Nach uns die Maschine?
Das Menschenbild der modernen Medizin
/ Von Linus S. Geisler
Kurt Tucholsky hat einmal
sinngemäß gesagt, ein Arzt ohne Geräte sei kein Arzt. Schon
der Schamane der sogenannten "primitiven" Medizin verfügte über
ein bescheidenes Instrumentarium: die Feder, um Krankheiten "wegzuwischen",
einen im Mund bereitgehaltenen Stein, den er zum Beweis des aus dem Körper
des Kranken herausgesogenen Übels ausspie. Die zunehmende Veränderung
der Medizin durch die Naturwissenschaften und die Technik hat frühzeitig
erste Mahner auf den Plan gerufen. In seiner Grundsatzrede im Jahre 1958
zeichnete Karl Jaspers das Bild des von Apparaten umgebenen Kranken, die
ihn "verarbeiten", ohne dass er den Sinn des Ganzen erkennen kann, umgeben
von Ärzten, von denen keiner sein Arzt ist. Mensch und Maschine beginnen
eine Art Symbiose zu bilden. Dieses Bild nimmt sich, so bedrückend
es ist, freilich harmlos aus im Vergleich zu den Perspektiven, die sich
heute eröffnen.
Der Entwurf des Menschenbildes
der heutigen Medizin entstammt in wesentlichen Zügen dem cartesianischen
Denken, das auch heute die Naturwissenschaften entscheidend prägt.
Biologen vom Rang eines Jacques Monod lehren uns, dass Lebewesen "chemische
Maschinen" sind, der Organismus nichts weiter als eine Maschine, die sich
selbst aufbaut. Folgt man dem Evolutionsverständnis einiger moderner
Biologen, so ist der Mensch nicht nur eine Maschine, sondern mehr noch
- nichts als eine Maschine. In seinem Buch "Das egoistische Gen"
spekuliert Richard Dawkins über eine neue Form "genetischer Machtübernahme":
DNA-Replikatoren bauen für sich selbst Überlebensmaschinen, wofür
sie lebende Organismen benutzen. Diese DNA-Replikatoren, so Dawkins, tragen
den Namen Gene, und der Mensch ist nichts weiter als ihre Überlebensmaschine.
Philosophischer Ausgangspunkt
dieser Entwicklung war der cartesianische Reduktionismus, die fundamentale
Trennung von Geist und Materie. Sie musste zwangsläufig zur Auffassung
führen, auch der Körper des Menschen sei nur eine animalische
Maschine. Descartes sah keinerlei Unterschied zwischen Maschinen, die von
Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die die Natur zusammengesetzt
hat. Für ihn war der menschliche Körper eine Maschine. "In Gedanken",
so schrieb Descartes, "vergleiche ich einen kranken Menschen und eine schlecht
gemachte Uhr mit meiner Idee von einem gesunden Menschen und einer gut
gemachten Uhr."
Die damals geschmiedete unheilige
Allianz aus Fremd- und Selbstwahrnehmung des Menschen als geniale
und zugleich defektgefährdete Maschine hat von da an ihre Unauflöslichkeit
stetig verfestigt. Nirgendwo wird sie deutlicher als am Konzept des krank
gewordenen, defekten Menschen der heutigen Medizin. Dieses Maschinenmodell
sieht sich, jeweils an den aktuellen Stand der Technik angepasst, als das
beherrschende Menschenbild durch die Medizin. Jean Jacques Rousseau, Sohn
eines Uhrmachers, war wohl der erste, der das Wort automaton prägte.
Er verwendete diese Bezeichnung allerdings nicht, wie später üblich,
für anthropomorphe Maschinen, sondern bemerkenswerterweise für
Menschen, die Maschinen zu sein schienen. Genaugenommen war dies bereits
der visionäre Ansatz, der die Perspektive von der immer menschlicher
gewordenen Maschine zum immer "maschinlicher" werdenden Menschen eröffnet,
jenen Prozess technischer Evolution also, der, zu Ende gedacht, schließlich
dazu führt, dass der Mensch "ohne sich selbst auskommt", wie Stanislaus
Jerzy Lee vorausahnte. Doktor Friedrich Hoffman (Entdecker der "Hoffmanns-Tropfen"),
Aesculapis Hallensis genannt, beschrieb um 1720, ganz im Sinne der Aufklärung,
den Menschen in seiner Medicina mechanica als "hydraulische Maschine",
zusammengesetzt aus großen und kleinen Röhren, in denen Blut,
Lymphe und eine hypothetische Nervenflüssigkeit, der sogenannte "Spiritus
animalis", zirkulierten. Das Ganze wurde immerhin noch von Gott in Bewegung
gesetzt.
In "Mechanismus und Materialismus"
sah der Biologe Joseph Needham im Jahre 1928 die Grundlage des heutigen
wissenschaftlichen Denkens. Es prägt auch Handeln, Ziele und Sprache
der modernen Medizin. In einem aktuellen amerikanischen Lehrbuch der Chirurgie
sprechen die Autoren beispielsweise von "Organ-Ernte". Für sie wird
der Mensch zu etwas, das auseinanderfällt, "Stück für Stück",
und "... es ist die Aufgabe der Transplantation, die verbrauchten Teile
zu ersetzen, wenn sie aussetzen". Die Organe werden mittlerweile ausgiebig
geerntet. In der Universitätskinderklinik von Pittsburgh/Pennsylvania
erhielt vor kurzem ein vierjähriges Mädchen vom Indianerstamm
der Sioux fünf neue Organe: Niere, Leber, Magen, Bauchspeicheldrüse
sowie Dünn- und Dickdarm. Wie ein Austauschmotor kann ein Herz mehrmals
in verschiedene "Betriebssysteme" eingebaut werden. Fasziniert vom Primat
der Funktionalität, schrieben die Operateure, dass ein zweimal
verpflanztes
Herz im Körper dreier Menschen gut funktioniert habe.
Das Zusammentreffen von Mensch
und Computer lässt die Aufweichung der Grenzen zwischen Mensch und
Maschine besonders deutlich hervortreten. Es handelt sich um einen schleichenden
Prozess, an dessen Ende der vollständige Rollenwechsel steht. Die
Sprache demaskiert die Rollenbeziehung: Der Mensch "bedient" die Maschine,
er "füttert" sie mit Programmen. Der Mensch selbst erlebt sich mehr
und mehr als Computer. Frank George sieht in seinem Buch "Man the Machine"
den Menschen als Computer, der Informationen speichert und sie dann auf
intelligente Weise nutzt. So gerät er schließlich unmerklich
zum Schöpfer einer neuen, nichtbiologischen Spezies, einer "Maschinenspezies"
von hochentwickelten Computern, die zu Gefäßen der künstlichen
Intelligenz werden.
Folgerichtig ersetzt in der
medizinischen Fachliteratur der Terminus "computer-assisted medical
diagnosis" Schritt für Schritt den Begriff "human-assisted
computer diagnosis". Hochtechnisierung und Maschinenherrschaft, die in
George Lucas' Film "Krieg der Sterne" exemplarisch als Mythologie
der Moderne hervortreten, beginnen auch in den medizinischen Sprachgebrauch
einzudringen. Vor allem im Zusammenhang mit der Lasertechnik wird in den
Vereinigten Staaten bereits der Begriff "Star Wars Medicine" verwendet.
Computerunterstützte
Diagnosesysteme versuchen aufgrund von Symptomen und Tests anhand von Datenbanken
Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten einer bestimmten Krankheit
zu errechnen. Expertensysteme hingegen, als bekannteste Entwicklungen künstlicher
Intelligenz in der Medizin, benutzen das formalisierte Wissen klinischer
Experten als Entscheidungsgrundlage. Doch noch trotzt die Komplexität
menschlichen Krankseins der Transposition in eine rein digitale Form der
Beschreibung. Dennoch gibt es schon Stimmen, wie jene von James G. Mazoué,
die es als unethisch erachten, den "polyfunktionalen praktischen
Arzt" nicht durch eine computerisierte Form der Entscheidungsfindung zu
"verdrängen".
Während bei den Expertensystemen
immerhin noch eine Art Dialog zwischen Mensch (Arzt) und Computer möglich
ist, zeichnen sich Entwicklungen ab, die derartige Systeme als obsolet
erscheinen lassen. Mit der Visionik entsteht eine völlig neue technische
Disziplin der Wahrnehmung. Eine an einen Computer angeschlossene Videokamera
analysiert ihre Objekte nicht für einen außenstehenden Betrachter,
sondern für "die Maschine selbst". Sie wird zur Seh-Maschine, die
gleichsam blicklos sieht. Sie erzeugt weder Bilder noch Graphiken. Das
Resultat der Wahrnehmungen löst dann bestimmte Reaktionen der Maschine
aus. Auf die Medizin projiziert ergibt sich das Szenario eines mit der
Maschine verkoppelten Patienten, die selbständig auf ihre "Wahrnehmungen"
reagiert. Mit anderen Worten heißt das, dass der Computer selbst
behandelt - die Maschine als Heiler.
In diesen Wahrnehmungsvorgang
ist ein Betrachter konventioneller Art, wie der Arzt, nicht mehr einbezogen.
Der Arzt ist nunmehr nicht nur blind, weil ihm der Einblick in den Mensch-Maschinen-Komplex
verwehrt ist, sondern er wird zum Opfer einer Blindheit höherer Ordnung.
Er kommt im diagnostisch-therapeutischen Prozess nicht mehr vor. Er ist
zum unsichtbaren Blinden geworden, der sich vielleicht noch in nostalgischer
Anwandlung an die Zeiten der Arzt-Apparate-Patienten-Beziehung erinnert.
Natürlich drängt
sich die Frage auf, warum sich der kranke Mensch nicht nachdrücklicher
gegen diese zunehmende Degradierung zur defekten Maschine auflehnt. Möglicherweise
gibt die Viktimologie, die Lehre vom Opferverhalten, darauf eine Antwort.
Sie lehrt, dass Opfersein nicht selten ein aktiver Prozess ist.
Die vom Patienten gescholtene und gefürchtete Maschinenmedizin kann
in ihren gewaltigen Ausmaßen nur funktionieren, wenn sie an ein Maschinenverständnis
des Körpers gebunden ist, das von allen getragen wird. Manches
spricht dafür, dass die Reduktion von Krankheiten auf Organdefekte
zum einen und des ärztlichen Handelns auf eine Art Ingenieursfunktion
zum anderen dem subjektiven Erleben und den Erwartungen von Kranken und
Ärzten letztlich entgegenkommen. Die Reduktion von Krankheit auf einen
reparierbaren Defekt macht es eben leichter, ihre eigentliche Bedeutung,
ihren Charakter als Metapher, unaufgedeckt zu lassen. Das Faszinosum einer
technischen Medizin als kollektiver Verdrängungsprozess?
Der Eroberungszug der Maschine
vollzieht sich auch in der Medizin nur scheinbar spektakulär. In Wirklichkeit
laufen die entscheidenden Feldzüge unbemerkt ab. Frühe Warner
wie der viktorianische Satiriker Samuel Butler erkannten bereits: "Tag
für Tag gewinnen die Maschinen uns gegenüber an Boden. Tag für
Tag werden wir abhängiger von ihnen, täglich werden mehr Menschen
als Sklaven verpflichtet, sie zu bedienen [!] ... Der Erfolg ist einfach
eine Frage der Zeit ..." Und Paul Valéry prophezeite 1925, die Zivilisation
selbst werde nach und nach die Struktur und die Eigenschaft einer Maschine
annehmen, die sich am Ende mit nichts Geringerem abfindet als der Weltherrschaft.
Durch die von ihm geschaffenen
Maschinen überholt der Mensch sich quasi selbst. Ohne es zu bedenken,
konstruiert er seinen eigenen Nachfolger, programmiert sein eigenes Aus.
Bleibt vom Menschen, den Freud einen "Prothesen-Gott" genannt hat, am Ende
nur noch die Prothese ohne Gott? Nach uns die Maschine? Wo aber Gefahr
ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Die Maschine sei, so erkannte
schon Lewis Mumford, eben auch nur ein Mythos, ein sterblicher Gott, der,
allein von Gnaden des erkennenden menschlichen Geistes existiert. Dieser
Geist wird allerdings andere Erkenntnisfelder als bisher nutzen und neue
Paradigmen finden müssen, um sich dem "Mythos Maschine" erfolgreich
zu widersetzen - ein Unterfangen, das die Medizin aus sich heraus alleine
schwerlich wird leisten können.
Geisler, Linus S.: Nach uns die Maschine
- Das Menschenbild der modernen Medizin. |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.1993,
Nr. 178, S. N4 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9308faz_maschine.html |
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