Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: DER HIRNTOD IST EINE PHASE IM STERBEN .... FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 24.02.1995
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Der Hirntod ist eine Phase im Sterben und damit Teil des Lebens

Wann ist der Mensch tot / Ein Gespräch mit dem Mediziner Linus Geisler über die Voraussetzungen einer Organentnahme

Voraussetzung für die Entnahme von durchbluteten Organen ist der Hirntod des Organgebers. Bei einem Hirntoten werden Atmung und Herztätigkeit maschinell aufrechterhalten, damit die Organe durchblutet werden und für eine Übertragung geeignet bleiben. Im angekündigten deutschen Transplantationsgesetz soll der Hirntod als Tod des Menschen festgeschrieben werden. Doch diese Gleichsetzung ist umstritten. Über Hirntod und Organtransplantation sprach mit dem Chefarzt der Inneren Abteilung des St. Barbara Hospital in Gladbeck, Linus Geisler (unser Bild), FR-Redakteur Michael Emmrich.

FR: Herr Professor Geisler, ist ein hirntoter Mensch tot?

Geisler: Ich sage ganz klar: Nein. Der Hirntod ist eine markante Zäsur in einem Prozeß. Er zeigt an, daß der "point of no return" im Sterben erreicht ist. Er ist also eine Phase im Sterbeprozeß und damit eine Phase im Leben. Ihre Frage läuft letztendlich darauf hinaus: Ist ein Hirntoter ein Toter mit noch erhaltenen Körperfunktionen, oder ist er ein Lebender - 97 Prozent seines Körpers leben ja noch - ohne Hirnfunktion? 

Wir können diese Frage ganz praktisch angehen und uns fragen: Sehen wir beim Hirntoten Zeichen des Todes: vollkommene Reaktionslosigkeit, Muskelstarre oder Leichenflecken? Nichts davon sehen wir. Aber wir können beim Hirntoten eine ganze Reihe von Phänomenen beobachten, die wir nur vom Lebenden her kennen: Sein Herz schlägt, er hat einen Stoffwechsel, er macht spontane Bewegungen (das sogenannte Lazarus-Zeichen), er reagiert auf Schmerzreize mit massivem Blutdruckanstieg (zum Beispiel bei der Organentnahme), und eine Hirntote kann ein werdendes Kind ernähren, eventuell austragen. 

Das sind sehr viele Zeichen, die für Leben sprechen. Bei der intensivmedizinischen Betreuung von Hirntoten bemüht man sich ja mit großem Einsatz um die Aufrechterhaltung von "Vitalfunktionen" (lebenserhaltende Funktionen) - und dies bei einer "Leiche", bei einem quasi "Scheinlebenden". 

FR: Was passiert denn mit einem Hirntoten, ehe Organe entnommen werden, warum erhalten Hirntote Beruhigungsmittel, wenn sie doch tot sind?

Geisler: Die Transplantationsmediziner argumentieren: Wir verabreichen Muskelrelaxantien, um Bewegungen von Hirntoten während der Organentnahme zu vermeiden, damit die Operationsteams nicht gestört werden und um das Pflegepersonal zu schonen. Natürlich muß man sich fragen, was es wirklich bedeutet, wenn ein Hirntoter auf Schmerzreize mit Bewegungen reagiert. Handelt es sich "nur" um Rückenmarksreflexe oder doch um eine Form subtilerer Wahrnehmung?

FR: Mehrere medizinische Fachgesellschaften haben aber im vergangenen Jahr noch einmal den Hirntod als des Tod des Menschen verteidigt. Das hat doch den Anschein, daß dieses Kriterium unumstritten ist.

Geisler: Hier ist eine Antwort gegeben worden, die sich auf Methoden stützt, die diese Antwort nicht liefern können. Man sollte eine ehrliche Position einnehmen und feststellen: Ob ein Hirntoter lebt oder nicht, können wir nicht als Ergebnis naturwissenschaftlicher Methoden wissen. Dieses grundsätzliche Unwissen läßt sich nicht durch Hirnstromuntersuchungen oder Messungen des Reflexverhaltens in Wissen überführen. Hier gibt es nichts zu messen und nichts zu registrieren, was uns eine sichere Antwort auf die Frage erlaubt: tot oder lebendig. Denn hier handelt es sich um eine anthropologische Frage. Es geht um die Frage: Was ist der Mensch? 

Akzeptieren wir eine Antwort, die lautet: Der Mensch ist sein Gehirn, dann wäre der Mensch in der Tat tot, wenn sein Gehirn tot ist. Dann kommt man aber sehr rasch in schwierige Probleme: Zum Beispiel bei der Verpflanzung von fetalem, lebendem Hirngewebe. Dies ist eine noch experimentelle Methode, die in Schweden und den USA zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit durchgeführt wird, eventuell in Zukunft auch bei uns. Sie steht im völligen Widerspruch zum Hirntodkonzept, das ja darauf beruht, das Gehirn sei das einzige wirklich lebensnotwendige Organ. Wie kann dann die Verpflanzung von Hirngewebe gerechtfertigt werden?

FR: Führt das Hirntodkonzept nicht zwangsläufig zum Teilhirntodkonzept, wenn man den Tod immer genauer in bestimmten Hirnarealen orten könnte, wenn andere Teil des Gehirns noch leben?

Geisler: Diese Gefahr liegt auf der Hand. Einmal auf Grund methodischer Probleme. Die Hirntoddiagnose ist eine sichere Diagnose, aber sie ist wie alle Diagnosen in der Medizin nicht unfehlbar. Dies wird auch von renommierten US-amerikanischen Transplantationsexperten wie zum Beispiel Robert Truog oder James Fackler von der Harvard Medical School in Boston eingeräumt und zugleich als Brückenschlag zum Teilhirntodkonzept verstanden. 

Zum anderen stellt sich die Frage: Wie tot ist das Gehirn des Hirntoten wirklich? Aus Japan stammen sehr sorgfältige Untersuchungen zum Beispiel von Kawamoto über elektrische Restaktivitäten im Gehirn Hirntoter, und Yokota und seine Mitarbeiter von der Nippon Medical School, Tokyo, haben den Nachweis einer Hormonproduktion im Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns; d. Red.) Hirntoter erbracht. 

Als Ausweg aus diesen Problemen bietet sich das Teilhirntodkonzept förmlich an. Der irreversible Verlust des Bewußtseins, der dann für die Organentnahme zu Transplantationszwecken genügen würde, ist sehr viel leichter zu diagnostizieren als der Hirntod, und die Zahl potentieller Organgeber würde sprunghaft ansteigen

Der Preis dafür wäre freilich die Aufgabe unseres bisherigen Menschenbildes. Der Mensch würde dann nur noch, ähnlich einer Maschine, nach Organfunktionen und Organhierarchien bewertet. Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen, der mehr ist als nur die Summe funktionierender Organe, würde restlos geopfert.

FR: Wenn man zugesteht, daß der Tod Ausdruck einer Konvention und der Vorstellung einer bestimmten Zeitepoche ist, gehört demnach die Definitionsmacht über den Menschen nicht alleine in die Hand der Medizin?

Geisler: Mit Sicherheit nicht. Die Frage ist doch die: Wollen wir den Hirntod mit dem Tod des Menschen, vielleicht sogar per Gesetz, gleichsetzen? Dagegen spricht wie ersichtlich sehr vieles. Oder aber: Wollen wir einen gesellschaftlichen Konsens, wonach wir den Hirntod mit dem Tod gleichstellen. Beides sind keine Entscheidungen der Medizin sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft. Sie lautet sinngemäß im letzteren Falle: Menschen, die alle Kriterien des Hirntodes erfüllen, werden wie Tote behandelt, ihre Organe können unter gewissen Voraussetzungen zur Transplantation entnommen werden. 

Im übrigen muß ich in diesem Zusammenhang betonen, daß kritische Betrachtungen des Hirntodkonzeptes nicht gleich an allen Grundfesten der Transplantationsmedizin rütteln. Worum es geht ist, kritisch zu prüfen, ob wir das abendländische Menschenbild aufgeben wollen, weil eine Gesellschaft zunehmend utilitaristische Züge entwickelt, ganz zu schweigen von dem Bruch mit uralten Sterbekulturen.

FR: Wo läge dann bei einer Akzeptanz des Hirntodes unter den von Ihnen genannten Bedingungen ein gangbarer Weg für die Organtransplantation?

Geisler: Man sollte vor allem ehrlich und offen vorgehen und festhalten: Der Hirntod ist eine Übereinkunft. Er ist der Zeitpunkt im Sterbeprozeß, ab dem Organe unter bestimmten Umständen zur Transplantation entnommen werden können, wenn dies einem von der Gesellschaft getragenen Konsens entspricht. Ob man sich aber als Spender - aber auch als Empfänger - dieser Übereinkunft anschließt, kann ausschließlich eine persönliche Entscheidung sein. Folgerichtig kann diese Entscheidung zur Organspende nur zu Lebzeiten getroffen werden. Denn hier handelt es sich um ein fundamentales Persönlichkeitsrecht, das nicht übertragbar ist. Es kann ja auch niemand für uns wählen oder ein Testament errichten. Also kann nur eine enge Zustimmungslösung in Betracht kommen, keine Informations- oder gar Widerspruchslösung.

Würde auch die Transplantationsmedizin diesen Schritt öffentlich nach vorne tun, dann bin ich mir sicher, daß der vielbeschworene Rückgang an Spenderorganen nicht eintreten müßte. Und: Die Transplantationsmedizin würde sich endlich auf einem sichereren juristischen, ethischen und anthropologischen Boden bewegen. 


Geisler, Linus: Der Hirntod ist eine Phase im Sterben und damit Teil des Lebens. Frankfurter Rundschau, 24.02.1995, S. 16
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9502fr_hirntod.html

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