede Vorstellung über das Wesen der Menschen neu zu überdenken«. Seine Leitvision, entworfen in dem populären Bestseller Metaman, ist die Verschmelzung von menschlichen Wesen und Maschinen zu einem »globalen Superorganismus«. 

Für den Molekularbiologen Lee Silver steht der neue, der vollkommen optimierte und natürlich glückliche neue Mensch bereits vor der Tür. Während Darwins Vorstellungen vom Leben noch durch das aufkommende Maschinenzeitalter geprägt waren und Leben als hochkomplizierte und komplexe Maschinerie verstanden wurde, hat das revidierte Bild der Evolution zur Vorstellung von Leben als Information geführt. Evolution läßt sich aus dieser neuen Sicht als Optimierung von Informationsverarbeitung betrachten. 

Schon Norbert Wiener, Nestor der Kybernetik, hat lebende Individuen mit Kommunikationsmaschinen verglichen, deren Bestreben es ist, die Entropie durch Rückkopplung zu kontrollieren. Für viele Biologen ist die in der DNA enthaltenen Information im Prinzip unsterblich. Wird Leben als Information verstanden, dann liegt in der Information der Schlüssel zur Unsterblichkeit, einmal durch Kopie der Information oder ihre permanente Speicherung. Diese Informationen, die das Leben ausmachen sollen, erscheinen selbst befremdlich kalt und unlebendig. 

Es ist nicht die dichterische Verklärung eines Gottfried Benn, der sich nach den Urahnen zurücksehnt, die »... ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor« sind, das Leben und Tod, Befruchten und Gebären aus seinen stummen Säften hervorgleiten läßt. Der Genetiker Richard Dawkins, der Lebewesen als pure Replikationsmaschinen für ihre »egoistischen« Gene versteht, beschreibt Leben in seinem Buch Der blinde Uhrmacher wie folgt: »Was sich im Kern jedes lebenden Dings befindet, ist nicht ein Feuer, nicht warmer Atem, nicht ein 'Funken Leben'. Es sind Wörter, Informationen, Anweisungen ... Wenn wir das Leben verstehen wollen, so dürfen wir nicht an vibrierende, pochende Gele und Schlamme denken, sondern an Informationstechniken.« 

Das reduktionistische Ineinssetzen von Leben und Informationsabläufen mag zulässig sein, um Leben naturwissenschaftlich verständlich zu machen. Aber es enthält nichts von dem was wir als Leben empfinden und wahrnehmen. Das Kopieren dieser Information durch Klonen bewirkt freilich nur eine Pseudo-Unsterblichkeit: identisches genetisches Material kann über beliebigen Zeiten erhalten werden, allerdings nicht in ein und derselben Person. Speicherung von Information hingegen erweist sich als Königsweg zum ältesten Menscheitstraum: das ewige Leben im Diesseits. 

Wenn der Mensch nicht mehr und nicht weniger ist als eine singuläre Informationseinheit, gibt es ihn, solange es diese Information gibt. Damit rückt eine ultimative Vision in greifbare Nähe: Die Unsterblichkeit auf dem Megachip. »Leider, so fürchte ich«, bedauert der Computerwissenschaftler Gerald J. Sussman, »gehöre ich wohl der letzten Generation an, die sterben wird.«

Neue Götter?

Wo soviel Machtfülle gegeben ist, tritt nahezu unvermeidlich das Bewußtsein von Gottähnlichkeit auf den Plan. Für Walter Gilbert ist das menschliche Genom der »Gral der Humangenetik«, für Arthur Peacock, Biochemiker an der Cambridge University, ist der Mensch zum »Mitschöpfer« geworden, zum Bildhauer des neuen Menschen. Keimbahnmanipulation verleiht die Macht »to sculpt our children«. On Behalf of God heißt das Buch von Anderson und Reichenbach in dem zu lesen ist, daß wir fähig sein werden,»... die Art von Lebewesen, die wir auf der Erde haben wollen, ganz neu zu entwerfen«. Ganz folgerichtig trägt Lee Silvers Vision in Buchform den Titel Remaking Eden. Ein ganz ungetrübtes Paradies ist freilich nicht zu erwarten, denn Silver verkennt nicht die neu auftauchenden gesellschaftlichen Probleme. Sie werden weniger darin bestehen, daß sich nur reiche Populationen ein neues genetiches Outfit werden leisten können, sondern schon in ein- oder zweihundert Jahren sieht Silver eine »neue menschliche Spezies«, die nicht mehr gewillt sein wird, sich mit seinen Verwandten, die noch das antiquierte, armselige Erbgut früherer Zeiten in sich tragen (»gene poor«), zu vermischen. 

Kein Blatt nimmt Gregory Stock vor den Mund: »In vielen Bereichen beginnen wir Gott zu spielen.« und er betont im gleichen Atemzug: »... und können nicht zurück.« Die Schöpfung ist jetzt unser, verkündet Jeremy Rifkin: »Wir stellen die Regeln auf.« Wissenschaftliche Gottähnlichkeit scheint allerdings nicht immer Unfehlbarkeit zu garantieren. Das »Beltsville Schwein« (Beltsville pig), von Wissenschaftlern am US Departement for Agriculture genetisch manipuliert, um menschliches Wachstumshormon zu produzieren, erhielt eine raffinierte genetische Sonderausstattung: Die Experten fügten einen genetische Schalter (switch) ein, durch den sich das Wachstumshormongen nur einschalten sollte, wenn das Schwein zinkhaltiges Futter fraß. Aber die Sache funktionierte nicht. Die Schweine wuchsen ungehemmt und wurden zu bedauernswerten Geschöpfen mit massiven Skelettproblemen und hervorquellenden Augen. Seither soll das Gespenst vom »Beltsville man« umgehen.

Newspeak der Biologie

Sprache ist ein Instrument der Welterfassung und der Konstruktion von Wirklichkeiten. Damit ist sie ein Machtinstrument von ungeheurer Dimension Sprache kann so Gewalt ausüben, eine Gewalt, die deshalb gefährlich ist, weil ihr Charakter nicht offenliegt. Ein wesentliches Element der Machtausübung durch Sprache ist die Neubesetzung und Umdeutung von Begriffen. Eine »biologische Neusprache« im Orwellschen Sinne beginnt sich zu etablieren. Sie dient dem gleichen Ziel, das Syme in Orwells Roman 1984 der Hauptfigur, Winston Smith, erklärt: »Siehst du denn nicht, daß die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen?« 

Die biologische Neusprache ist Abwendung von der klassischen Gelehrtensprache und Hinwendung zu einem Idiom der Verführung. Sie operiert mit euphemistischen Taschenspielertricks. Sie beherrscht die Kunst, selbsterfüllende Prophezeiungen zum eigenen Nutzen in die Welt zu setzen. Sie strebt Bewußtseinsveränderungen an, die die Aufweichung bisher gültiger ethischer Wertsetzungen und rechtlicher Schranken erleichtern.

Schon das Operieren mit dem Terminus »Keimbahn«, der für aufgeklärte Laien in der Mehrzahl nicht konkretisierbar und selbst vielen Ärzten unbekannt ist, schafft willkommene Freiräume. Wo er dennoch unangebracht erscheint, sind ebenso wenig erhellende Umformulierungen rasch zur Hand. John Campbell und Gregory Stock sprechen von »genomischer Erweiterung«. Das Klonen wird zur »kritischen Transformation« umtituliert. Im übrigen sei es belanglos, ob das Klonen von Menschen verboten werden sollte oder nicht, weil »die Biotechnologie auf breiter Front voranstürmt«. 

Vollends in naive Unschuld kleidet der Menschenkloner in spe Richard Seed seine Absichten, wenn er öffentlich erklärt, Klonen sei nur Fortsetzung dessen, was Menschen seit Jahrmillionen praktizierten: »wir machen nur Babys.« Klonen als elegantere Variante der In-vitro-Fertilisation. Hinter einem »clever design of germline«, das Assoziationen an das glamouröse Gewerbe der haute couture erweckt, verbergen sich gewaltige Eingriffe in das menschliche Erbgut. 

Wo allgemein akzeptierte ethische Maßstäbe dringend geboten erscheinen, genügt »internationaler Konsens« als Legitimation. Die Perspektiven der Biotechnologie kommen suggestiv daher. Nicht ob gentechnische Eingriffe in die Keimbahn erfolgen sollen sei die Frage, sondern »wann, wo, für wen und in welchem Umfang«. So bleiben Legislative und Exekutive geschickt wieder in einer Hand. 

Manipulationen an der Keimbahn seien mit Sicherheit »unaufhaltbar«, konstatiert Gregory Stock. Selbst weltweite Verbote würden wenig Wirkung zeigen, denn in einer Demokratie reiche schließlich eine »signifikante Minderheit«, um die Verabschiedung einschränkender Gesetze zu verhindern. So wird Gentechnologie zum unabwendbaren globalen Schicksal, und Demokratie zur leichten Übung der Gesetzesbeugung

Die Sprache und Methoden der Computerwissenschaften, ohne die Biotechnologie nicht mehr zu leisten wäre, führen zwangsläufig in einer Art stillen Revolution zu grundlegenden Bewußtseinsänderungen. Was auf dem Bildschirm erscheint, wird als Realität wahrgenommen, die allerdings nahezu beliebig verändert, transformiert und transzendiert werden kann. Reale und virtuelle Welten vermischen sich. Die Soziologin Sherry Turkle spricht von der Entwicklung einer »multiplen Persönlichkeit« bei der ersten Generation junger computerkundiger Menschen. Nicht stabile Weltbilder, sondern deren ständige Veränderungen werden mehr und mehr zur Zielsetzung. Veränderung, Umgestaltung, Manipulation, die durch Computersimulation gleichsam spielerisch gelingen und eine hohe Attraktion entfalten, erweisen sich als dominierendes methodisches Element. Sie machen vor dem Menschen nicht halt, denn ihre Anwendung auf dessen genomisches Material drängt sich förmlich auf. 

Computersprache ist der ideale Humus für alle Träume der Gentechnik. Das Wittgensteinsche Axiom von den Grenzen der Sprache als den Grenzen der Welt, wird außer Kraft gesetzt und muß neu formuliert werden: die Grenzen des Computers bestimmten die Grenzen der Welt. Damit wird dem Menschen der feste Grund eines geprüften Selbstverständnisses entzogen. Alles erhält den Charakter der Vorläufigkeit, die sich beliebig manipulieren läßt. Der archimedische Punkt des Selbst ist immer schwerer auszumachen und wechselt schließlich ständig. 

Nichts erscheint mehr festgefügt. Selbst die Naturgesetze enthalten als wichtigste Botschaft nicht die Erhellung des Weltverständnisses, sondern den Aufruf zu ihrer Überwindung. Daraus resultiert ein nicht endender Zwang zur Umgestaltung, zur permanenten Neuschöpfung der Welt. Die Realitäten erweisen sich am Ende als digitale Tromp l'œil-Malerei höherer Ordnung, in die sich fortlaufend wandelnde Menschenbilder projizieren lassen. Die Jagd nach dem neuen Menschen, der als schillernder Regenbogen immer am Horizont steht, aber selbst in einer endlosen Wanderung niemals erreicht werden kann, wird so zum Symbol einer neuen Vorläufigkeit. 

In der Computersprache gerät der Mensch als Verschmelzung von Hardware und Software zur »Wetware«, zu einem Teil des Systems. Seine Verbesserung erfolgt nach der Methode der »doppelten Addition«, das heißt der Einfügung zusätzliche Gene in einem zusätzlichen (künstlichen) Chromosom in die Zelle. Durch Transskriptionkontrollen soll sichergestellt werden, daß die Gene nur am richtigen Ort und zur richtigen Zeit exprimiert werden. Die Entscheidung dazu könne beispielsweise erst vom erwachsenen Individuum selbst mittels externer Impulse getroffen werden. Der Einwand der Manipulation ohne »vorherige Einwilligung«, ließe sich mit diesem Procedere der »verschobenen Einwilligung« elegant aushebeln. 

Von Mario Capecci stammt die Idee des Crelox-Rekombinationsverfahrens. Dabei soll ein künstliches Chromosom nach getaner Schuldigkeit deaktiviert werden können, was seine Übertragung in die nächste Generation verhindert. Diese Methode erlaubt es, nicht mehr von »Keimbahntherapie« sondern von »somatischer Ganzkörpertherapie« zu sprechen, weil es ein somatischer Eingriff an der ersten Embryozelle wäre. Verdammt sei, wer im Hintergrund das Beltsville Schwein lauern sieht. 

Da künstliche Chromosomen nach zehn oder zwanzig Jahren hoffnungslos veraltet sein könnten, wird ein Update mit neuesten Genkasetten die alte Software ersetzen. Gregory Stock: »Man wird einfach die neue Version verlangen.« Die 3.5 Version des Menschen löst die ß-Version ab. Menschliche Lebenserfahrung und ihre Sublimierung basieren im Wesentlichen auf Lernprozessen aus gemachten Fehlern. Für den Menschen der Zukunft hält die Gentechnologie das Debugging, die Entwanzung seines Programms bereit.

Verlust der Scham

Die Wurzeln des Traums von der unbeschränkten Machtausübung über die Natur reichen weit zurück. Francis Bacon sah in der Natur nichts als eine »gewöhnliche Dirne« und rief die kommenden Generationen auf, sich diese »gehorsam zu machen«, »auszupressen« und »zu gestalten«. Viele moderne Molekularbiologen sind noch immer in dieser Baconschen Tradition verhaftet.

In seinem fiktiven Roman Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887 schrieb Edward Bellamy 1888: »Wenn das im Keim verborgene göttliche Geheimnis vollkommen entblättert ist«, werde die Menschheit »die Evolution vollenden« können. 

Sinngemäß entspricht dies der Prophezeiung von J. Doyne Farmer hundert Jahre später: »Wenn wir die Fähigkeit erwerben, die Botschaften des Genoms zu entschlüsseln, werden wir in der Lage sein, neue 'Lebewesen' zu entwerfen.« Allerdings war Bacon sich bewußt, wie hauchdünn die Grenze zwischen Naturbeherrschung und Naturentstellung ist. Aber er glaubte dennoch die Wissenschaft werde »die Menschen lehren, das Joch der Gesetze auf sich zu nehmen, sich der Autorität zu unterwerfen und ihre zügellosen Süchte zu vergessen ...«

Wissenschaften erzeugen ein gesellschaftliches Klima, das ihrem Gedeihen dienlich ist, auch wenn sie kontroverse Diskussionen nicht verhindern können. Ihr Naturverständnis sagt viel mehr über uns aus als über die Natur. Gleichzeitig prägt ihr Naturverständnis unsere Weltsicht und damit unser Verhalten, eine Wechselwirkung, die es schwer macht, sich ihr zu entziehen. Ihr Eklektizismus führt zu einer eindimensionalen Sicht vom Menschen. Man wird an Edwin A. Abbots Roman Flächenland (Flatland) erinnert: der Erzähler, ein Quadrat mittleren Alters gerät in einem Albtraum in ein eindimensionales Reich (Lineland), dessen Bewohner sich nur noch von einem Punkt zum anderen bewegen können. Die Sinnfrage wird verkürzt auf die Zweckfrage. 

Wieviele der Visionen unerfüllte Träume bleiben werden, ist heute noch nicht abzusehen. Noch ist die Keimbahn trotz der rapiden Fortschritte des Human Genom Projekts eine black box. Das unbegreiflich komplexe Zusammenwirken der einzelnen Gene ist nicht einmal im Ansatz durchschaut. Der selektive Blick auf künftige »Szenarien« kann weder den künftigen Fortschritt sicher prognostizieren, noch dessen Risiken offenlegen. Er läßt die Träume wuchern und die Gefahren verschwinden. 

Es gebe weit wirksamere Mittel für Despoten, um ethnische oder religiöse Gruppen zu vernichten, als Eingriffe in die Keimbahn, versucht Gregory Stock zu beschwichtigen; die eugenischen Programme Hitlers seien schließlich nur »ein kleiner Teil des Bösen, das er der Welt gebracht hat.« 

Noch platter hat es James Watson, Nobelpreisträger und Mitentdecker der DNA, formuliert: »Gene an sich sind nicht böse, und Hitler ist auch tot.« Aber auch der Plan kann schon ein Anschlag auf sein Objekt sein, wenn er die Würde des Menschen außer acht läßt. Subtil hat Durs Grünbein diesen Mechanismus im Gedicht beschrieben: Einen Körper zerstören ist leicht, kinderleicht. Es genügt eine Zeichnung, ein Entwurf, der zerreißt Die Gewebe, den hauchdünnen Fallschirm der Lunge, das Herz, Lange im voraus ...

Jede Wissenschaft erzielt ihre stärkste Faszination durch Überhöhung ihres Gegenstandes zur Metapher. Die DNA wird zur mystischen Ikone stilisiert. Obwohl sie nur das Programm ist, erfolgt ihre Gleichsetzung mit dem Leben an sich. Das Gen figuriert als »kulturelle Ikone« (Dorothy Nelkin und M. Susan Lindee: The DNA Mystique: The Gene as a Cultural Icon). Das Gen enthält den Schlüssel zu allem: zu Krankheit und Gesundheit, zum Altern und zu ewiger Jugend, zum Unter- und zum Übermenschen, zum Tod und zur Unsterblichkeit. 

Vor der Übermacht der Gene verschwinden die alten Begriffe von Verantwortung und Schuld. Wer die Gene ändern kann, braucht nicht mehr die Gesellschaft zu verändern. Das Gen erlaubt und erklärt alles, es berechtigt zu allem, es steht für jede Verhaltensweise, es spricht den Menschen los, es erteilt die Generalabsolution. Wer über das Gen herrscht, wird zum Erlöser, zum Messias. 

Gentechnologie versucht, sich selbst in den Rang des Schöpferischen zu rücken und als neue Kunstform verstanden zu werden. Dabei sind ihre Prinzipien keineswegs neu: sie bedient sich durch Eingriffe in die Informationsabläufe des Lebendigen der Wirkprinzipien der Natur selbst. Nur ihre Methoden sind neu. In einem zynischen Sinne kann sie sogar Anspruch darauf erheben, mit »natürlichen« Methoden zu arbeiten. Als Kunstform ist sie über ethische Maßstäbe erhaben. Kunstwerke können gefallen oder nicht, aber sie sind weder gut noch böse und damit frei von Verantwortung oder Schuld. 

So erteilt die Gentechnologie als die bisher größte Ausweitung menschlicher Macht sich selbst ihre Absolution. Bei nüchterner Betrachtung keimt der Verdacht, daß die Götter der biotechnologischen Revolution letzten Endes die Sklaven ihrer Konsumenten werden könnten, die selbstsüchtig die Verwirklichung der Träume und Visionen der Wissenschaftler einfordern. Gentechnologie ein armseliges Milliarden-Mißverständnis? 

Craig Venter räumt unverblümt ein, daß in dem 200-Milliarden-Markt »gnadenloser Wettbewerb« herrscht: »Dies ist kein Akt der Nächstenliebe, es ist Business, Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin.« Jeremy Rifkin ist überzeugt, die biotechnologische Revolution werde jeden von uns zwingen, sich seine innersten Werte vor Augen zu halten, die Sinnfrage zu stellen: »Vielleicht wird sich das als ihr wichtigster Beitrag erweisen. Der Rest liegt bei uns.« Aber die Uhr läuft und ein Moratorium ist nicht in Sicht. 


Geisler, Linus S.: Schamlose Schöpfer - Genmanipulation oder: die Endlospirale zum Metamenschen.
Frankfurter Rundschau, 02.01.1999, Nr. 1, S. 9
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9901fr_schamlose.html

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