Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: WIEVIEL FORTSCHRITT BRAUCHT DER MENSCH? FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 16.12.1995
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Wieviel Fortschritt braucht der Mensch?

Zwischen Nanotechnologie und Megaprothesen / Zukunftsaspekte der Medizin

Linus S. Geisler

In seiner Erzählung Rappacinis Tochter (1844) beschreibt Nathaniel Hawthorne Dr. Rappacini als fanatischen alten Naturforscher, der - obwohl selbst Mediziner - sich »unendlich mehr für die Wissenschaft als für die Menschen interessiert.« Rappacini ist bereit menschliches Leben zu opfern, um »dem Berg seiner Kenntnisse noch ein Sandkorn hinzuzufügen«, und so ist es nur konsequent, wenn er die eigene Tochter Beatrice für seine Experimente mißbraucht.

Dieses winzige oder gewaltige Sandkorn, das dem schon nicht mehr überschaubaren Gebirge des Wissens aufs immer Neue hinzugefügt werden soll, ist seit Beginn des technischen Zeitalters Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen über Machbarkeit, Sinnhaftigkeit und den Preis des Fortschritts. Jedoch ist das Gesicht des Fortschritts im Wandel begriffen, seine Metamorphose zum Goldenen Kalb von Wissenschaft und Gesellschaft ein vergleichsweise junges Phänomen. 

Die Vorstellung Kants von Fortschritt als einer moralisch-praktischen Vernunftidee, die dem Vollzug eines verborgenen Planes der Natur dient, wobei der Mensch sich als Vernunftwesen weiterentfalten soll, wurde im industriellen Zeitalter radikal verlassen. Nicht mehr die sittliche Höherentwicklung des Menschen, sondern die fortschreitende Beherrschung der Natur wurde zum zentralen Thema. Allerdings versprach man sich von ihr auch eine fortschreitende Humanisierung der Gesellschaft. Je mehr die Fortschrittsidee an Gewicht gewann, um so stärker wurde sie Gegenstand auch literarischer, nicht selten kontroverser Reflexionen. In Samuel Butlers utopischen Roman Erewhon oder jenseits der Berge (Erewhon ist ein Anagramm des Wortes »nowhere«) findet sich eine beißend satirische Kritik an der viktorianischen Technikfaszination und ihren Werten. Daß die künstlich vom Menschen geschaffenen Dinge auch außer Kontrolle geraten könnten, mahnte auch Ralf Waldo Emerson mitten im viktorianischen Optimismus mit der berühmt gewordenen Feststellung an: »Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit« 

Wieviel Fortschritt braucht der Mensch, vor allem aber: Wieviel Fortschritt verträgt er? Das rührt an die Frage, wie dieser Fortschritt aussehen könnte. Was also können wir über diesen Fortschritt wissen oder zumindest mutmaßen? Der Blick in die Zukunft war schon immer ein besonderes Fascinosum. Die Araber versuchten im 6. Jahrhundert die Zukunft maschinell zu simulieren. Sie bedienten sich einer hochkomplizierten Buchstabenkombinatorik, Za´iridscha-el-alám genannt, zu deutsch etwa »universelle Rundscheibe«. Auch der begnadete Raimundus Lullus, der ab 1275 eine logische Maschine entwickelte, ein Kunstwerk der Kombinatorik, wagte sich in seinen Artes Memoriae an den Entwurf von »Zukunftsmaschinen«. Ihre prädiktiven Fähigkeiten blieben fragwürdig. Die seherischen Anstrengungen der Moderne erwiesen sich als kaum zuverlässiger. So erfüllten sich die pessimistischen Prognosen des englischen Landpfarrers Thomas Robert Malthus (bisher) nicht, der 1789 in seinem weltberühmt gewordenen Essay on Population in wenigen Jahrzehnten, Hunger, Massensterben und den Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Strukturen vorhersah, da das Bevölkerungswachstum die öknomischen Kapazitäten stets bei weitem übertreffen würde. Auch Dennis Meadows Untersuchung für den Club of Rome Die Grenzen des Wachstums, 1972) hat als globale Malthusianische Vision nicht durch ihre prognostische Treffsicherheit Bedeutung erlangt, sondern eher als Anstoß für globale Umweltschutzbestrebungen. Die Prognostizierbarkeit von Zukunft durch eine lineare Verlängerung der Gegenwart in das noch Kommende erweist sich demnach als Fiktion. 

Vorhersagen in Medizin und Biologie haften darüber hinaus spezifische Schwierigkeiten an. Nicht zu Unrecht hat Katerine Ierodiakonou in der englischen Fachzeitschrift Lancet (1993) die Medizin als »stochastische Kunst«, also als zufallsabhängig bezeichnet. Die Chaosforschung lehrt, daß geringfügige Temperaturänderungen in einem Teil der Welt Hurrikane in weit abgelegenen anderen Weltregionen verursachen können. Übertragen auf menschliche Individuen als hochkomplexe Systeme kann dies nur bedeuten, daß eine Langzeitbetrachtung ihres Schicksals allenfalls in groben allgemeinen Beschreibungen möglich ist, nicht aber im Sinne einer individuellen Prognose. Alle Zukunftsbetrachtungen der Medizin können sich daher nur in diesen engen Grenzen bewegen.

Vor der nur vage beantwortbaren Frage, wie der Fortschritt aussehen könnte, ist zunächst die Frage zu stellen, wie denn dieser Fortschritt aussehen sollte. Viel mehr noch: wer für die Vorgaben dieses Unterfangens maßgeblich und verantwortlich ist? Die Ärzte, die Wissenschaftler, die Patienten, die Politiker, die Industrie, alle zusammen oder »die Gesellschaft« insgesamt? Auf der Suche nach Wunschträumen und Zukunftsvisionen stößt man auf ein unerwartet dürftiges Terrain, zumindest bei denen, die es hautnah angeht: den Kranken und ihren Ärzten. Vergeblich sucht man nach einer aussagefähigen Untersuchung in der Fachliteratur der letzten Jahre, die die Patienten- oder Arzterwartungen der medizinischen Welt von Morgen artikuliert. 

In einer offenen »Multioptionsgesellschaft« (Peter Gross) sind auch die Zukunftsspektren extrem offen. Der Verteilungskampf um die größte Schnitte aus dem Kuchen »Zukunft« wird dementsprechend unerbittlich geführt. Die mangelnde Entschlossenheit und die dürftigen Konzepte bestimmter Gruppen (Patienten, Ärzte) begünstigen dabei gefährliche Ungleichgewichte. Wenn der einzige Generalnenner einer Gesellschaft nur noch darin besteht, daß ihre Mitglieder, wie schon Thomas Hobbes erkannte, nicht sterben wollen, ist dies als Regulativ wenig tauglich. »Meinungsbildner« haben dann meist nur einen Aushängeschildeffekt. Die weitreichenden Entscheidungen werden von anonymen Gruppierungen getroffen. Legen sie gezwungenermaßen einmal ihre Handlungsprinzipien offen, zeigen sich bedenkliche Verwischungen von Legislative und Exekutive. 

Eines der Beispiele ist der aktuelle Entwurf einer Bioethik-Konvention des Europarates, der die Geschicke von etwa siebenhundert Millionen Menschen berührt. Trotz Proteste, vor allem von deutscher Seite, wird daran festgehalten, daß an einwilligungsunfähigen Personen Eingriffe nicht nur zu ihrem unmittelbaren Nutzen, sondern auch zu Zwecken der Forschung vorgenommen werden dürfen. Anders seien Fortschritte in der Erforschung gewisser Kinderkrankheiten (welcher?) sowie in der Demenzforschung (Alzheimersche Krankheit) nicht zu erzielen. Es sei geradezu ethisch bedenklich, diesen Krankengruppen »Behandlungs- und Heilungschancen« (!) vorzuenthalten. Ein soeben erschienenes Buch mit dem Titel Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen? verfolgt die gleiche Richtung. Zunächst wird ein apokalyptisches Szenario gesellschaftlicher Belastungen durch die steigende Zahl Demenzkranker entworfen. Durch einen bislang kaum begründbaren Optimismus wird mit »großer Sicherheit« davon ausgegangen, daß neue wirksame Behandlungsverfahren gefunden werden könnten (»Demenzforschung als kaum zu unterschätzende Zukunftsinvestition«) - allerdings nur wenn die bestehenden »rechtlichen Forschungshindernisse« schnell »reduziert« würden. Das ethisch (noch) Unzulässige, erscheint nur deshalb zweifelhaft, weil gesetzliche Korrekturen hinterherhinken. 

Ahnlich verhält es sich mit der Präimplantationsdiagnostik. Sie steht ungeduldig in den Startlöchern, mit dem Versprechen nur »gesunde« Embryonen zur Einpflanzung in den mütterlichen Körper freizugeben, und klagt: »Der Gesetzesapparat ist zu langsam für den wissenschaftlichen Fortschritt« (Klaus Diedrich, Lübeck). In der Diskussion um die genetische »Qualität« der Emryonen tauchen gefährlich vage Begriffe auf, wie zum Beispiel »Rollstuhlkind«, als ob dies irgendeiner exakten prospektiven Diagnose entspräche. In Wahrheit lassen sich darunter die verschiedensten Krankheiten und Behinderungen subsummieren und zugleich kollektiv ausgrenzen. 62 Prozent der befragten Ärzte in einer US-amerikanischen Studie räumten ein, sie würden pränatale Diagnostik ausschließlich zum Zweck der Geschlechtsauswahl vornehmen oder veranlassen. 

Wem soll überlassen werden zu entscheiden, wer »gesund« ist und wer »krank«? Es gibt bereits Erörterungen, ob Nichtseßhafte als »Behinderte« oder als gesellschaftliche Randfiguren zu betrachten sind; die unterschiedlichen Konsequenzen der jeweiligen Einschätzung liegen auf der Hand. Die Diskussion läßt sich unschwer auf Linkshänder, Raucher oder Legastheniker ausdehnen. Immerhin würden nach einer 1990 durchgeführten Umfrage in New England/USA elf Prozent der befragten Eltern ein Kind schon deshalb abtreiben lassen, weil ein vorgeburtlicher Gentest die Neigung zu Übergewicht ergibt. Wer kann garantieren, daß bei der Feststellung eines genetischen Defektes das Geschlecht des Embryo nicht doch zum Zünglein an der Waage für die Entscheidungsfindung wird? 

Beispielhaft zeigen sich in so weit auseinanderliegenden Feldern wie der Genforschung und den Experimenten an einwilligungsunfähigen Menschen auffallende Gemeinsamkeiten. Ihr Nutzen wird als unzweifelhaft vorausgesetzt. Unaufhaltbar sei der »Siegeszug der Molekularbiologie«, die sich im übrigen keines »fremden« Instrumentariums bediene, sondern sich nur am Vorbild der Natur orientiere. Daß die Gentechnik bisher für den kranken Menschen so gut wie nur marginale Erfolge vorweisen kann, und die Vision der Überwindung des Krebses und der Ausrottung von Erbkrankheiten bisher pure Utopien sind, räumen selbst engagierte Verfechter ein (Jeremy M. Leiden, New England Journal vom 28. Sept. 1995). Zwar ist das Gen, das zur zystischen Fibrose führt, lokalisiert, isoliert und sequenzierbar, und die für die Tay-Sachssche Krankheit verantwortliche Mutation sehr genau bekannt. Therapeutische Konsequenzen haben sich daraus bisher nicht ergeben. Ganz abgesehen davon, daß jede per Genmanipulation aus der Welt verbannte Erbkrankheit via Spontanmutation höchstwahrscheinlich von mindestens einer neuen abgelöst werden wird. 

Noch um die Jahrhundertwende waren Herzkreislaufkrankheiten und Krebs, die heutigen Todesursachen Nummer eins und zwei, für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung von untergeordneter Bedeutung. Dennoch, so schreibt Barbara J. Culliton im Märzheft von Nature Medicine, solle man mit Eingriffen in die menschliche Keimbahn beginnen, »when the time is right«. Sie läßt den Leser auch nicht im unklaren, wann die Zeit gekommen ist: »wenn die Technologien verfügbar und die Sicherheitsstandards entwickelt sind«. Von ethischen Entscheidungsgründen ist nicht die Rede. Beschwichtigend fügt sie hinzu, eugenische Bemühungen um den einzelnen hätten natürlich mit den Hitlerschen Bestrebungen, ganze Volksgemeinschaften genetisch zu manipulieren, nichts zu tun. 

Behebung von krassem Mangel, Ausmerzung nicht hinnehmbarer Krankheiten oder Behinderungen, das sind die Etiketten, für die das Faszinosum der Fortschrittsszenarien allemal Begründungen liefern. Bei näherem Hinsehen wird häufig ihre Fragwürdigkeit evident. Sechzehn verschiedene Techniken hält die Reproduktionsmedizin im Kampf gegen Kinderlosigkeit bereit, um einen Menschen zu zeugen.  Sehr unterschiedliche Biotechnologien schlagen dabei unter Umständen die gleiche Marschrichtung ein. Das Szenario der Mutterschaft im 21. Jahrhundert entwirft der Utrechter Reproduktionsspezialist E.R. te Velde folgendermaßen: die Frauen werden immer später schwanger, die Zahl der künstlichen Befruchtungen nimmt drastisch zu, damit aber auch die Zahl der Fehl- und Mehrlingsgeburten. Als typischen Fall beschreibt er die 20jährige, die ihre Eizellen einfrieren und sich danach sterilisieren läßt; hat sie ihre Karriere hinter sich und im x-ten Anlauf den richtigen Lebenspartner gefunden, entschließt sie sich zwischen 50 und 60 per Reagenzglasbefruchtung zur Mutterschaft. »Mamme nonne« (Mütter-Großmütter) nennen die Italiener solche Frauen wie Rosanna Della Corte, 63, Bäuerin aus einem Dorf bei Viterbo, die ihr spätes Mutterglück dem römischen Reproduktionsmediziner Severino Antinori zu verdanken hat.

Die Zahl der Organe, die einem Einzelnen eingepflanzt werden können, scheint unbegrenzt. Jeder zweite Eingriff nach dem Jahre 2000, so lauten Schätzungen der Unesco, werde eine Verpflanzung von Organen oder Geweben sein. Die Cyber-Medizin stellt rechnergestützte Ausflüge in das Körperinnere in Aussicht. Im »OP 2015« beschmutzt kein Chirurg mehr dank der von ihm entwickelten Software seine Hände, sondern betreibt unbefleckt »Cyberstick-Chirurgie« .Der Simulated patient, der virtuelle Leichnam und das digitale Skalpell erlauben risikolos eine »patientenfreie« Edukation. Die Telemedizin garantiert, daß Begegnungen zwischen Arzt und Patient wie in der »alten« Realität nicht mehr vorkommen. Computerassistierte Robotersysteme operieren Hirntumoren (PUMA MARK II Robotic System, MINERVA) oder implantieren Hüftgelenke (ROBODOC). Die Szenarien der Robotik sind grenzenlos. Vielleicht wird sich aber auch nur der universell einsetzbare Pflegeroboter für Altenheime als Krönung dieser Forschungsrichtung erweisen. Die Nanotechnologie (Die letzte industrielle Revolution) stellt Mikromaschinen in Aussicht, die von Nanocomputern, »Nands«, gesteuert werden und den menschlichen Körper zu Heilungszwecken durchdringen. 

Die Unterwerfung des Lebens vollzieht sich im Namen des Lebens. Meistens findet sie im Unsichtbaren statt. Das Genom, der Embryo, die Keimbahn, sie sind dem Auge entzogen. Agiert wird vor allem dort, wo sich nichts wehrt, wo kein Widerstand erfolgt. Niemand scheint direkt an der Embryonenforschung zu partizipieren. Eingriffe in die Keimbahn zielen auf eine fakultative, sprich fiktive Nachkommenschaft ab. Das Genom des Menschen wurde soeben in einer Bioethik-Deklaration der UNESCO »zum gemeinsamen Erbe der Menschheit« ernannt. Eine großartige Geste wie es scheint. Aber kann man die eigentliche Identität des Menschen zum biologischen und rechtlichen Objekt machen und zur allgemeinen Verfügung freigeben wie die Mondoberfläche oder den Meeresboden? Abgesehen davon, daß das Genom »des« Menschen das Modell eines hypothetischen Durchschnittsmenschen darstellt. In Wirklichkeit unterscheidet sich jedes einzelne menschliche Genom von dem aller anderen Menschen (jeweils um etwa ein Zehntel Prozent oder circa 3 Millionen Nukleotide). Die Motivation für dieses globale Vermächtnis wird deutlicher, wenn in dem gleichen Papier die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit von Eingriffen zu »wissenschaftlichen, therapeutischen und diagnostischen Zwecken« die Rede ist. Noch mehr sollte hellhörig stimmen, wenn in dem Hintergrund-Dokument der Unesco vom 27.7.1995 gefordert wird, »an die Stelle einer 'defensiven' Bioethik « solle eine »ausgewogenere Herangehensweise« treten. In dem von Daniel Kevles und Leroy Hood herausgegebenen Werk Der Supercode (1993) findet sich ein Beitrag von Walter Gilbert (Nobelpreis für Chemie 1980) mit keinem geringeren Titel als »A Vision of the Grail«, eine Vision des Heiligen Grals. Gemeint ist das Genom. Wie kostbar der Inhalt dieses sakralen Gegenstandes ist, hat der Genetiker Richard C. Lewontin (Die Jagd nach dem Genom, Lettre International Nr. 30, 1995) mit sehr profanen Worten ausgedrückt: »Ich kenne keinen prominenten Molekularbiologen, der nicht finanzielle Interessen in der Biotechnologie-Industrie hätte.« Die damit verbunde Macht ist beträchtlich, und dies wird auch eingeräumt: »Zweifellos schwingt wie beim Heiligen Gral auch bei seinem biologischen Gegenstück, dem Genomprojekt, Macht und Furcht mit ...« Es bleibt verborgen, wer diese Macht kontrolliert und unausgesprochen, auf welches Mandat sie sich stützen kann. Sicher ist nur, daß diese Macht nicht »vom Volke ausgeht«, aber weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. 

Es ist eine Medizin der Anonymität: die Handelnden, die Fordernden, die Betroffenen, sie bleiben ungenannt, sind Gruppen mit fragwürdiger Legitimation. Die ersten Publikationen ohne Autoren erscheinen mittlerweile in Fachzeitschriften. Forschungskollektive, die sich aus über die Welt verteilten Gruppe zusammensetzen, arbeiten an Projekten, wie beispielsweise der Entschlüsselung bestimmter Gene. Ob ihre Mitglieder auf Anfrage auch noch in Zukunft namentlich genannt werden, ist keineswegs sicher.  Je mehr Technik, je gewaltiger und unumstößlicher der Eingriff, desto mehr Verschwiegenheiten. Das Unsichtbare ist ethisch leichter zu bemänteln. Verräterische Namensänderungen fallen kaum auf (die hirntote schwangere Frau wird zum »uterinen Versorgungssystem«). Die öffentliche Nachprüfbarkeit greift ins Leere. Die »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht« (Michel Foucault) ist kein dröhnender Feldzug, sondern eine Okkupation in beklemmender Stille. 

Die Frage stellt sich, ob Technik auch zukünftig als »konsensfreie Enklave« (Niklas Luhmann) behandelt werden kann. Ob es ihr gestattet sein darf, schier grenzenlose Blankoschecks an finanziellen Mitteln aber auch an ethischen und rechtlichen Kontributen von einer Gesellschaft zu fordern, der sie nur vage und unverbindliche Umrisse einer Zukunft vorführen kann, ohne ihr die geringsten Mitwirkungschancen einzuräumen. 

Was bleibt zu tun? Wie umgehen mit Wandel und Fortschritt, die Bernd Guggenberger als »Kinder des Irrtums, nicht der Lösung« bezeichnet? Gegen die aus dem Fortschritt erwachsenden Schwierigkeiten hilft nur neuer Fortschritt, sagen die einen, um wenigstens die inzwischen bekannten Fehler zu vermeiden (Hubert Markel). Die Gegenposition, die erleuchtete Bescheidenheit eines Nikolaus von Kues, der die »belehrte Unwissenheit« (de docta ignorantia) pries, wer wollte ihr heute folgen? Daß Nichtwissen auch Macht sein kann, wird wenig Anhänger auf den Plan rufen. Einzelne Rufer gibt es immerhin. Jacques Testart, führender französischer Reproduktionsforscher, plädiert in Das transparente Ei für eine »Logik der Nichterfindung, für eine Ethik der Nichtforschung.«

Aber kann das der Mensch nicht wissen, nicht forschen? Die Antwort lautet: Nein. »Der wissenschaftliche Mensch ... ist eine ganz unvermeidliche Tatsache; man kann nicht nicht wissen wollen!« heißt es bei Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften. In Wirklichkeit stelle nicht der Forscher der Wahrheit nach, sondern sie stelle ihm. Fortschritt ist nicht das eigentliche Ziel, sondern der Preis, den der Mensch dafür zu zahlen hat, daß er dem Drängen des suchenden Geistes keine Beschränkungen auferlegt. 

Wenn aber Fortschritt unvermeidbar ist, dann sollte er möglichst wenig außer Kontrolle geraten, vor allem müssen Kontrolle und Verantwortung breiter gestreut werden. Welche Steuerungselemente sind denkbar? Eine weitreichende Transparenz von Forschungsvorhaben in den frühesten Planungsstadien muß verpflichtend festgelegt werden. Diese Forderung mit dem Argument der grundsätzlichen Inkompetenz des Laien aushebeln zu wollen, zielt auf eine Entmündigung der Gesellschaft. Ethikkommissionen, wenn sie schon unvermeidlich sind, müssen von ihrer Zusammensetzung her mehr sein, als Legitimationsgremien, und denen, die es hautnah angeht, Sitz und Stimme einräumen. In Dänemark und in den Niederlanden werden bei der Diskussion strittiger wissenschaftsethischer Fragen »gewöhnliche Bürger«, Hausfrauen, Handwerker, Arbeiter, Studenten geladen, dürfen nach Einarbeitung in die Materie an Grundsatzdiskussionen teilnehmen und durch ihr Votum die Gesetzgebung mitbestimmen. Ein breiter öffentlicher Diskurs und die Mitentscheidungsmöglichkeiten der Gesellschaft sind unverzichtbar. Foren für eine qualifizierte Diskussion von Forschungsprojekten in der Öffentlichkeit zu etablieren, wäre eine verdienstvolle Aufgabe gerade der Medien. Es wäre eine Chance, die verhängnisvolle Imbalance von zuviel unkontrollierter Macht und zu wenig Diskurs auszugleichen. Die kritische Öffentlichkeit würde dann aus ihrer jetztigen undankbaren Zwangsrolle heraustreten können, in der sie der Wissenschaftsgeschichtsforscher Ernst Peter Fischer nicht zu Unrecht sieht: »... ein wenig die Rolle Gottes: Sie ist nicht zu fassen und stets unfehlbar.« 

Die Verantwortungen in der Wissenschaft müssen rechtlich überprüfbar werden. Legislalative und Exekutive wie bisher in einer Hand zu belassen, führt zu unkontrollierbaren Entwicklungen. Eine Stärkung der legalen Verantwortung der Wissenschaften muß angestrebt werden. Erst damit ist öffentliche Verantwortlichkeit zu erreichen. Earl R. MacCormack, Professor für »Industrial Engineering« an der North Carolina State University, hat als kontrollierende Vision den Visionen der Wissenschaften ein Wissenschaftsgericht für das 21. Jahrhundert gegenübergestellt: »Ich schlage die Bildung eines Systems von Verwaltungsgerichten für die Wissenschaft und Technologie vor, das... durch ein Gesetz zur Wissenschafts- und Technologiepolitik autorisiert werden könnte... Richter und Anwälte, die zum Praktizieren in dieser Gerichtsbarkeit zugelassen werden, müßen über eine Ausbildung in einer Naturwissenschaft oder Ingenieurwissenschaft und über eine juristische Ausbildung verfügen.«

Vielleicht läßt sich auf diese Weise ein »mittlerer Weg« finden, der die zuverlässigste Schadensbegrenzung des Fortschritts verspricht. Kein neuer Begriff, denn die »Merkverse der mittleren Lehre« finden sich schon im Madhyamika, einer der frühesten buddhistischen Schulen. Worum es geht, ist das Finden eines Gleichgewichtes zwischen dem Verstand und den »Gründen des Herzens«, von denen der Verstand nichts weiß (Pascal). Es ist jenes Gleichgewicht, von dem der XIV. Dalai-Lama sagt, wenn es gelingt, werde es möglich sein, materiellen Fortschritt und spirituelle Entfaltung zu verbinden. Er trennt dabei zwei Arten von Ethik: die religiöse und die säkulare. Die säkulare Ethik beschreibt er sehr präzise und sieht in ihr »ein ganz natürliches ethisches Empfinden, nach dem sich auch Menschen richten, die keiner Religion angehören. Dieses ethische Verhalten ist auf einen fundamentalen Wesenszug des Menschen zurückzuführen - seine Liebesfähigkeit. Alle Bereiche menschlicher Aktivität - Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft, Technik, Medizin, Rechtswesen - könnten humaner, positiver und konstruktiver sein, wenn man dabei mehr Wert auf diese zwischenmenschlichen Gefühle, auf Verständnis und Mitgefühl, legen würde.«

Diese Denkrichtung verlagert die Verantwortung nicht - ähnlich wie die Macht - in die Anonymität, auf die Wissenschaftler, die Gesellschaft. Sie macht die Verantwortung zur Sache jedes Einzelnen. Sie zwingt zu konkreten persönlichen Entscheidungen. Ob eine horrend teuere Transplantationsmedizin in bestimmten Situationen, wo sie zwar Organe ersetzten kann, ohne jedoch die zugrunde liegende Krankheit im geringsten zu beeinflussen, wie beispielsweise Leberverpflanzungen bei chronischer Alkoholkrankheit (Kosten pro Transplantation bis zu 200 000 DM), Fortschritt bedeutet, wenn Pfennigbeträge pro Kopf für Impfstoffe, Lepra- oder Tuberkulosebekämpfung in der Dritten Welt lebensrettend sein können? Mehrklassenethik für den Fortschritt? Ein »wahlfreies Ziel« hat Hans Jonas den Fortschritt genannt, und den guten Ausgang von Fortschrittsbemühungen als »Gnade« bezeichnet. Sich in den künftigen Zeiten auf sie zu verlassen, käme einem Akt der Fahrlässigkeit gleich.


Geisler, Linus S.: Wieviel Fortschritt braucht der Mensch? Frankfurter Rundschau, 16.12.1995, Nr. 293, S. ZB 3
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