Wieviel Fortschritt braucht der Mensch?
Zwischen Nanotechnologie
und Megaprothesen / Zukunftsaspekte der Medizin
Linus S. Geisler
In seiner Erzählung
Rappacinis Tochter (1844) beschreibt Nathaniel Hawthorne Dr. Rappacini
als fanatischen alten Naturforscher, der - obwohl selbst Mediziner - sich
»unendlich mehr für die Wissenschaft als für die Menschen
interessiert.« Rappacini ist bereit menschliches Leben zu opfern,
um »dem Berg seiner Kenntnisse noch ein Sandkorn hinzuzufügen«,
und so ist es nur konsequent, wenn er die eigene Tochter Beatrice für
seine Experimente mißbraucht.
Dieses winzige oder gewaltige
Sandkorn, das dem schon nicht mehr überschaubaren Gebirge des Wissens
aufs immer Neue hinzugefügt werden soll, ist seit Beginn des technischen
Zeitalters Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen über Machbarkeit,
Sinnhaftigkeit und den Preis des Fortschritts. Jedoch ist das Gesicht des
Fortschritts im Wandel begriffen, seine Metamorphose zum Goldenen Kalb
von Wissenschaft und Gesellschaft ein vergleichsweise junges Phänomen.
Die Vorstellung Kants von
Fortschritt als einer moralisch-praktischen Vernunftidee, die dem Vollzug
eines verborgenen Planes der Natur dient, wobei der Mensch sich als Vernunftwesen
weiterentfalten soll, wurde im industriellen Zeitalter radikal verlassen.
Nicht mehr die sittliche Höherentwicklung des Menschen, sondern die
fortschreitende Beherrschung der Natur wurde zum zentralen Thema. Allerdings
versprach man sich von ihr auch eine fortschreitende Humanisierung der
Gesellschaft. Je mehr die Fortschrittsidee an Gewicht gewann, um so stärker
wurde sie Gegenstand auch literarischer, nicht selten kontroverser Reflexionen.
In Samuel Butlers utopischen Roman Erewhon oder jenseits der Berge
(Erewhon ist ein Anagramm des Wortes »nowhere«) findet sich
eine beißend satirische Kritik an der viktorianischen Technikfaszination
und ihren Werten. Daß die künstlich vom Menschen geschaffenen
Dinge auch außer Kontrolle geraten könnten, mahnte auch Ralf
Waldo Emerson mitten im viktorianischen Optimismus mit der berühmt
gewordenen Feststellung an: »Die Dinge sitzen im Sattel und reiten
die Menschheit«
Wieviel Fortschritt braucht
der Mensch, vor allem aber: Wieviel Fortschritt verträgt er? Das rührt
an die Frage, wie dieser Fortschritt aussehen könnte. Was also können
wir über diesen Fortschritt wissen oder zumindest mutmaßen?
Der Blick in die Zukunft war schon immer ein besonderes Fascinosum. Die
Araber versuchten im 6. Jahrhundert die Zukunft maschinell zu simulieren.
Sie bedienten sich einer hochkomplizierten Buchstabenkombinatorik, Za´iridscha-el-alám
genannt, zu deutsch etwa »universelle Rundscheibe«. Auch der
begnadete Raimundus Lullus, der ab 1275 eine logische Maschine entwickelte,
ein Kunstwerk der Kombinatorik, wagte sich in seinen Artes Memoriae
an den Entwurf von »Zukunftsmaschinen«. Ihre prädiktiven
Fähigkeiten blieben fragwürdig. Die seherischen Anstrengungen
der Moderne erwiesen sich als kaum zuverlässiger. So erfüllten
sich die pessimistischen Prognosen des englischen Landpfarrers Thomas Robert
Malthus (bisher) nicht, der 1789 in seinem weltberühmt gewordenen
Essay
on Population in wenigen Jahrzehnten, Hunger, Massensterben und den
Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Strukturen vorhersah, da das Bevölkerungswachstum
die öknomischen Kapazitäten stets bei weitem übertreffen
würde. Auch Dennis Meadows Untersuchung für den Club of Rome
Die
Grenzen des Wachstums, 1972) hat als globale Malthusianische Vision
nicht durch ihre prognostische Treffsicherheit Bedeutung erlangt, sondern
eher als Anstoß für globale Umweltschutzbestrebungen. Die Prognostizierbarkeit
von Zukunft durch eine lineare Verlängerung der Gegenwart in das noch
Kommende erweist sich demnach als Fiktion.
Vorhersagen in Medizin und
Biologie haften darüber hinaus spezifische Schwierigkeiten an. Nicht
zu Unrecht hat Katerine Ierodiakonou in der englischen Fachzeitschrift
Lancet (1993) die Medizin als »stochastische Kunst«,
also als zufallsabhängig bezeichnet. Die Chaosforschung lehrt, daß
geringfügige Temperaturänderungen in einem Teil der Welt Hurrikane
in weit abgelegenen anderen Weltregionen verursachen können. Übertragen
auf menschliche Individuen als hochkomplexe Systeme kann dies nur bedeuten,
daß eine Langzeitbetrachtung ihres Schicksals allenfalls in groben
allgemeinen Beschreibungen möglich ist, nicht aber im Sinne einer
individuellen Prognose. Alle Zukunftsbetrachtungen der Medizin können
sich daher nur in diesen engen Grenzen bewegen.
Vor der nur vage beantwortbaren
Frage, wie der Fortschritt aussehen könnte, ist zunächst
die Frage zu stellen, wie denn dieser Fortschritt aussehen sollte.
Viel mehr noch: wer für die Vorgaben dieses Unterfangens maßgeblich
und verantwortlich ist? Die Ärzte, die Wissenschaftler, die Patienten,
die Politiker, die Industrie, alle zusammen oder »die Gesellschaft«
insgesamt? Auf der Suche nach Wunschträumen und Zukunftsvisionen stößt
man auf ein unerwartet dürftiges Terrain, zumindest bei denen, die
es hautnah angeht: den Kranken und ihren Ärzten. Vergeblich sucht
man nach einer aussagefähigen Untersuchung in der Fachliteratur der
letzten Jahre, die die Patienten- oder Arzterwartungen der medizinischen
Welt von Morgen artikuliert.
In einer offenen »Multioptionsgesellschaft«
(Peter Gross) sind auch die Zukunftsspektren extrem offen. Der Verteilungskampf
um die größte Schnitte aus dem Kuchen »Zukunft«
wird dementsprechend unerbittlich geführt. Die mangelnde Entschlossenheit
und die dürftigen Konzepte bestimmter Gruppen (Patienten, Ärzte)
begünstigen dabei gefährliche Ungleichgewichte. Wenn der einzige
Generalnenner einer Gesellschaft nur noch darin besteht, daß ihre
Mitglieder, wie schon Thomas Hobbes erkannte, nicht sterben wollen, ist
dies als Regulativ wenig tauglich. »Meinungsbildner« haben
dann meist nur einen Aushängeschildeffekt. Die weitreichenden Entscheidungen
werden von anonymen Gruppierungen getroffen. Legen sie gezwungenermaßen
einmal ihre Handlungsprinzipien offen, zeigen sich bedenkliche Verwischungen
von Legislative und Exekutive.
Eines der Beispiele ist der
aktuelle Entwurf einer Bioethik-Konvention des Europarates, der die Geschicke
von etwa siebenhundert Millionen Menschen berührt. Trotz Proteste,
vor allem von deutscher Seite, wird daran festgehalten, daß an einwilligungsunfähigen
Personen Eingriffe nicht nur zu ihrem unmittelbaren Nutzen, sondern auch
zu Zwecken der Forschung vorgenommen werden dürfen. Anders seien Fortschritte
in der Erforschung gewisser Kinderkrankheiten (welcher?) sowie in der Demenzforschung
(Alzheimersche Krankheit) nicht zu erzielen. Es sei geradezu ethisch bedenklich,
diesen Krankengruppen »Behandlungs- und Heilungschancen« (!)
vorzuenthalten. Ein soeben erschienenes Buch mit dem Titel Dürfen
Ärzte mit Demenzkranken forschen? verfolgt die gleiche Richtung.
Zunächst wird ein apokalyptisches Szenario gesellschaftlicher Belastungen
durch die steigende Zahl Demenzkranker entworfen. Durch einen bislang kaum
begründbaren Optimismus wird mit »großer Sicherheit«
davon ausgegangen, daß neue wirksame Behandlungsverfahren gefunden
werden könnten (»Demenzforschung als kaum zu unterschätzende
Zukunftsinvestition«) - allerdings nur wenn die bestehenden »rechtlichen
Forschungshindernisse« schnell »reduziert« würden.
Das ethisch (noch) Unzulässige, erscheint nur deshalb zweifelhaft,
weil gesetzliche Korrekturen hinterherhinken.
Ahnlich verhält es sich
mit der Präimplantationsdiagnostik. Sie steht ungeduldig in den Startlöchern,
mit dem Versprechen nur »gesunde« Embryonen zur Einpflanzung
in den mütterlichen Körper freizugeben, und klagt: »Der
Gesetzesapparat ist zu langsam für den wissenschaftlichen Fortschritt«
(Klaus Diedrich, Lübeck). In der Diskussion um die genetische »Qualität«
der Emryonen tauchen gefährlich vage Begriffe auf, wie zum Beispiel
»Rollstuhlkind«, als ob dies irgendeiner exakten prospektiven
Diagnose entspräche. In Wahrheit lassen sich darunter die verschiedensten
Krankheiten und Behinderungen subsummieren und zugleich kollektiv ausgrenzen.
62 Prozent der befragten Ärzte in einer US-amerikanischen Studie räumten
ein, sie würden pränatale Diagnostik ausschließlich zum
Zweck der Geschlechtsauswahl vornehmen oder veranlassen.
Wem soll überlassen
werden zu entscheiden, wer »gesund« ist und wer »krank«?
Es gibt bereits Erörterungen, ob Nichtseßhafte als »Behinderte«
oder als gesellschaftliche Randfiguren zu betrachten sind; die unterschiedlichen
Konsequenzen der jeweiligen Einschätzung liegen auf der Hand. Die
Diskussion läßt sich unschwer auf Linkshänder, Raucher
oder Legastheniker ausdehnen. Immerhin würden nach einer 1990 durchgeführten
Umfrage in New England/USA elf Prozent der befragten Eltern ein Kind schon
deshalb abtreiben lassen, weil ein vorgeburtlicher Gentest die Neigung
zu Übergewicht ergibt. Wer kann garantieren, daß bei der Feststellung
eines genetischen Defektes das Geschlecht des Embryo nicht doch zum Zünglein
an der Waage für die Entscheidungsfindung wird?
Beispielhaft zeigen sich
in so weit auseinanderliegenden Feldern wie der Genforschung und den Experimenten
an einwilligungsunfähigen Menschen auffallende Gemeinsamkeiten. Ihr
Nutzen wird als unzweifelhaft vorausgesetzt. Unaufhaltbar sei der »Siegeszug
der Molekularbiologie«, die sich im übrigen keines »fremden«
Instrumentariums bediene, sondern sich nur am Vorbild der Natur orientiere.
Daß die Gentechnik bisher für den kranken Menschen so gut wie
nur marginale Erfolge vorweisen kann, und die Vision der Überwindung
des Krebses und der Ausrottung von Erbkrankheiten bisher pure Utopien sind,
räumen selbst engagierte Verfechter ein (Jeremy M. Leiden, New
England Journal vom 28. Sept. 1995). Zwar ist das Gen, das zur zystischen
Fibrose führt, lokalisiert, isoliert und sequenzierbar, und die für
die Tay-Sachssche Krankheit verantwortliche Mutation sehr genau bekannt.
Therapeutische Konsequenzen haben sich daraus bisher nicht ergeben. Ganz
abgesehen davon, daß jede per Genmanipulation aus der Welt verbannte
Erbkrankheit via Spontanmutation höchstwahrscheinlich von mindestens
einer neuen abgelöst werden wird.
Noch um die Jahrhundertwende
waren Herzkreislaufkrankheiten und Krebs, die heutigen Todesursachen Nummer
eins und zwei, für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung von untergeordneter
Bedeutung. Dennoch, so schreibt Barbara J. Culliton im Märzheft von
Nature Medicine, solle man mit Eingriffen in die menschliche Keimbahn
beginnen, »when the time is right«. Sie läßt den
Leser auch nicht im unklaren, wann die Zeit gekommen ist: »wenn die
Technologien verfügbar und die Sicherheitsstandards entwickelt sind«.
Von ethischen Entscheidungsgründen ist nicht die Rede. Beschwichtigend
fügt sie hinzu, eugenische Bemühungen um den einzelnen hätten
natürlich mit den Hitlerschen Bestrebungen, ganze Volksgemeinschaften
genetisch zu manipulieren, nichts zu tun.
Behebung von krassem Mangel,
Ausmerzung nicht hinnehmbarer Krankheiten oder Behinderungen, das sind
die Etiketten, für die das Faszinosum der Fortschrittsszenarien allemal
Begründungen liefern. Bei näherem Hinsehen wird häufig ihre
Fragwürdigkeit evident. Sechzehn verschiedene Techniken hält
die Reproduktionsmedizin im Kampf gegen Kinderlosigkeit bereit, um einen
Menschen zu zeugen. Sehr unterschiedliche Biotechnologien schlagen
dabei unter Umständen die gleiche Marschrichtung ein. Das Szenario
der Mutterschaft im 21. Jahrhundert entwirft der Utrechter Reproduktionsspezialist
E.R. te Velde folgendermaßen: die Frauen werden immer später
schwanger, die Zahl der künstlichen Befruchtungen nimmt drastisch
zu, damit aber auch die Zahl der Fehl- und Mehrlingsgeburten. Als typischen
Fall beschreibt er die 20jährige, die ihre Eizellen einfrieren und
sich danach sterilisieren läßt; hat sie ihre Karriere hinter
sich und im x-ten Anlauf den richtigen Lebenspartner gefunden, entschließt
sie sich zwischen 50 und 60 per Reagenzglasbefruchtung zur Mutterschaft.
»Mamme nonne« (Mütter-Großmütter) nennen die
Italiener solche Frauen wie Rosanna Della Corte, 63, Bäuerin aus einem
Dorf bei Viterbo, die ihr spätes Mutterglück dem römischen
Reproduktionsmediziner Severino Antinori zu verdanken hat.
Die Zahl der Organe, die
einem Einzelnen eingepflanzt werden können, scheint unbegrenzt. Jeder
zweite Eingriff nach dem Jahre 2000, so lauten Schätzungen der Unesco,
werde eine Verpflanzung von Organen oder Geweben sein. Die Cyber-Medizin
stellt rechnergestützte Ausflüge in das Körperinnere in
Aussicht. Im »OP 2015« beschmutzt kein Chirurg mehr dank der
von ihm entwickelten Software seine Hände, sondern betreibt unbefleckt
»Cyberstick-Chirurgie« .Der Simulated patient, der virtuelle
Leichnam und das digitale Skalpell erlauben risikolos eine »patientenfreie«
Edukation. Die Telemedizin garantiert, daß Begegnungen zwischen Arzt
und Patient wie in der »alten« Realität nicht mehr vorkommen.
Computerassistierte Robotersysteme operieren Hirntumoren (PUMA MARK II
Robotic System, MINERVA) oder implantieren Hüftgelenke (ROBODOC).
Die Szenarien der Robotik sind grenzenlos. Vielleicht wird sich aber auch
nur der universell einsetzbare Pflegeroboter für Altenheime als Krönung
dieser Forschungsrichtung erweisen. Die Nanotechnologie (Die letzte
industrielle Revolution) stellt Mikromaschinen in Aussicht, die von
Nanocomputern, »Nands«, gesteuert werden und den menschlichen
Körper zu Heilungszwecken durchdringen.
Die Unterwerfung des Lebens
vollzieht sich im Namen des Lebens. Meistens findet sie im Unsichtbaren
statt. Das Genom, der Embryo, die Keimbahn, sie sind dem Auge entzogen.
Agiert wird vor allem dort, wo sich nichts wehrt, wo kein Widerstand erfolgt.
Niemand scheint
direkt an der Embryonenforschung zu partizipieren.
Eingriffe in die Keimbahn zielen auf eine fakultative, sprich fiktive Nachkommenschaft
ab. Das Genom des Menschen wurde soeben in einer Bioethik-Deklaration der
UNESCO »zum gemeinsamen Erbe der Menschheit« ernannt. Eine
großartige Geste wie es scheint. Aber kann man die eigentliche Identität
des Menschen zum biologischen und rechtlichen Objekt machen und zur allgemeinen
Verfügung freigeben wie die Mondoberfläche oder den Meeresboden?
Abgesehen davon, daß das Genom »des« Menschen das Modell
eines hypothetischen Durchschnittsmenschen darstellt. In Wirklichkeit unterscheidet
sich jedes einzelne menschliche Genom von dem aller anderen Menschen (jeweils
um etwa ein Zehntel Prozent oder circa 3 Millionen Nukleotide). Die Motivation
für dieses globale Vermächtnis wird deutlicher, wenn in dem gleichen
Papier die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit von Eingriffen
zu »wissenschaftlichen, therapeutischen und diagnostischen Zwecken«
die Rede ist. Noch mehr sollte hellhörig stimmen, wenn in dem Hintergrund-Dokument
der Unesco vom 27.7.1995 gefordert wird, »an die Stelle einer 'defensiven'
Bioethik « solle eine »ausgewogenere Herangehensweise«
treten. In dem von Daniel Kevles und Leroy Hood herausgegebenen Werk Der
Supercode (1993) findet sich ein Beitrag von Walter Gilbert (Nobelpreis
für Chemie 1980) mit keinem geringeren Titel als »A Vision
of the Grail«, eine Vision des Heiligen Grals. Gemeint ist das
Genom. Wie kostbar der Inhalt dieses sakralen Gegenstandes ist, hat der
Genetiker Richard C. Lewontin (Die Jagd nach dem Genom, Lettre International
Nr.
30, 1995) mit sehr profanen Worten ausgedrückt: »Ich kenne keinen
prominenten Molekularbiologen, der nicht finanzielle Interessen in der
Biotechnologie-Industrie hätte.« Die damit verbunde Macht ist
beträchtlich, und dies wird auch eingeräumt: »Zweifellos
schwingt wie beim Heiligen Gral auch bei seinem biologischen Gegenstück,
dem Genomprojekt, Macht und Furcht mit ...« Es bleibt verborgen,
wer diese Macht kontrolliert und unausgesprochen, auf welches Mandat sie
sich stützen kann. Sicher ist nur, daß diese Macht nicht »vom
Volke ausgeht«, aber weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft
hat.
Es ist eine Medizin der Anonymität:
die Handelnden, die Fordernden, die Betroffenen, sie bleiben ungenannt,
sind Gruppen mit fragwürdiger Legitimation. Die ersten Publikationen
ohne Autoren erscheinen mittlerweile in Fachzeitschriften. Forschungskollektive,
die sich aus über die Welt verteilten Gruppe zusammensetzen, arbeiten
an Projekten, wie beispielsweise der Entschlüsselung bestimmter Gene.
Ob ihre Mitglieder auf Anfrage auch noch in Zukunft namentlich genannt
werden, ist keineswegs sicher. Je mehr Technik, je gewaltiger und
unumstößlicher der Eingriff, desto mehr Verschwiegenheiten.
Das Unsichtbare ist ethisch leichter zu bemänteln. Verräterische
Namensänderungen fallen kaum auf (die hirntote schwangere Frau wird
zum »uterinen Versorgungssystem«). Die öffentliche Nachprüfbarkeit
greift ins Leere. Die »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht«
(Michel Foucault) ist kein dröhnender Feldzug, sondern eine Okkupation
in beklemmender Stille.
Die Frage stellt sich, ob
Technik auch zukünftig als »konsensfreie Enklave« (Niklas
Luhmann) behandelt werden kann. Ob es ihr gestattet sein darf, schier grenzenlose
Blankoschecks an finanziellen Mitteln aber auch an ethischen und rechtlichen
Kontributen von einer Gesellschaft zu fordern, der sie nur vage und unverbindliche
Umrisse einer Zukunft vorführen kann, ohne ihr die geringsten Mitwirkungschancen
einzuräumen.
Was bleibt zu tun? Wie umgehen
mit Wandel und Fortschritt, die Bernd Guggenberger als »Kinder des
Irrtums, nicht der Lösung« bezeichnet? Gegen die aus dem Fortschritt
erwachsenden Schwierigkeiten hilft nur neuer Fortschritt, sagen die einen,
um wenigstens die inzwischen bekannten Fehler zu vermeiden (Hubert Markel).
Die Gegenposition, die erleuchtete Bescheidenheit eines Nikolaus von Kues,
der die »belehrte Unwissenheit« (de docta ignorantia)
pries, wer wollte ihr heute folgen? Daß Nichtwissen auch Macht sein
kann, wird wenig Anhänger auf den Plan rufen. Einzelne Rufer gibt
es immerhin. Jacques Testart, führender französischer Reproduktionsforscher,
plädiert in Das transparente Ei für eine »Logik
der Nichterfindung, für eine Ethik der Nichtforschung.«
Aber kann das der Mensch
nicht wissen, nicht forschen? Die Antwort lautet: Nein. »Der
wissenschaftliche Mensch ... ist eine ganz unvermeidliche Tatsache; man
kann nicht nicht wissen wollen!« heißt es bei Robert Musil
im Mann ohne Eigenschaften. In Wirklichkeit stelle nicht der Forscher
der Wahrheit nach, sondern sie stelle ihm. Fortschritt ist nicht das eigentliche
Ziel, sondern der Preis, den der Mensch dafür zu zahlen hat,
daß er dem Drängen des suchenden Geistes keine Beschränkungen
auferlegt.
Wenn aber Fortschritt unvermeidbar
ist, dann sollte er möglichst wenig außer Kontrolle geraten,
vor allem müssen Kontrolle und Verantwortung breiter gestreut werden.
Welche Steuerungselemente sind denkbar? Eine weitreichende Transparenz
von Forschungsvorhaben in den frühesten Planungsstadien muß
verpflichtend festgelegt werden. Diese Forderung mit dem Argument der grundsätzlichen
Inkompetenz des Laien aushebeln zu wollen, zielt auf eine Entmündigung
der Gesellschaft. Ethikkommissionen, wenn sie schon unvermeidlich sind,
müssen von ihrer Zusammensetzung her mehr sein, als Legitimationsgremien,
und denen, die es hautnah angeht, Sitz und Stimme einräumen. In Dänemark
und in den Niederlanden werden bei der Diskussion strittiger wissenschaftsethischer
Fragen »gewöhnliche Bürger«, Hausfrauen, Handwerker,
Arbeiter, Studenten geladen, dürfen nach Einarbeitung in die Materie
an Grundsatzdiskussionen teilnehmen und durch ihr Votum die Gesetzgebung
mitbestimmen. Ein breiter öffentlicher Diskurs und die Mitentscheidungsmöglichkeiten
der Gesellschaft sind unverzichtbar. Foren für eine qualifizierte
Diskussion von Forschungsprojekten in der Öffentlichkeit zu etablieren,
wäre eine verdienstvolle Aufgabe gerade der Medien. Es wäre eine
Chance, die verhängnisvolle Imbalance von zuviel unkontrollierter
Macht und zu wenig Diskurs auszugleichen. Die kritische Öffentlichkeit
würde dann aus ihrer jetztigen undankbaren Zwangsrolle heraustreten
können, in der sie der Wissenschaftsgeschichtsforscher Ernst Peter
Fischer nicht zu Unrecht sieht: »... ein wenig die Rolle Gottes:
Sie ist nicht zu fassen und stets unfehlbar.«
Die Verantwortungen in der
Wissenschaft müssen rechtlich überprüfbar werden. Legislalative
und Exekutive wie bisher in einer Hand zu belassen, führt zu unkontrollierbaren
Entwicklungen. Eine Stärkung der legalen Verantwortung der
Wissenschaften muß angestrebt werden. Erst damit ist öffentliche
Verantwortlichkeit zu erreichen. Earl R. MacCormack, Professor für
»Industrial Engineering« an der North Carolina State University,
hat als kontrollierende Vision den Visionen der Wissenschaften ein Wissenschaftsgericht
für das 21. Jahrhundert gegenübergestellt: »Ich schlage
die Bildung eines Systems von Verwaltungsgerichten für die Wissenschaft
und Technologie vor, das... durch ein Gesetz zur Wissenschafts- und Technologiepolitik
autorisiert werden könnte... Richter und Anwälte, die zum Praktizieren
in dieser Gerichtsbarkeit zugelassen werden, müßen über
eine Ausbildung in einer Naturwissenschaft oder Ingenieurwissenschaft und
über eine juristische Ausbildung verfügen.«
Vielleicht läßt
sich auf diese Weise ein »mittlerer Weg« finden, der die zuverlässigste
Schadensbegrenzung des Fortschritts verspricht. Kein neuer Begriff, denn
die »Merkverse der mittleren Lehre« finden sich schon im Madhyamika,
einer der frühesten buddhistischen Schulen. Worum es geht, ist das
Finden eines Gleichgewichtes zwischen dem Verstand und den »Gründen
des Herzens«, von denen der Verstand nichts weiß (Pascal).
Es ist jenes Gleichgewicht, von dem der XIV. Dalai-Lama sagt, wenn es gelingt,
werde es möglich sein, materiellen Fortschritt und spirituelle
Entfaltung zu verbinden. Er trennt dabei zwei Arten von Ethik: die religiöse
und die säkulare. Die säkulare Ethik beschreibt er sehr präzise
und sieht in ihr »ein ganz natürliches ethisches Empfinden,
nach dem sich auch Menschen richten, die keiner Religion angehören.
Dieses ethische Verhalten ist auf einen fundamentalen Wesenszug des Menschen
zurückzuführen - seine Liebesfähigkeit. Alle Bereiche menschlicher
Aktivität - Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Technik,
Medizin, Rechtswesen - könnten humaner, positiver und konstruktiver
sein, wenn man dabei mehr Wert auf diese zwischenmenschlichen Gefühle,
auf Verständnis und Mitgefühl, legen würde.«
Diese Denkrichtung verlagert
die Verantwortung nicht - ähnlich wie die Macht - in die Anonymität,
auf die Wissenschaftler, die Gesellschaft. Sie macht die
Verantwortung zur Sache jedes Einzelnen. Sie zwingt zu konkreten persönlichen
Entscheidungen. Ob eine horrend teuere Transplantationsmedizin in bestimmten
Situationen, wo sie zwar Organe ersetzten kann, ohne jedoch die zugrunde
liegende Krankheit im geringsten zu beeinflussen, wie beispielsweise Leberverpflanzungen
bei chronischer Alkoholkrankheit (Kosten pro Transplantation bis zu 200
000 DM), Fortschritt bedeutet, wenn Pfennigbeträge pro Kopf für
Impfstoffe, Lepra- oder Tuberkulosebekämpfung in der Dritten Welt
lebensrettend sein können? Mehrklassenethik für den Fortschritt?
Ein »wahlfreies Ziel« hat Hans Jonas den Fortschritt genannt,
und den guten Ausgang von Fortschrittsbemühungen als »Gnade«
bezeichnet. Sich in den künftigen Zeiten auf sie zu verlassen, käme
einem Akt der Fahrlässigkeit gleich.
Geisler, Linus S.: Wieviel Fortschritt
braucht der Mensch? Frankfurter Rundschau, 16.12.1995, Nr. 293, S. ZB 3 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9512fr_fortschritt.html |
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