Start  <  Artikelübersicht  <  Interview Linus Geisler: "LEBEN MUSS TABU SEIN". DAS MAGAZIN  3/2001
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DAS MAGAZIN
Interview: Linus Geisler

Leben muss tabu sein

Ärzte sind dem Leben verpflichtet und sollten Embryonen weder verwerfen noch benutzen - auch nicht für Heilungsbemühungen.

Das Magazin: Warum sprechen Sie sich gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen aus? 

Geisler: Embryonale Stammzellen werden aus Embryonen gewonnen, die dadurch vernichtet werden. Ich lehne das ab, weil es eine Instrumentalisierung des Menschen ist. 

Das Magazin: Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass menschliches Leben in der Verschmelzung von Eizelle und Spermium seinen Ursprung hat. Uneinigkeit besteht aber bei der Frage, ab wann dieses Leben schutzwürdig sein sollte. Sie sagen: von Anfang an. Warum? 

Geisler: Vor allem drei Gründe sprechen dafür. Zum einen verläuft die Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis ins Alter kontinuierlich - es gibt keinen biologisch begründbaren Einschnitt. Ferner hat die befruchtete Eizelle das volle Potenzial zur Entwicklung einer Person. Und das Genom der befruchteten Eizelle ist weitestgehend identisch mit dem eines 80-jährigen Menschen. Diese Argumente - Kontinuität, Potenzialität und Identität - bilden in der Summe starke Argumente dafür, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Eizelle und Samen beginnt und ihm von diesem Zeitpunkt ab der volle Schutz der Menschenwürde zukommt.

Das Magazin: Dem steht die Position entgegen, dass die Schutzwürdigkeit nicht von Anfang an gegeben sein muss, sondern im Laufe der Entwicklung zunehmen sollte. Ein bedeutender Einschnitt wird am 14. Tag gesehen: bei der Einnistung in die Gebärmutter (Nidation), weil sich nur dadurch das Potenzial zur Menschwerdung entfalten könne. Was spricht dagegen? 

Geisler: Man kann dem ein theoretisches Argument entgegensetzen. Man kann Säugetiere schon in einem künstlichen Uterus heranwachsen lassen, und das kann ich mir ebenso bei menschlichen Embryonen vorstellen, auch wenn ich das absolut nicht für wünschenswert halte. In einem solchen Falle wäre die Einnistung in die mütterliche Gebärmutter nicht die Bedingung für die Menschwerdung. Gewichtiger erscheint mir das Argument, dass ein wenige Stunden oder Tage alter Embryo besonders schutzwürdig ist, weil er außerhalb des mütterlichen Körpers noch völlig schutzlos ist. Das eigentliche Problem bei der abgestuften Schutzwürdigkeit ist aber, dass jeder diskutierte Zeitpunkt willkürlich festgelegt ist. 

Das Magazin: Wenn Sie für den Schutz des Embryos auch schon vor der Einnistung in die Gebärmutter plädieren, lehnen Sie damit die Spirale als nidationshemmendes Verhütungsmittel ab?

Geisler: Neueren Anschauungen zufolge wirkt die Spirale nicht nidationshemmend, sondern sie lässt wahrscheinlich über eine chronische Entzündung der Uterusschleimhaut den Befruchtungsvorgang erst gar nicht zustande kommen. Möglicherweise passiert aber beides. Die entscheidende Frage ist aber, ob der Einsatz nidationshemmender Verhütungsmittel eine Legitimierung für den Verbrauch von Embryonen darstellt. Ich sehe das nicht so. 

Das Magazin: Warum darf im einen Fall - bei der Verwendung der Spirale - die Einnistung eines Embryos verhindert werden, während im anderen Fall - bei der Stammzellforschung - der Embryo als absolut schützenswert gilt? 

Geisler: Weil die Konstellationen unterschiedlich sind. Auf der einen Seite handelt es sich um eine Frau, die nicht schwanger werden möchte, und auf der anderen Seite steht ein Forscher, der den Embryo tötet, um ihn für seine Zwecke zu nutzen. Auch wenn die "Spirale" eingesetzt wird - wofür ich nicht bin - und eventuell nidationshemmend wirkt, kann dies keine Legitimation für die Forschung sein, Embryonen für experimentelle Zwecke herzustellen und zu töten. 

Das Magazin: Heißt das, dass Sie die Nutzung von Embryonen für die Forschung zwar ablehnen, sich aber nicht unbedingt gegen Abtreibungen aussprechen? Dass Sie also nicht für einen absoluten Schutz des Embryos plädieren? 

Geisler: Ich halte den Schwangerschaftsabbruch in den vom Gesetzgeber genannten Fällen für zulässig. Dennoch gilt, was auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat: "wo menschliches Lebens beginnt, kommt ihm Menschenwürde zu". Bei einer Schwangerschaft muss zwischen dem Wohl, möglicherweise der Gesundheit oder sogar dem Leben der Frau und dem Leben des Embryos in einer einzigartigen Situation von biologischer Verbundenheit abgewogen werden. Bei der Stammzellforschung geht es dagegen um das Leben des Embryos und um einen noch nicht existierenden, sondern nur möglichen, in der Ferne stehenden Heilungserfolg. Hier geht es um eine Abwägung zwischen Forschungsfreiheit und Lebensschutz, und da ist der Lebensschutz höher anzusetzen als die Forschungsfreiheit. 

Das Magazin: Dürfte ein abgetriebener Embryo, also ein Embryo, für den es keine Lebensmöglichkeit gibt, für die Forschung benutzt werden?

Geisler: Er dürfte nur dann für die Forschung benutzt werden, wenn die Abtreibung nicht zum Zweck der Forschung erfolgt; wenn die, die abtreiben, und die, die forschen, verschiedene Personen sind; und wenn die Mutter einverstanden ist. 

Das Magazin: Das bedeutet dann wohl in der Praxis, dass Stammzellforscher überwiegend nur auf Embryonen zurückgreifen könnten, die durch künstliche Befruchtungen entstanden sind. Sprechen Sie sich damit gegen künstliche Befruchtungen aus?

Geisler: Nein. Wenn ein Paar unfruchtbar ist und ein vernünftiger Kinderwunsch besteht - also kein pathologischer, der zum einzigen Lebensziel wird -, sollte es die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung geben. Aber nur so, wie das in Deutschland zurzeit nach dem Embryonenschutzgesetz erlaubt ist: Maximal drei befruchtete Eizellen werden ohne Präimplantationsdiagnostik, das heißt ohne dass sie im Reagenzglas auf schwere Erbkrankheiten untersucht werden, eingepflanzt.

Das Magazin: Lehnen Sie die Präimplantationsdiagnostik und damit auch Pläne ab, sie in Deutschland zuzulassen? 

Geisler: Ja. Präimplantationsdiagnostik ist pervers: Ärzte erzeugen in der Retorte Embryonen mit der Absicht, zumindest einige von ihnen zu verwerfen. Wenn Präimplantationsdiagnostik nicht erlaubt ist, kann es auch keine oder nur sehr wenige "überzählige" Embryonen geben, also Embryonen, die nach einer künstlichen Befruchtung nicht mehr in den Uterus der Frau, von der die Eizellen stammen, eingepflanzt werden können. In den USA und anderen Ländern kann man zehn Eizellen befruchten, sie dann im Reagenzglas auf Erbkrankheiten untersuchen und die "besten" einpflanzen. Die restlichen sind "überzählig". In Frankreich sind es zum Beispiel ca. 60.000. 

Das Magazin: Wie ist es in Deutschland? 

Geisler: Anfang 2001 existierten in Deutschland nur 15 Embryonen "ohne Lebensaussicht" - nach allerdings nur eingeschränkt verwertbaren Angaben aus zehn Bundesländern. Wirklich "überzählig" ist ein Embryo nur, wenn die Mutter schwer krank wird oder stirbt oder sie beziehungsweise das Paar sich anders entscheidet. Ansonsten werden alle Embryonen auch eingepflanzt. 

Das Magazin: Weil "überzählige" Embryonen keine Lebenschancen haben, plädieren Naturwissenschaftler dafür, sie für die Forschung zu nutzen. Stimmen Sie dem zu? 

Geisler: Nein. Denn es gibt neben den beiden Alternativen, den Embryo zu verwerfen oder ihn für Forschungszwecke zu verwenden, noch eine weitere Möglichkeit: die Embryonenadoption. Sie ist durch das Embryonenschutzgesetz nicht verboten. Verboten ist nur, einen Embryo mit dem Ziel herzustellen, ihn einer anderen Frau als derjenigen einzupflanzen, der die Eizelle entnommen wurde. Ich propagiere Embryonenadoption nicht. Ich sehe sie aber als mögliche Notlösung an. Ich möchte deutlich machen, dass es neben den beiden Alternativen Verwerfen oder Freigabe für die Forschung noch eine dritte Möglichkeit gibt. 

Das Magazin: Präimplantationsdiagnostik wird von Paaren in Anspruch genommen, die befürchten, ein schwer behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Ist der Wunsch nach einem gesunden Kind nicht legitim? 

Geisler: Doch natürlich, aber er ist kein einklagbares Recht. Bei der Präimplantationsdiagnostik gibt es eine Reihe schwerwiegender Probleme. Zum einen das Problem, das ich schon erwähnt habe: dass man Embryonen herstellt mit dem Ziel, einige von ihnen zu töten. Dann stellt sich das Problem der gesellschaftlichen Betrachtung von Behindertsein. Was ist eine Behinderung, die die Tötung eines Embryos rechtfertigt? Beginnt eine solche Behinderung zum Beispiel schon mit einer Lippen-Gaumen-Kiefer-Spalte? Auch ist das Ziel, das mit der Präimplantationsdiagnostik angestrebt wird, nämlich Behinderung zu vermeiden, nicht zu erreichen: Sie garantiert kein gesundes Kind, weil nur nach einem bestimmten genetischen Fehler gesucht, die eine Zelle aber nicht auf alle schweren Erbkrankheiten untersucht werden kann.

Man muss auch beachten, dass Präimplantationsdiagnostik noch eine experimentelle Methode ist, für die es keine Kontrollmöglichkeiten gibt. Das heißt, es könnten auch Embryonen verworfen werden, die nicht die Anlage für eine schwere Behinderung haben. Und man kann nur einen geringen Teil möglicher Behinderungen verhindern: Nur etwa drei Prozent aller Behinderungen sind angeboren - 97 Prozent entstehen im Lauf des Lebens, unter anderem durch Unfälle, Krankheiten und Gefährdungen am Arbeitsplatz. Lediglich 0,1 bis 0,5 Prozent aller Behinderungen sind durch Chromosomendefekte bedingt, davon wiederum ist nur ein Bruchteil diagnostizierbar. 

Das Magazin: Pränataldiagnostik ist aber auch in Deutschland erlaubt: Wenn bei einem Embryo, der im Körper der Mutter heranwächst, eine schwere Behinderung festgestellt wird, kann der Embryo abgetrieben werden. Lehnen Sie das auch ab?

Geisler: Nein, auch wenn eine Abtreibung der schlimmste Fall ist. Aber hier geht es um einen Konflikt zwischen Mutter und Kind, und der Embryo wurde nicht gezeugt, um möglicherweise verworfen zu werden. Pränataldiagnostik sollte also auch weiterhin zugelassen, aber in einem wesentlich geringeren Umfang praktiziert werden. Ich sehe aber Handlungsbedarf bei der Qualität der Beratung. Je nach Art der Beratung kann die Abtreibungsquote zwischen 0 und 75 Prozent liegen, und zwar bei der gleichen genetischen Schädigung. Die Entscheidung der Mutter beziehungsweise der Eltern wird also offensichtlich durch die Beratung wesentlich beeinflusst. 

Das Magazin: Wie sollte sie sein? 

Geisler: Sie sollte versuchen, alle Facetten einer Entscheidung möglichst neutral zu spiegeln. Nur von dem Ziel zu sprechen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, kann keine umfassende Beratung sein. Und es sollten immer zumindest zwei Beratungen stattfinden: vor und nach dem genetischen Test. 

Das Magazin: Wer legt fest, bei welchen Behinderungen die Verwerfung eines Embryos zugelassen ist? 

Geisler: In den Diskussionsentwürfen, zum Beispiel der Bundesärztekammer, gibt es keinen Katalog von Behinderungen, man spricht nur allgemein von schweren genetischen Schäden. Die Entscheidung wird der Mutter beziehungsweise dem Paar aufgetragen. 

Das Magazin: Warum?

Geisler: Es soll vermieden werden, dass Menschen mit schweren Behinderungen, die in einem Katalog aufgeführt wären, das Gefühl bekommen könnten, unerwünscht zu sein. 

Das Magazin: Soll ein Paar, bei dessen Kindern schwere genetische Schäden zu befürchten sind, sich auf eine Schwangerschaft einlassen, um dann möglicherweise abzutreiben? Wäre dieser enormen Belastung der Frau nicht die Präimplantationsdiagnostik vorzuziehen? 

Geisler: Nein. Es gibt auch andere Alternativen. Zunächst stellt sich die Frage, ob ein Paar um jeden Preis ein genetisch eigenes Kind bekommen muss. Es gibt schließlich auch die Möglichkeit der Pflegschaft und der Adoption. Und es gibt die Möglichkeit des bewussten Verzichts auf Kinder. An den Universitäten Jena und Freiburg hat es Untersuchungen bei Paaren mit Kindern und ohne Kinder gegeben. Das Ergebnis war, dass sich seelische Gesundheit, psychische Erkrankungen und Lebensqualität bei beiden Lebensformen nicht grundsätzlich unterschieden. Zudem ist auch die Präimplantationsdiagnostik keineswegs belastungsfrei. Bevor mehrere Eier der Frau durch einen invasiven Eingriff entnommen werden, erfolgt eine starke hormonelle Stimulierung. Das ist eine belastende Methode, die krank machen kann und in einigen Fällen auch zum Tod junger Frauen geführt hat.

Das Magazin: Der Wunsch, der hinter Präimplantations- und Pränataldiagnostik sowie der Stammzellforschung steht, ist der Wunsch nach einem von Anfang an und möglichst lange gesundem Leben. Ist dieser Wunsch zu erfüllen? 

Geisler: Nein. Präimplantations- und Pränataldiagnostik werden, selbst wenn man das wollte, Behinderungen nicht verhindern. Und auch die Stammzellforschung kann keine bedeutende Verlängerung des Lebens garantieren. Selbst wenn man zum Beispiel - was allerdings illusorisch ist - alle Krebsarten beseitigen könnte, würde die Lebenserwartung durchschnittlich nur zweieinhalb Jahre mehr betragen. In Richtung auf ein langes oder sogar "ewiges" Leben würde das so gut wie nichts bedeuten. Es wird immer eine Todesursache Nummer Eins geben, es wird nur immer eine andere sein.

Anfang des vorigen Jahrhunderts zum Beispiel waren Infektionskrankheiten der große Killer, damals spielten Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten kaum eine Rolle. Heute sind es die Herz-Kreislauf-Krankheiten und die malignen Tumoren. Die Panoramen wechseln, aber die Summe der menschlichen Leiden, die aus Krankheiten stammen, ist weitgehend konstant. Wenn man in Altenheimen sieht, wie krank alte Menschen sein können, muss man sogar fragen, ob die verlängerte Lebenserwartung die Summe nicht noch größer macht. Das ist kein Argument gegen Heilungsbestrebungen, aber man sollte auf diesem Auge nicht blind sein.
 

Interview: Sabine Schmidt
 

Links:
DAS MAGAZIN: http://www.wz.nrw.de/magazin/magazine.asp - Externer Externer Link


Geisler, Linus: "Leben muss tabu sein". DAS MAGAZIN, 12. Jahrgang, Ausgabe 3/2001, S. 12-14 (Interview)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0112magazin.html

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