Organtransplantation aus medizinischer Sicht
- ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen und gesellschaftlicher
Rahmen.
Linus S. Geisler
Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert
und keiner wird für den andern sterben, sondern jeglicher in eigener
Person für sich mit dem Tode kämpfen. In die Ohren könnten
wir (es) wohl schreien; aber ein jeglicher muß für sich selbst
geschickt sein in die Zeit des Todes; ich werde dann nicht bei dir sein
noch du bei mir. |
(Luther, Invocativpredigt
1522)
|
Denn Autopsie ist der sicherste Weg
zum Verlust des Glaubens oder, wem das nicht ausreicht, zur Befestigung
des Unglaubens. Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum
Absurden genauso wie zur äußeren pragmatischen Demut. |
(Durs Grünbein
1995 [1])
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1. Anthropologische Aspekte des Sterbens
Der Mensch ist die einzige Spezies,
die ihre Toten beerdigt. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sieht
in der Bestattung des einzelnen Menschen durch seine Angehörigen "vielleicht
das Grundphänomen der Menschwerdung [2]." Der Umgang einer Kultur
mit ihren Sterbenden und Toten erlaubt immer auch einen sicheren Rückschluß
auf ihre Einstellung zu ihren Lebenden.
In vielen sogenannten primitiven Kulturen
gibt es zwischen dem Tod des Menschen und seiner Bestattung eine Wartefrist,
eine Zeit der Besinnung und der Ablösung von dem Verstorbenen. In
dieser Zeit der körperlichen Zersetzung wird der Verstorbene nicht
selten wie ein Lebender versorgt. Man bringt ihm Speisen und Getränke
und leistet ihm Gesellschaft. Im alten Griechenland, so berichtet Herodot,
wurden die Toten drei Tage aufgebahrt, bevor man sie beerdigte. Noch länger
war diese Zeit der Achtung und Schonung des toten Körpers bei den
Römern. Servius schreibt an Vergil, daß der Körper
am achten Tag verbrannt und die Asche am neunten Tag zu Grabe gelegt wurde
[3]. In der jüdischen Tradition wird durch das Verhalten der Trauernden
deutlich, daß sie den Toten noch als wahrnehmendes Wesen verstehen:
In den Häusern der Verstorbenen sind die Lichter ausgelöscht,
das Wasser wird verschüttet und die Spiegel werden umgekehrt. Die
Trauernden sitzen auf niedrigen Schemeln, sie waschen sich nicht und rasieren
sich nicht, die Frauen tragen keine Schminke, und die über dem Toten
zerrissenen Kleider bleiben ungeflickt für dreißig Tage. Die
Zeit des Abschiednehmens dauert dort einen vollen Monat und wird nicht
auf drängende Viertel- und Halbestunden zusammengepreßt. Auf
Bali glaubt man, daß die Seele den Körper erst am 42. Tag endgültig
verläßt. Erst dann erfolgt die Verbrennung. Die Sioux hüllten
ihre Verstorbenen in ihre besten Gewänder und bahrten sie mit vielen
Geschenken auf einer Plattform drei Meter über der Erde auf. Dort
durfte der Körper noch ein Jahr ruhen, bevor er beeerdigt wurde. Im
tibetischen Totenbuch wird subtil jener Zwischenzustand (Bardo) zwischen
Sterben, Tod und Wiedergeburt beschrieben, der bis zu 49 Tage dauern kann
[4].
Der Dalai Lama beschreibt das
vierte Stadium des acht Stadien umfassenden Sterbeprozesses mit folgenden
Worten:
"Meistens wird dieser Moment
als Eintritt des Todes betrachtet, denn der Herzschlag hat aufgehört,
und die Atemfunktionen sind zum Stillstand gekommen. Ein Arzt würde
den Betreffenden für tot erklären. Nach unserer Tradition jedoch
ist der Betreffende noch im Sterbeprozeß. Er ist noch nicht tot.
Die mit den Sinnen verbundenen Bewußtseinskräfte haben zwar
aufgehört, aber das mentale Bewußtsein ist durchaus noch da.
Das bedeutet aber nicht, daß man noch zum Leben zurückkehren
könnte." [5]
Es handelt also genau um jenen Zustand,
von dem sich unschwer erkennen läßt, daß er dem Hirntod
entspricht.
Die Betrachtung der verschiedensten
Sterbekulturen und Begräbnisrituale läßt eine Gemeinsamkeit
erkennen: Der Tod wird nicht als abruptes Ereignis verstanden, sondern
steht am Ende eines Sterbens, das als Prozeß abläuft [6]. Die
Übergänge vom Leben in den Sterbeprozeß und vom Sterben
in das endgültige Totsein sind fließend. Sie brauchen Zeit,
und diese Zeit wird gewährt. Der Mensch wird nicht von einem Moment
auf den anderen als Toter wahrgenommen. Solange er aber in der Wahrnehmung
seiner Umgebung, der Angehörigen, der Menschen, die ihn pflegen und
im Sterben begleiten, als Lebender erfahren wird, ist er Lebender
in einem sozialen Kontext [7].
Noch eins wird deutlich: die sichtbare
Gestalt des Sterbenden und Toten wird als Leib, nicht als Körper
erfahren. Dieser Leib wird hier noch verstanden als eine Wirklichkeit des
Menschen, die das rein Organismische weit über-schreitet. Potentaten
hielten sich früher einen Leib-Arzt, der gewiß mehr war,
als ein Arzt nur für den Körper. Der Leib beinhaltet Personsein,
Leben haben und Körperlichkeit. Als die verleiblichte Seele
sieht Thomas von Aquin den Menschen. Die Wirkungen dieses Leibes
nach innen und außen werden auch von seiner Symbolhaftigkeit bestimmt.
Der Leib ist ein offenes System in einem sozialen Kontext. Er ist aus dem
gleichen Stoff wie die Welt, in der wir leben, zugleich aber auch letzte
Subjektivität. Leib sind wir, während wir den Körper
nur haben. Körper hingegen ist zunächst schon jeder
materielle Gegenstand. Mathematisch betrachtet gilt jedes dreidimensionale
Gebilde als Körper, physikalisch jedes makroskopische System, das
aus einer sehr großen Zahl von Molekülen oder Atomen besteht.
Als biochemische Maschine versteht die moderne Biologie, wie zum Beispiel
Jacques
Monod [8] den Menschen, und Genetiker wie Richard Dawkins [9]
weisen ihm die Funktion eines puren DNA-Replikators zu, einer Überlebensmaschine
für seine Gene.
Im Mittelalter und der frühen
Renaissance stellte der Leibbegriff immer noch eine idealisierte Projektion,
eine Entität dar, die für die erkennbare Form des Menschen steht,
ihn als Ganzes enthält. Min lip wurde synonym mit ich
verwendet. Der Leibeigene war seinem Herrn mit dem libe eigen, mit
seinem Leben als Person zugehörig. Im englischen Habeas Corpus
Act (Gesetz von 1679; Habeas Corpus = 'du habest den Körper')
wird deutlich, daß der Körper eine letzte Grenze repräsentiert,
die nicht überschritten werden darf. Das Recht auf körperliche
Unversehrtheit entspricht der unverfügbaren Menschenwürde. Ganz
anders bereits der Sklave im Amerika des 17. und 18. Jahrhunderts, der
als purer Körper in harter Währung gehandelt und dessen Wert
nach seiner körperlichen Funktionsfähigkeit bemessen wurde.
In der Literatur kommt diese subtile
Trennung zwischen dem Leib und dem Körper vielfach zum Ausdruck. So
schreibt Gottfried Benn [10] in seinem Gedicht Der Arzt:
"Ich lebe vor dem Leib". Und in dem Gedicht von Zbigniew Herbert
[11] Scham kommt der tiefe, an Ehrfurcht grenzende Respekt des Arztes
früherer Tage vor dem toten menschlichen Leib in einzigartiger Weise
zum Ausdruck:
... Mein Professor der Gerichtsmedizin
der alte Mancewicz
verneigte sich wenn er die Leiche
des Selbstmörders
aus dem Formalinteich holte
tief vor ihm als wollte er um Vergebung
bitten
und öffnete dann mit geübter
Hand den herrlichen Brustkorb
die verstummte Kathedrale des Atems
zart fast zärtlich.
Darum verstehe ich - den Toten getreu,
ihre Asche ehrend -
den Zorn der Griechenprinzessin ihren
verbissenen Widerstand
sie hatte ja recht - ihr Bruder verdiente
ein würdiges Begräbnis ...
Der letzte Satz spielt auf Antigone an,
die trotz des Bestattungsverbotes des thebanischen Königs Kreon ihren
gefallenen Bruder Polyneikes beerdigt. Sie tut dies trotz Androhung der
Todesstrafe. Sie ist also gewillt, ihr Leben hinzugeben, damit dem toten
Leib des Bruders seine letzte Ehre erwiesen wird. Heute liegt der Anteil
der anonymen Bestattungen in der gesamten Bundesrepublik bei 5,6 % von
allen Bestattungen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bei über 30
Prozent, und die Tendenz ist überall steigend. [12]
Ein wesentlicher Schritt in der Reduzierung
des Leibes auf den Körper wurde mit dem Beginn der systematischen
Leichenöffnungen getan. Die Geburt des modernen Körpers als Objekt
von Medizin und Biologie, seine Versachlichung als anatomisches Gebilde,
als mechanistische Konstruktion bis zur heutigen Auffassung als biochemische
Maschine, vollzieht sich im 16. Jahrhundert. Im gleichen Jahr (1543), in
dem Kopernikus De revolutionibus orbium coelestium veröffentlicht,
legt Vesalius [13] sein Werk De humanis corpori fabrica vor,
anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie
ermöglichen die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen
Theatern von Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang,
und focussieren das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen,
seine strukturellen Manifestationen. Das größte Hindernis für
die anatomische Präparation ging zunächst von der katholischen
Kirche aus. Noch um 1300 wetterte Papst Bonifazius VIII in seiner
Bulle De sepultris gegen die Zerlegung von Leichen. Verletzung der
Pietät war nicht der einzige Grund. Die Bulle richtete sich auch gegen
die zunehmende Gewohnheit, das Skelett der im Orient umgekommenen Kreuzfahrer
nach Abkochen der Leiche zurück nach Europa zu verfrachten.
Descartes [14] leitet die Subjekt-Objektspaltung
ein, nach derem Verständnis der Körper eine menschliche Maschine
ist und der kranke Mensch vergleichbar einer schlecht gemachten Uhr,
Betrachtungsweisen die den Ausgangspunkt für epochale Entdeckungen,
wie der des Kreislaufs durch William Harvey bilden. Das mechanistische
Körperverständnis begleitet von da ab Biologie und Medizin wie
ein Schatten, der selbst die Seelenforschung nicht ausspart: Von (An-)Trieb
spricht Freud, vom psychischen Apparat [15].
Eine "leere Körperhülle"
soll der hirntote Mensch sein, so wird uns heute gesagt [16]. Dies ist
die Stimme die der Instrumentalisierung des Menschen das Wort redet. Dieses
Menschenbild geht vom Sterbenden und Toten als verfügbarer Biomasse
aus. Der Körper wird zur käuflichen und verkäuflichen Ware.
Der Mensch hat nur noch einen Preis aber keinen Wert mehr. Warme Leichen
und kalte Embryonen werden, wie es der französische Psychoanalytiker
Michel Tort in seinem Buch Le désir froid - Procreation
artificielle et crise des repères symboliques beschreibt, zu
den begehrten Objekten der Gesellschaft [17]. Die Industrialisierung des
Lebens, die historisch mit dem Verkauf von Muskelarbeit in der Sklaverei
ihren Anfang genommen hat, setzt sich konsequent über die Vermietung
des Körpers (Leihmutterschaft) bis zur Organtransplantation fort [18].
Im Spiegel der Philosophie (S. Kierkegaard,
M. Scheeler, M. Heidegger, St. Grof) stellt der Tod sich vielfach als
lebenslanges Ereignis dar. Am kürzesten hat es Martin Heidegger
ausgedrückt, wenn er das Dasein als ein dauerndes "Sein-zum-Ende"
versteht [19] und nicht als bloßes Zu-Ende-Sein. Der griechische
Dramatiker Euripides stellte schon die Frage: "Wer weiß denn,
ob das Leben nicht das Sterben ist und das Sterben Leben ..." Der Tod wirkt
in jeden Augenblick des menschlichen Lebens hinein und durchdringt es auch
vor dem wirklichen Eintreten des biologischen Todes, eine Erfahrung, die
sich in der ganzen jüdisch-christlichen Tradition wiederspiegelt.
Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte sich vor allem im Mittelalter
eine eigene Philosphie und Theologie der Kunst des Sterbens, die
Ars moriendi [20]. Nicht einmal kümmerliche Rest dieser Kunst wird
man heute in der Maschinerie der Transplantationszentren wiederfinden können.
Die Mechanisierung des Sterbens in den Krankenhäusern der Moderne
begann schon um die Jahrhundertwende. Rilke hat sie in seinem Roman
"Die Aufzeichnungen des des Malte Laurids Brigge" treffend beschrieben;
er spricht dort vom fabrikmäßigen Sterben und daß
der
einzelne Tod nicht mehr so gut ausgeführt sei [21].
Das Menschenbild einer Gesellschaft
spiegelt sich in ihrem Umgang mit dem menschlichen Körper und dem
Verständnis von ihm wider. Als fraktales Subjekt oder menschlich
codiertes Terminal wird der Körper beschrieben, und der Leichnam
zum herrenlosen, verfügbaren Gut degradiert [22]. Der Körper
wird zum Objekt sozialer Verfügbarkeit und fremder Ansprüche.
Er weckt Begehrlichkeiten, die die Medizin zunehmend weniger befriedigen
kann. Diese angeblich herrenlose Materie wird zum heiß gesuchten
Wirtschaftsgut. Die umkämpften 'Rohstoffe', so Jobst Paul [23],
liegen heute nicht mehr in Afrika oder Südamerika sondern im körperlichen
sowie genetischen 'Material' von Menschen. Im Fadenkreuz eines expandierenden
Utilitarismus gerät die Transplantationsmedizin in eine klassische
Fortschrittsfalle. Ihre system-abhängige Expansion führt trotz
Ausweitung ihrer Kapazitäten zu immer längeren Wartelisten. Ihre
Triumphgesänge ("Italiener erhält fünf neue Organe" [24]:
Leber, Pankreas, Darm, Magen und eine Niere) zeigen, daß das Spiel
ohne Grenzen bereits angesagt ist.
2. Argumentationslinien der Transplantationsmedizin
Das grundlegende Dilemma der Transplantationsmedizin
liegt darin, daß sie hirntote Menschen, also Menschen in ihrem unumkehrbaren
Sterbeprozeß wider jede unverstellte Anschauung zu Toten, zu Leichen
erklären muß, um ihre Handlungsweise zu legitimieren. Dabei
hat sie nicht nur gegen die intuitive Wahrnehmung des Laien, also in der
Regel des Angehörigen anzugehen, in der der Hirntote als Lebender
erfahren wird, sondern sie erfährt das gleiche Phänomen in ihrer
eigenen Reihen, vor allem durch die Pflegekräfte. Ihnen wird die Mitlast
bei der 'Konditionierung' von Hirntoten (anstatt Sterbebegleitung) und
der Explantation von Organen aufgebürdet. Obwohl viele der Pflegekräfte
der Organtransplantation positiv gegenüberstehen, entfalten sie eine
nahezu elementare innere Abwehr gegen die Vorstellung, daß ein Mensch,
den sie gestern noch als Patient auf der Intensivstation gepflegt haben,
heute ein Toter sein soll, obwohl sein Erscheinungsbild sich nicht im geringsten
geändert hat [25]. "Ich muß es mir immer wieder einhämmern:
Er ist tot.", so drückt es eine Krankenschwester aus. "Aber ich habe
es nie wirklich geglaubt ..." [26]. Sie seien, so hält man ihnen vor,
bei ihrer Wahrnehmung in eine 'individuelle Plausibilitätsfalle' geraten.
Der Hirntod sei eben der 'unsichtbare Tod', die 'innere Enthauptung', die
keinen äußeren Trennschnitt zwischen Kopf und Rumpf erkennen
läßt. Auch Radioaktivität sei etwas Reales, das man nicht
sehen könne. Unwillkürlich wird man an die Geschichte von des
Kaisers neuen Kleidern erinnert, die schließlich alle sehen, obwohl
er nackt ist, bis auf ein "unbefangenes" Kind. "Hört die Stimme der
Unschuld", heißt es in dem Märchen von Andersen. Wortkonstruktionen
von eigenartiger Gewundenheit werden bemüht: der Hirntote sei ein
"hirntoter, beatmet noch überlebender übriger Körper", kurz
gesagt ein "Hirntod-Körper" [27]. Vom überlebenden 'Restkörper',
dem quasi recyclebaren Biomüll wagt man nicht zu sprechen, da er immerhin
noch 97% des Gesamtkörpers ausmacht. Während die hirntote Marion
Ploch noch als 'Leichnam' bezeichnet wurde [28], rückt man heute
von der Begriffsbezeichnung "Leiche" deutlich ab [29], ein Vorgehen, das
das Fehlen der klassischen sicheren Todeszeichen besser verständlich
machen soll. Der Hirntote als Lebender - also nur ein semantischer Irrtum?
Die hirntote schwangere Frau, die als
'Tote' imstande ist, in ihrem Leib einen Fetus zu ernähren, ihn gedeihen
und sogar bis zu ungestörter Lebensfähigkeit heranreifen zu lassen,
ist begreiflicherweise für die Verfechter des Hirntodkonzepts ein
Dorn im Auge, den man mit allen argumentativen Anstrengungen herauszuziehen
versucht. Die längste bekannt gewordene Schwangerschaft einer hirntoten
Frau betrug 107 Tage; sie wurde durch Kaiserschnitt von einem gesunden
Jungen entbunden (Conley Hilliker), der sich normal entwickelte
und heute fünf Jahre alt ist [30]. In Deutschland wurde eine hirntote
Schwangere nach 85 Tagen von einem gesunden Kind entbunden [31]. Diese
Fallbeschreibungen zeigen, daß eine intakte Gehirnfunktion für
einen guten Verlauf der Schwangerschaft nicht erforderlich ist, wenn die
anderen Lebensfunktionen der Mutter mit intensivmedizinischen Maßnahmen
aufrechterhalten werden können. Eine biologisch so komplexe Leistung
wie das Heranreifenlassen eines Kindes, ist also ohne ein funktionsfähiges
Gehirn möglich. Die auffallend langen 'Überlebenszeiten' von
hirntoten Schwangeren hat man versucht auf eine nicht näher bekannte
stützende Funktion des Feten zurückzuführen. Sollte dies
tatsächlich der Fall sein, würde es ja nur bedeuten, daß
die hirntote schwangere Frau fähig ist auf biologische Impulse eines
anderen menschlichen Wesens, nämlich des in ihr wachsenden Kindes,
zu reagieren, ein Phänomen, das bei einer Toten wohl unmöglich
zu beobachten wäre. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß die besonders
sorgfältige Pflege und medizinische Betreuung in solchen Fällen
ausschlaggebend ist. Zumindest ist der Status der Schwangerschaft keine
Grundbedingung für extrem lange Überlebenszeiten von Hirntoten
(z. B. 68 Tage bei einem von Parisi [32] beschriebenen Fall).
Als 'Retorte' hat man diese schwangeren
hirntoten Frauen bezeichnet [33], als 'uterines Versorgungssystem', als
'hochentwickelte Brutmaschine'. Gegner der Erhaltung der Lebensfunktionen
bei hirntoten Schwangeren haben deren Uterus als kaltes und unwirtliches
Grab beschrieben, als triste und leere Wohnung, so daß der Tod des
Fetus einem solchen schaurigen Grabesleben vorzuziehen sei [34]. Man wird
an die brutale Diktion erinnert, mit der im Krieg der Menschenleib beschrieben
und erfahren wird: Im Ersten Weltkrieg schrieb ein Deserteur in Mühlheim
an die Wand: "Was ist ein Toter ... 170 Pfund kaltes Fleisch, vier Eimer
Wasser. ein Beutel voll Salz." Bei all diesen Diskussionen über das
tragische Phänomen der Schwangerschaft von hirntoten Frauen überkommt
einen jene resignative Stimmung, die im letzten Satz der wunderbar und
gescheit geschriebenen Diplomarbeit von Annegret Fründ [35]
mitschwingt: "In der Welt, in der ich lebe, trauere ich der verlorengegangenen
Leibhaftigkeit von Gefühlen nach."
Die Fülle der Lebenszeichen,
die bei Hirntoten vorhanden sind, Herzschlag, Lungenatmung, Stoffwechsel,
Nierenfunktion, unter Umständen Fortpflanzungsfähigkeit, werden
als "Ausdruck von noch vorhandenen biologischen, nicht speziell menschlichen
Lebens in einem hirntoten Körper" interpretiert [36] oder als
"nachklingende Lebensprozesse" abqualifiziert, so der katholische Moraltheologe
Gründel
[37].
Biologisches Leben als tierische oder
pflanzliche Äußerungsform des Lebens wird von einem speziell
menschlichen Leben abgegrenzt nach dem Motto, wenn schon Leben im Zustand
des Hirntodes (der aber zugleich der Tod des Menschen ist), dann quasi
ein Leben zweiter Ordnung, eine mindere Form des Lebens. Damit können
dem Hirntoten die Rechte Lebender aberkannt werden, ihre Menschenwürde.
Ihr Anrecht auf körperliche Unversehrtheit kann ihnen ungestraft genommen
werden. Die Todeserklärung per Gesetz ist eine durchaus alte Übung:
Im späten Mittelalter hat man in Deutschland und anderen europäischen
Ländern Leprakranke ausgesetzt (daher die Bezeichnung 'Aussatz'),
enterbt und auch gesetzlich für 'tot' erklärt [38].
"Der Mensch, die Person, das Individuum,
sein Ich, dieses erlebende, reagierende und handelnde Wesen ist nach dem
eingetretenen Hirntod nicht mehr", so lautet die scheinbar konsequente
Schlußfolgerung [39]. Was, so drängt sich zwangsläufig
Frage auf, unterscheidet dann Hirntote, diese Wesen, die tot sein sollen,
allenfalls ein biologisches Leben aufweisen, keine Personen sind und kein
Ich haben, in denen kein 'Du' mehr angesprochen werden kann [40], noch
von jenen "leeren Menschenhülsen" oder "geistig Toten" einer finsteren
Vergangenheit [41]? Bettina Schöne-Seifert [42] argumentierte,
als sie über Hirntote sprach, auf der Anhörung vor dem Bundestag
folgendermaßen: "Leere leibliche Hüllen sehen dem ersten
Anschein nach aus wie Schlafende. Sie (deshalb?) als lebende Menschen anzusehen
... scheint mir geradezu eine Verrenkung des gesunden Menschenverstandes
...".
Das menschliche Leben nur auf die Leistungen
seines Gehirns zu reduzieren, erweist sich als Tanz über dem Abgrund.
Eine grundsätzliche Unterscheidung des 'Geistes'zustands hirntoter
Menschen von demjenigen anderer tief komatöser (z.B. anenzephaler
oder apallischer) Patienten läßt sich dann schwerlich begründen.
Der Schritt zum Teilhirntod ist gebahnt, wenn nicht sogar unvermeidlich
[43]. In den USA ist die Diskussion um die Transplantation von Organen
und Geweben anencephaler Neugeborener bereits wieder aufgeflammt [44].
3. Organtransplantation und die
Kirchen
In einer gemeinsamen Erklärung
haben der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die römisch-katholische
Deutsche Bischofs-konferenz (DBK) am 2. Juli 1990 die Organtransplantation
und auch das 'Hirntod'-Kriterium offiziell befürwortet:
"Die Kirchen sehen unter bestimmten
Bedingungen in einer Organspende durchaus die Möglichkeit, über
den Tod hinaus sein Leben in Liebe für den Nächsten hinzugeben."
Als Hauptargument wurde unter Berufung
auf Joh 15, 13 - (Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer
sein Leben für seine Freunde hingibt) das Gebot der Nächstenliebe
ins Feld geführt. Die Kirchen machten sich mit dieser Stellung-nahme
auch die Position der Bundesärztekammer zueigen, sowohl was das 'Hirntod'-Kriterium
als auch die Ineinssetzung von personalem menschlichen Leben und Gehirn
anbetrifft:
"Der unter allen Lebewesen einzigartige
menschliche Geist ist körperlich ausschließlich an das Gehirn
gebunden. Ein hirntoter Mensch kann nie mehr eine Beobachtung oder Wahrnehmung
machen, verarbeiten und beantworten, nie mehr einen Gedanken fassen, verfolgen
und äußern, nie mehr eine Gefühlsregung empfinden und zeigen,
nie mehr etwas entscheiden."
(Nur am Rande fragt man sich, wie diese
Haltung mit der Reliquienverehrung vereinbar ist. Kleinsten Knochensplittern
von Märtyrern und Heiligen wird noch eine personale Macht zugeschrieben,
die Kraft Wunder zu wirken. Das heißt, man betet in diesen jahrhunderte
alten Körperresten die Person der Verstorbenen an.)
Gegen diese Position der Kirchen ist
in letzter Zeit vor allem von seiten evangelischer Theologen vehemente
Kritik geübt worden. So moniert Klaus-Peter Jörns [45],
durch den Eingriff in das Sterbegeschehen mißachte die auf der Hirntodtheorie
aufbauende Organtransplantationspraxis Persönlichkeit und und Seele
des sterbenden Menschen, indem sie ihn ganz und gar zum Objekt des Organbegehrens
mache. "Das Über-Wir greift auf das sterbende Individuum über,
und - getarnt unter dem Deckmantel des zum sittlichen Gesetz verkehrten
Nächstenliebegebotes - verleibt sich dessen innere Organe in des Wortes
wahrer Bedeutung ein." Es manifestiere sich ein Interesse an der Entindividualisierung
des noch nicht gestorbenen 'Restkörpers', indem man den menschlichen
Geist körperlich ausschließlich mit dem Gehirn verbindet. "Man
weiß oder ahnt zumindest, daß hier in das Sterben eingegriffen
wird."
Hans Grewel [46], der sich neben
den ethischen Implikationen auch mit den gesellschaftlichen Auswirkungen
der Hirntodkonzeption auseinandersetzt, fordert von der Medizin eine grundlegende
Besinnung auf die Grenzen des ärztlichen Heilauftrages, von den Politikern
eine klare Parteinahme für das elementare Menschenrecht auf Schutz
des Lebens (auch im Sterben) und von den christlichen Kirchen, "daß
sie die skandalös einseitige und die Problematik verharmlosende Parteinahme
für Organspende als Christenpflicht in der gemeinsamen Stellungsnahme
... widerrufen und eine gründlichere Stellungnahme erarbeiten lassen."
Unmißverständlich kommt
der Bischof der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg Wolfgang
Huber [47] zu dem Fazit, der Hirntod sei als Kriterium für die
Organentnahme ebenso unumgänglich wie für die Beendigung intensiv-medizinischer
Maßnahmen. "Doch nur als Entnahmekriterium, nicht als Todeskriterium
kann der Hirntod anerkannt werden. Dann aber ist die Folgerung unabweisbar,
daß im Grundsatz nur die freie Zustimmung des Sterbenden selbst eine
Organentnahme zu rechtfertigen vermag." In der rechtlichen Diskussion um
die Regelung der Organtransplantation sieht er einen Konflikt zwischen
zwei ethischen Grundorientierungen, der 'Ethik der Würde' und der
'Ethik der Interessen'. Nach seiner Ansicht tendiert in der evangelischen
Theologie und Ethik die Diskussion zu dem Ergebnis, daß mit dem Hirntod
das Leben des Menschen nicht irreversibel zu Ende ist, sondern irreversibel
zu Ende geht.
Kritische Äußerungen der
katholischen Kirche zum Hirntodkonzept sind wesentlich dünner gesät.
In ihrer rigiden Grundhaltung beruft sie sich unter anderem auf eine vielbeachtete
Ansprache von Pius XII am 24. November 1957 zu Fragen von Leben,
Sterben und Behandlungsabbruch [48]. Die päpstlichen Äußerungen
sind von der Harvard-Kommision und ihren Nachfolgern, aber auch den Kirchen
als Legitimation des 'Hirntodkonzeptes' ausgelegt worden, weil der Papst
in ihnen die Kompetenz der Medizin für die Feststellung des Todeszeitpunktes
ausdrücklich anerkennt und eine Berechtigung sieht, lebensverlängernde
Maßnahmen abzubrechen, wenn sie nicht mehr einem erkennbaren Wohl
des Patienten dienten. Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten
haben aufgezeigt, daß die Berufung auf Pius XII mißbräuchlich
erfolgt ist [49]. In der gleichen Ansprache beantwortete der Papst Fragen
von Anästhesisten. Eine lautete:
Wenn nach einer zentralen Lähmung
der Blutumlauf und das Leben eines tief bewußtlosen Kranken nur durch
künstliche Atmung erhalten werden, ohne daß sich nach einigen
Tagen eine Besserung zeigt: in welchem Augenblick betrachtet dann die Kirche
einen solchen Kranken als 'tot' oder muß man ihn nach den Naturgesetzen
als 'tot' erklären?
Der Papst beantwortete die Frage folgendermaßen:
"Für die Feststellung
der Tatsache in den Einzelfällen kann sich die Antwort aus keinem
religiösen und sittlichen Prinzip ableiten, und die Kirche ist unter
dieser Rücksicht auch nicht dafür zuständig. Die Frage wird
also unterdessen offenbleiben. Doch lassen Überlegungen allgemeiner
Art die Meinung zu, das menschliche Leben dauere so lange fort, als sich
seine lebenswichtigen Funktionen - zum Unterschied vom einfachen Leben
der Organe - von sich aus oder mit Hilfe von künstlichen Mitteln bemerkbar
machen. Eine gute Anzahl von Fällen sind Gegenstand eines unlösbaren
Zweifels und sind zu behandeln nach den rechtlichen und tatsächlichen
Voraussetzungen, von denen wir gesprochen haben."
Dazu führt Pius XII aus: "Im Fall
eines unlösbaren Zweifels kann man auch zu den Vermutungen von Recht
und Tatsache seine Zuflucht nehmen. Im allgemeinen wird man an der Fortdauer
des Lebens festhalten, da es sich um ein grundlegendes, vom Schöpfer
empfangenes Recht handelt, dessen Verlust mit Sicherheit bewiesen werden
muß (kursiv durch den Autor)". An anderer Stelle in der Ansprache
sagt der Papst, daß die Entfernung des Atemgerätes "nach einigen
Minuten den Stillstand des Blutkreislaufs und damit den Tod herbeiführen
muß (Kursivsetzung durch den Autor)". Und schließlich bemerkt
er, daß die künstliche Beatmung verlängert werden kann,
um die "Letze Ölung" zu spenden, denn sonst wäre "derjenige,
der sie empfängt, sicher kein Mensch" mehr.
Unerwähnt bleibt von kirchlicher
Seite auch, daß Johannes Paul II sich in einer Ansprache an
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses der Päpstlichen
Akademie der Wissenschaften vom 14. Dezember 1989 über die Organtransplantation
wie folgt geäußert hat [50]:
"Genauer gesagt besteht die
tatsächliche Wahrscheinlichkeit, daß das Leben, dessen Weiterführung
man durch Entnahme eines lebenswichtigen Organs unmöglich macht, das
einer lebenden Person ist, während doch die dem menschlichen Leben
geschuldete Achtung absolut verbietet, es direkt und positiv zu opfern,
wäre es auch zum Vorteil eines anderen Menschenwesens, das man aus
guten Gründen glaubt bevorzugen zu müssen."
In seiner Enzyklika Evangelium vitae [51]
führt
Johannes Paul II im Zusammenhang mit der Organtransplantation
aus [52]:
"In einem solchen Umfeld zeigt
sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt,
sich
zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt,
und so dem eigenen Leben oder dem Leben anderer 'auf sanfte Weise' ein
Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich
erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd
und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten
Symptome der 'Kultur des Todes', die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften
um sich greift ..."
Es wäre gewinnbringend sich an dieser
Stelle mit der Haltung der anderen großen Religionen wie Judemtum,
Islam oder Buddhismus zur Organtransplantation auseinanderzusetzen, es
würde aber den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Um nur eine Stimme
zu nennen, soll der Dalai Lama zitiert werden, der im Grundsatz
der Organtransplantation nicht ablehnend gegenübersteht. Im Buddhismus
ist freilich das weitaus übergeordnete Ziel die Erleuchtung und das
Erreichen des nichtverweilenden Nirvana und nicht Lebensverlängerung
um jeden Preis [53]. Der XIV. Dalai Lama fragt [54]:
"Die technischen
Möglichkeiten von heute erlauben bereits die Verpflanzung aller Arten
von Organen. Eines Tages wird man vielleicht anfangen, an eine Gehirntransplantation
zu denken. Aber warum dann nicht nach dem Warum all dieser Anstrengungen
fragen? Nur um einen Körper zu retten, der vergänglich ist und
bleibt und der in jedem Fall dazu bestimmt ist, zu verschwinden? Um einzelne
Menschen zu retten? Nun gut, aber warum gerade diesen Menschen und nicht
einen anderen? Nach welchen Kriterien wird die Wahl getroffen?"
4. Ausblick
Den Hirntod des Menschen mit seinem
Tod gleichzusetzen muß demnach aus anthropologischer und medizinisch-biologischer
Sicht auf größte Bedenken stoßen. Schon die Definition
des Hirntodes als 'irreversibler Funktionsverlust des gesamten Gehirns'
ist fragwürdig, da 'alle Funktionen des gesamten Gehirns' weder bekannt
noch meßbar sind. Hirntote Patienten können eine überwältigende
Fülle von intakten Organfunktionen und komplexe integrative biologische
Reaktionen aufweisen. Gerade das Phänomen der hirntoten schwangeren
Frau, die imstande ist, in ihrem Leib ein Kind heranwachsen zu lassen,
zeigt, zu wie komplexen, integrativen Leistungen Hirntote imstande sind.
Hier wird an unsere Wissenschafthörigkeit appelliert und die Leugnung
unserer sinnlichen Wahrnehmungen gefordert.
Hirntote Menschen sind Sterbende,
das heißt noch LEBENDE. Sie sind keine Leichen und auch nicht
'so gut wie tot'. Ihnen kommen alle Rechte Lebender zu: Niemand kann ihnen
in ihrem Sterben den vollen Schutz ihrer Menschenwürde nehmen, ihr
Anrecht auf körperliche Unversehrtheit. Die Ethik der Würde
hat hier den Vorrang vor der Ethik des Nutzens. Ob ihr Sterben verlängert
werden darf, um Organe zu entnehmen, die das Leiden anderer Menschen lindern
oder deren Leben verlängern können, ist daher eine Entscheidung,
die nur zu Lebzeiten und nach einem freien, gereiften Entschluß persönlich
getroffen werden kann. Wer dürfte sich anmaßen diese Entscheidung
für einen anderen zu fällen?
Ich zitiere einen Angehörigen,
der der Organentnahme zugestimmt hatte und hinterher von schweren Schuldgefühlen
geplagt wurde:
"Ich meine, wenn jemand seine ganz
persönliche Einwilligung zur Organentnahme gibt, ist alles in Ordnung.
Diese Entscheidung aber einer anderen Person (Eltern, Geschwister usw.)
abzuverlangen, ist inhuman."
Die sogenannte enge Zustimmungslösung
entspricht im übrigen nach neuesten Umfragen dem mehrheitlichen Wunsch
der Bevölkerung. In einer TED-Umfrage des WDR [55] vom 30. April 1995
sprachen sich 80,1% der Anrufer dafür aus, selbst zu entscheiden,
ob sie als Organspender herangezogen werden sollten. Nur 19,9% wollten
eine derartige Entscheidung ihren Angehörigen zubilligen.
Eine Subsidiarität im Sterben
und im Tod kann es nicht geben. Allzu leicht würde der Spender zum
Opfer.
Daß eine enge Zustimmungslösung
seelische Bürden, die nicht selten unterschätzt werden, von den
behandelnden Ärzten, den Pflegekräften, den Angehörigen
und den Organempfängern nehmen könnte, wäre schließlich
ein nicht unwesentliches Ergebnis einer derartigen gesetzlichen Regelung.
Wer sich in gereifter Entscheidung dafür ausspricht, eine Verlängerung
seines Sterbeprozesses hinzunehmen, damit seine Organe das Leben anderer
Menschen retten oder ihr schwere Schicksal lindern, wer sich also zu dieser
'der letzten guten Tat' entschließt, der vollbringt ein Opfer im
wahren Sinne des Wortes. Die Teile seines Leibes, die er zur Verpflanzung
freigibt, sind dann wirklich ein Geschenk.
Was also sollen wir tun, wenn wir mit
dem Phänomen des Hirntodes konfrontiert werden durch die Begegnung
mit hirntoten Menschen oder ihren Angehörigen? Zu Schock, Trauer und
Fassungslosigkeit wird ihnen auch noch der Zweifel über die richtige
Entscheidung aufgebürdet. Die Frage "tot oder lebendig?" wird sich
dann unausweichlich stellen. Die verlässlichste Leitlinie dürfte
dann lauten: in dubio pro vita.
Literatur:
[1] Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises
1995 am 21.10.1995 in Darmstadt, in: taz vom 23.10.1995, S. 15
[2] H.-G. Gadamer in: Universitas 29
(1974) 1148
[3] Artikel "Death", in: Encylopædia
Britannica, Bd. 16, 1993, S. 682 ff.
[4] Sogyal Rinpoche: Das tibetische
Buch vom Leben und vom Sterben; O. W. Barth Verlag/Scherz-Verlag; Bern,
München, Wien; 1993; I. Teil - Leben; 7. Bardos und andere Wirklichkeiten;
S. 131-140
[5] S. H. der XIV. Dalai Lama Tenzin
Gyatso: Logik der Liebe - Aus den Lehren des Tibetischen Buddhismus für
den Westen; Hrsg. Jeffrey Hopkins; aus dem Engl. übertr. u. eingel.
von Michael von Brück; München; Goldmann; 1989, S. 213 - 228
(Original.: "Kindness-Clarity-Insight"; Snow Lion Publications, New York
1984)
[6] Ariès, Ph.: Geschichte des
Todes. dtv wissenschaft. München. 7. Auflage 1995
[7] Geisler, L.: Hirntote bleiben in
einem sozialen Kontext, in FAZ. vom 21.10.1994, S. 14
[8] Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit.
Philosophische Fragen der modernen Biologie. R. Piper, München 5.
Auflage 1973
[9] Dawkins, R.: Das egoistische Gen.
Berlin 1978. S. 227
[10] Benn, G.: Der Arzt. Ges. Werke.
dtv-bibliothek. München 1975. S. 11.
[11] Herbert, Z.: Rovigo. Gedichte,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1995. S. 37
[12] In: Das Bestattungsgewerbe. 8/1995
[13] Vesalius, A.: De humanis corporis
fabrica libri septem. Basel 1543.
[14] Descartes, R.: Discours de la
Méthode. Leiden 1637.
[15] Freud, S.: Abriß der Psychoanalyse.
S. Fischer Verlag. Frankfurt a. Main 1972.
[16] Schöne-Seifert, B.: Stellungnahme
zum Transplantationsgesetz am 28.06.1995 vor dem Gesundheitsausschuß
des Bundestages in Bonn.
[17] Tort, M.: Le désir froid
- Procreation artificielle et crise des repères symboliques.
[18] Mies, M.: Wider die Industrialisierung
des Lebens. Eine feministische Kritik der Gen- und Reproduktionstechnik.
Centaurus Verlagsgesellschaft. Pfaffenweiler 1992.
[19] Heidegger, M.: Sein und Zeit.
Tübingen 1967. S. 231-266.
[20] Wagner, H. (Hrsg.): Ars moriendi.
Erwägungen zur Kunst des Sterbens. Herder Verlag. Freiburg i. Br.
u.a. 1989.
[21] Rilke, R.M.: Die Aufzeichnungen
des des Malte Laurids Brigge. Insel Verlag. Franfurt a.M. 1966. S. 712-724:
"Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig.
Bei einer so enormen Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt,
aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute
noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod?"
[22] Schoeppe, W.: Der Leichnam gesetzlich
ein herrenloses Gut, in FAZ vom 22.07.1994, S. 8.
[23] Paul, J.: Im Netz der Bioethik.
Dissertation, Duisburg 1994.
[24] Italiener erhält fünf
neue Organe. Arzt: Einzigartiger Eingriff, in FAZ vom 16.08.1995, S.7
[25] Striebel, H.W./ J. Link (Hrsg.):
Ich pflege Tote. Die andere Seite der Transplantationsmedizin. RECOM Verlag,
Basel/Baunatal 1991
[26] "Der atmete. Der schwitzte". Eine
Krankenschwester berichtet von ihren Erfahrungen mit "Hirntoten" in: DIE
WOCHE vom 23.6.1994, S. 24.
[27] Spittler, J.F.: Der Hirntod -
Tod des Menschen. Grundlagen und medizinethische Gesichtspunkte. Ethik
Med (1995) 7, 128 -145
[28] "Es handelt sich um einen Leichnam".
Interview mit Dr. J. Scheele, in: taz Nr. 3835 vom 16.10.1992, S. 3
[29] Spittler, J.F.: aaO., S. 130:
"Ein solcher Körper ist, entgegen verbreitetem Sprachgebrauch, eindeutig
keine Leiche, sind doch alle übrigen Organe und Muskeln noch lebend"
[30] Bernstein, I.M./Watson, M./Simmons,
G.M./Catalano, P.M./Davis, G./Collins, R.: Maternal brain death and prolonged
fetal survival, in: Obstet Gynecol 74 (1989) 3 Pt 2, 434-43 .
[31] Siegel, K.-E.: Möglichkeiten
vorgeburtlichen Bondings. Vortrag 5. Heidelberger Arbeitstagung Intern.
Studiengem. Pränatale und Perinatale Psychologie u. Medizin. 2.10.1993
[32] Parisi, J.E./Kim, R.C./Collins,
G.H./Hilfinge, M.F.: Brain death with prolonged somatic survival, in: N
Engl J Med 1982, 306 (1), 14-6
[33] Prof. D. Reinhard, Direktor der
Münchner Kinder-Poliklinik in einem Interview mit der Münchner
Abendzeitung: "Die tote Mutter ist wie eine Retorte", in: DER STERN Nr.
44 vom 22.10.1992, Was darf die Medizin? S. 32ff
[34] Petersen, P.: Der Zweck entmündigt
das Mittel, in: Dtsch. Ärzteblatt 1992, 89, 2437-2438
[35] Fründ, A.: Der "Erlanger
Fall" als Konsequenz einer epochalbedingten Sichtweise auf den "weiblichen
Körper". Diplom-Arbeit, Frankfurt am Main 1995.
[36] Spittler, J.F.: aaO., S. 137
[37] Gründel, J.: In der Fernsehsendung:
"Stationen. Tot oder lebendig?" Bayern 3 vom 07.09.1995.
[38] Brockhaus Enzyklopädie. Bd.
13, 1990. S. 263
[39] Spittler, J.F.: aaO., S. 141
[40] Schöne-Seifert, B.: Stellungnahme
zum Transplantationsgesetz am 28.06.1995 vor dem Gesundheitsausschuß
des Bundestages in Bonn.
[41] Hirnforschung im Dritten Reich.
Bericht an die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften,
in: taz Nr. 2942 vom 21.10.1989, S. 16
[42] Schöne-Seifert, B.: aaO.,
Anm. 40
[43] H.-U. Gallwas/G. Geilen/L. Geisler/
I. Gorynia/W. Höfling /J. Hoff/M. Klein/D. Mieth/S. Rixen/G. Roth/J.
in der Schmitten/J.-P. Wils: Wissenschaftler für ein verfassungsgemäßes
Transplantationsgesetz. Tübingen/ Düsseldorf, Mai 1995.
[44] Council on Ethical and Judicial
Affairs/American Medical Association: The use of anencephalic neonates
as organ donors, in: JAMA, U.S.A., 24.-31.05.1995, 273 (20) 1614-1618
[45] Jörns, K.-P.: Organtransplantation:
eine Anfrage an unser Verständnis von Sterben, Tod und Auferstehung,
in: J. Hoff/J. in der Schmitten (Hrsg): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung
und "Hirntod"-Kriterium. Reinbek 1995. S. 350-384.
[46] Grewel, H.: Gesellschaft und ethische
Implikationen der Hirntodkonzeption, in: J. Hoff/J. in der Schmitten (Hrsg):
Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und "Hirntod"-Kriterium. Reinbek
1995. S.332-349
[47] Anhörung vor dem Gesundheitsausschuß
des Deutschen Bundestages am 28.06.1995 in Bonn.
[48] Pius XII: Moralische Probleme
der Wiederbelebung. Acta Apostolicae Sedis. 49 (1957), S. 1031 f.
Übersetzung in: Der Anästhesist 7 (1958), Nr. 8 , 243 f.
[49] Hoff J./J. in der Schmitten (Hrsg):
Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und "Hirntod"-Kriterium. Reinbek
1995, S. 153-252.
[50] Johannes Paul II: Ansprache an
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses der Päpstlichen
Akademie der Wissenschaften vom 14.12.1989.
[51] Johannes Paul II: Evangelium vitae.
Enzyklika Frohbotschaft des Lebens. Von der Deutschen Bischofskonferenz
approbierte deutsche Übersetzung vom 25.03.1995. Stein am Rhein 1995,
S. 79
[52] "Mit Hilfe hochentwickelter Systeme
und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage,
nicht für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu
finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das
Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten
und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen Zusammenbruch
ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich wiederzubeleben sowie
Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen"
(Fortsetzung des Textes siehe oben)
[53] Botskór, I.: Organtransplantation
in Japan, in: F.A.Z., 09.09.1992, S. N 2
[54] Levenson, Claude B.: Die Vision
des Dalai Lama. Benziger Verlag; Zürich 1991. 2. Teil / 8.: Im Licht
des Todes leben, S. 137-157
[55] Fernsehsendung (Aktuelle Stunde)
zum Thema Organspende vom 30.04.1995, WDR 3
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Geisler, Linus S.: Organtransplantation
aus medizinischer Sicht - ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen
und gesellschaftlicher Rahmen. |
In: Wege zum Menschen, Heft 4, 48.
Jahrgang, Göttingen 1996, S. 211-224 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9605fwzm_organtransplantation.html |
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