Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: BLIND DURCH EINE FLUT VON BILDERN? FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 21.04.1993
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Blind durch eine Flut von Bildern?

Medizin und Ikonomanie - wie der Kranke zunehmend aus dem Blickfeld gerät / Von Linus S. Geisler

Die Bilderflut, der sich der Mensch von heute in einer "Guckguck-Welt", wie Neil Postman sie nennt, ausgeliefert sieht, macht begeiflicherweise auch vor einer Medizin nicht halt, die vor allem diagnostisch auf Hochtechnologie baut. Ihr technisches Repertoire ist beträchtlich: konventionelle Radiologie, Ultraschalldiagnostik, Endoskopie, Szintigraphie, Kernspintomografie bis hin zu Single-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPECT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Eine Computer-Recherche unter dem Suchwort "imaging" hat ergeben, daß in der medizinischen Weltliteratur alleine der letzen beiden Jahre 22 582 Publikationen enthalten sind, die sich mit bildgebenden Verfahren im engeren und weiteren Sinn beschäftigen. 

Da kann es nicht erstaunen, daß Patienten, von denen fünfzig oder hundert Röntgenbilder existieren, keine Seltenheit sind. Amerikanische Untersuchungen, wonach bei fast einem Drittel der Patienten Röntgenbilder ohne Verlust an diagnostischer Relevanz hätten unterbleiben können, sind ohne weiteres auf europäische Verhältnisse übertragbar. Die pränatale Diagnostik erzeugt bereits routinemäßig Bilder vom Menschen, noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Von manchem Achtzigjährigen werden in den letzten Lebenstagen mehr Bilder angefertigt, als in den gesamten acht Jahrzehnten zuvor. 

Niemand wird vernünftigerweise bestreiten, daß die Ultraschalldiagnostik als nichtbelastendes, nichtinvasives, jederzeit wiederholbares bildgebendes Verfahren in der Hand des Geübten zu den größten diagnostischen Fortschritten gehört. Und jeder würde die noch so kostspielige Computertomographie des Schädels der Tortur einer Luftenzephalographie vorziehen. Unbestreitbar ist natürlich auch, daß jede technologische Innovation schon den Keim ihrer überbordenden Anwendung in sich trägt; warum sollte dies für Medizintechnologie nicht gelten?

Aber bedeutet es nicht, die Augen vor möglicherweise tiefer liegenden Phänomenen zu verschließen, wenn man die Ikonomanie der Medizin nur als Spezialfall einer allgemeinen Sucht nach Bildererzeugung (täglich werden in den USA 41 Millionen Fotos aufgenommen) ansieht? Ist es nicht vielmehr sogar notwendig, weiterzufragen, gerade weil es sich um eine auch die Medizin erfassende Erscheinung weiter reichender Implikationen handelt. Geht es in der ärztlichen Diagnostik, wie der Medizinethiker Frank Praetorius fragt, um "Bilder machen oder Gedanken", das heißt um den Primat der Reproduktion gegenüber der Reflexion? Was bedeutet es überhaupt, als Arzt Bilder von Menschen zu machen? Heißt dies nicht auch immer, sich ein Bild vom Menschen zu machen? Man muß dabei an Max Frisch denken, der einmal sagte, es sei Ausdruck der Lieblosigkeit, einen Menschen auf bestimmte Erfahrungen, bestimmte Eigenschaften und bestimmte Charakterzüge zu reduzieren, denn Liebe und Sympathie folgten einem einzigen Imperativ, dem Bildverbot: "Du sollst dir kein Bildnis machen."

Der bildgebenden Diagnostik geht es darum, Bilder willkürlich herausgeblendeter Anteile des Menschen anzufertigen, ein Prozeß, der einer ganzheitlichen Erfassung seines Gegenstandes entgegengerichtet ist. Wie repräsentativ sind diese "Teilansichten", wieviel Wahrheit enthalten sie und wie weit darf die Reduktion gehen, damit solche Bilder überhaupt noch in einem lebendigen Zusammenhang mit ihrem "Spender" stehen? Die Rolle, die der "Bildermacher" selbst beim Prozeß des Bildermachens spielt, ist für sein Produkt weit mehr bestimmend, als das Objekt, das abzubilden er sich bemüht. Er ist untrennbar mit seinem Werk verschmolzen. Hier gilt der berühmte Aphorismus Marshall McLuhans "Das Medium ist die Botschaft". Es ist nicht nur sein Bild, sondern er ist das Bild. Für ihn gilt, was Oskar Wilde Basil Hallward im Bildnis des Dorian Gray sagen läßt: "... ein Porträt, mit Gefühl gemalt, ist immer ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells ...".

Bilder sind mächtig, sie dringen in den Menschen ein ("Ein-Bildung"), sie sind mehr als visuelle Information, denn sie können Gutes wie Böses bewirken. Alle selbständig entstandenen Schriftsysteme der Kulturvölker haben als Schriftzeichen ursprünglich Bilder verwendet: die chinesische Schrift, die Keilschrift, die altägyptische Schrift. Die unheimliche Macht des Bildes war schon im Altertum ein gefürchtetes Phänomen. Der Bildglaube wurde als widergöttliches Verhalten, besonders im alten Israel bekämpft. Der Islam sah im Verfertigen von Abbildern einen Eingriff in Allahs Schöpfertätigkeit. Die gleiche Vorstellung findet sich schon im Alten Testament (Genesis), in dem nur Gott das Recht zukommt, jemanden nach seinem eigenen Bild zu schaffen. Nach einer alten Erzählung aus der Gnosis verlor Adam, der Ur-Mensch, seine "himmlische Natur", dadurch, daß er sich in einem Spiegel betrachtete: er erblickte seine "andere Seite", er wurde "wissend".

Aber, so werden die Diagnostiker einwenden, wir erzeugen Bilder ausschließlich, um ein Stück der Wahrheit zu erfassen, die gestörte Morphologie oder Funktion zu erkennen. Dem muß entgegengehalten werden: Es gibt kein Bild ohne den Betrachter, wie es keinen Laut gibt, ohne ein hörendes Ohr. Also ist der Betrachter immer an der Konstruktion des Bildes beteiligt. Das von ihm erzeugte Bild ist sein Bild, das gilt ebenso für das "Vor-Urteil", mit dem er an die vermeintliche Reproduktion von "Wirklichkeit" herangeht, wie für das, was er aus dem Bild herausliest, für die Interpretation. Es geht ihm nicht anders als dem Künstler: Wenn dieser ein Bild malt, entstehen aus diesem Bild soviele Bilder, wie es Betrachter gibt und ohne Betrachter "gibt" es das Bild nicht. 

Wenn der Diagnostiker sein Bild betrachtet, wäre es nach allen Erkenntnissen der modernen Kognitionswissenschaft naiv zu glauben, er konstruiere via Netzhaut und Sehrinde in seinem Okzipitalhirn so etwas wie eine "naturgetreue" Abbildung der Realität. Vielmehr spricht alles dafür, daß in seinem Hirn nicht nur keine Rekonstruktion der Außenwelt, sondern immer ein Neuaufbau stattfindet. Um Bilder zu deuten, ist er auf Vorwissen angewiesen, das erinnert werden muß, mit anderen Worten auf Gedächtnis. 

Aber die alten Vorstellungen, daß Erinnerungen als "Engramme" in einer irgendwie gearteten materiellen "Spur", also in verläßlicher Form im Gehirn gespeichert sind, ist nicht mehr haltbar. Sicherinnern ist vielmehr ein "kreativer" Prozeß, abhängig von vorgefaßten Meinungen, schematischen Vorstellungen und Stimmungen, also keineswegs einem Abspielen einer Videokasette aus dem Archiv "Gedächtnis" gleichzusetzen. Bilder sehen heißt immer ergänzen, deuten, umdeuten, es ist ein individueller und subjektiver Akt und keine verläßliche "objektive" Leistung. Bilder sind vom Diagnostiker gezeichnete Landkarten, aber sind sie auch das Territotirum? 

Dieser subjektive Anteil der Bildauslegung hat, aus der diagnostischen Perspektive betrachtet, durchaus Vorzüge. Er macht den "klinischen Blick" des Erfahrenen aus, jene bis heute durch noch so aufwendige diagnostische Computersysteme nicht im entferntesten ersetzbare Treffsicherheit des guten Arztes. Dessen Stärke liegt in der intuitiv zu treffenden Gewichtung sogenannter "harter" und "weicher"Daten. Faszination und Wirkung gewinnt dieser Prozess aber unzweifelhaft durch die weichen Daten. Die Macht der Bilder ist überwältigend groß. Nahezu alle Organsysteme sind abzubilden und auszudeuten. Der Mensch ist kartographierbar bis ins letze Detail. Aber Abbilden heißt immer auch Reduktion, Aus-"Blenden", mit anderen Worten: blind werden für das anscheinend nicht zu diesem Bild Gehörige. Wirklichkeitsanteile werden herausgeschnitten bis zum weitgehenden Verlust des Krankheits-"Bildes", das immer zugleich auch Widerschein des Weltbildes ist: Am Ende reduziert sich der Herzkranke auf eine "85prozentige Stenose" eines Herzkranzgefäßes. 

Der Bilderarzt weiß, obwohl er ständig eine Bilderflut erzeugt, nichts über das Wesen von Bildern. Sein Bild-Verständnis ist das exakte Gegenteil einer semantischen und metaphorischen, einer holistischen Bildbetrachtung. Er geht auf in der letztlich virtuellen Realität, die seine Bilder von Menschen beinhalten.

Was bedeutet es für die Arzt-Patienten-Beziehung, wenn zwischen beide ein bildgebender Apparat geschaltet wird? In die Kommunikation zwischen zwei Menschen schiebt sich eine Abstraktion, die einen Aspekt der Wirklichkeit willkürlich herausgreift. Mit einem Netz von ihm vorgegebener Maschenweite will er Bausteine für das Konstrukt eines bestimmten Krankheits-"Bildes" zu finden. Der Bilderarzt ist sich dabei meistens auch nicht bewußt, daß er die psychische Wirklichkeit der Krankheit im Kranken miterzeugt. Seine Bilder erlauben es, dem, was Arzt oder Patient unter Krankheit verstehen, einen Namen zu geben. Dieser Name ist unabdingbar, denn "Eine Krankheit wird erst ganz unser, wenn man uns ihren Namen sagt ..." (E. M. Cioran in Die verfehlte Schöpfung). Für ihn sind seine Bilder identisch mit dem Bild von Krank und Gesund, das er sich gemacht hat. Er ist blind für die Erkenntnis, daß wer sich ein Bild macht, nicht sieht, daß er sich ein Bild vonetwas macht, und daß wir nur erkennen können, was wir schon erkannt haben.

Der Bilderarzt hat in der Betrachtung seiner Bilder jene Distanz verloren, die notwendig ist, um das Objekt seiner Abbildung in seiner Ganzheit zu sehen, geschweige denn zu "schauen". Schauen ist eine sich aus dem aus dem Sehen ableitende ganzheitliche Erfassung (bei den Mystikern hieß es: "Ich habe Gott geschaut"). Er lebt gesichert in der über-"schaubaren" Welt seiner Bilder, die er "versteht" und aus seinem Verständnis heraus interpretiert. Je mehr ihre Fülle zunimmt, um so mehr erfährt er in einem zirkularen Prozeß die Richtigkeit seiner Sichtweise. Als schützender Wall türmen sie sich zwischen ihm und dem Patienten. Ein Ende der Bilderflut ist also nicht zu erkennen.

Wer mehr und mehr aus dem Gesichtsfeld des Bilderarztes verschwindet, ist der Patient selbst. Bedenkt man die Ausbildung des Arztes, so ist es ihm kaum zu verdenken. Das Multiple-choice-Kreuzworträtsel seines Studiums war bestenfalls ein Puzzle, bei dessen Zusammensetzen Abstraktionen - Krankheitsbilder genannt - herauskommen, der kranke Mensch aber nicht sichtbar wird. Dabei erwartet dieser von seinem Arzt manchmal weniger, als jener vermutet. Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel fragte eine seiner krebskranken Patientinnen nach dem wichtigsten Ratschlag, den er jungen Doktoren geben könnte. Die Antwort der Patientin fiel anscheinend erstaunlich einfach aus: "Sagen Sie ihnen, daß sie an meine Türe klopfen, mich begrüßen und auf Wiedersehen sagen sollen und daß sie mir in die Augen sehen sollen, wenn sie mit mir reden ...!"


Geisler, Linus S.: Blind durch eine Flut von Bildern?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 92, 21.04.1993, S. N 4 (Natur und Wissenschaft)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9304faz_bilder.html

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