Wie wird sie aussehen,
die scheinbar so perfekte Medizin der Zukunft mit all ihren Errungenschaften?
Linus Geisler formuliert ein untergründiges Unbehagen an ihrer Widersprüchlichkeit
und Menschenferne.
Ein neuer Mensch
Die Medizin an der Schwelle
zum dritten Jahrtausend
Linus Geisler In
Samuel Becketts Endspiel antwortet der Diener Clov auf die angstvolle Frage
seines Herren Hamm, was denn eigentlich passiere, mit den kryptischen Worten:
"Irgendetwas geht seinen Gang." Dieses Irgendetwas sitzt uns im Nacken.
Wir möchten ihm gern einen Namen geben: Selbst "Apokalypse" wäre
erträglicher, als diese Vorahnung in der Silvesternacht, dass uns
100 Jahre Einsamkeit bevorstehen, 100 als symbolische Zahl gemeint.
Der Beginn eines neuen Jahrtausends
lenkt unseren Blick magisch in die Zukunft. Aber bekanntlich gleicht das
Stellen von Zukunftsprognosen einem Kamikaze-Unterfangen. Vorhersagen für
kurze Zeiträume sind nicht ausgenommen. Wer weiß, ob am Ende
des "langen Booms", den der Zukunftsforscher Peter Schwartz beschreibt,
im Jahre 2018 tatsächlich das Zeitalter der Nanotechnologie ausgebrochen
sein wird: Mikromaschinen im Körperinneren führen in Femtosekunden
(100 Billionstel Sekunden) Zellreparaturen aus.
Ganz zu schweigen von längerfristigen
Prognosen: Die Vision der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner
im Jahr 1899 von der Abschaffung des Krieges "als legale Institution" bis
zum Ende des 20. Jahrhunderts zählt zu dieser Kategorie. Selbst das
bescheidenere Entwerfen von "Szenarien" ist kaum mehr als russisches Roulette
mit vermeintlich harten Daten.
Die Vorsichtigeren erkennen
wenigstens, dass es immer gefährlicher wird, sich ständig neue,
noch fortschrittlichere Zukünfte zusammenzufantasieren. Denn die Zukünfte
schlagen zurück in die Gegenwart. Sie verbauen die Kontingenz als
Fundament der Freiheit. Sie engen die Handlungsspielräume und die
Kreativität ein. Ihre Gloriosität in der Ferne ist unsere Depression
heute. Selbst das Zuckerbrot des Megafortschritts, das die "rocket scientists",
die Extremwissenschaftler, den Menschen penetrant vor die Nase halten,
hat einen bitteren Beigeschmack und löst neue Ängste aus: Werden
wir so schnell leben können, wie es uns die Beschleunigung des Fortschritts
diktiert?
Oder werden wir in die Kategorie
der "Entschleuniger" gerechnet werden, zu den "Todtnauberg-Menschen" Heideggerschen
Angedenkens. Da trösten uns die Appelle der wenigen Rufer in der Wüste
nach Verlangsamung des Fortschritts oder entschleunigtem Fortschritt allenfalls
oberflächlich. Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen wagen. Das
Millenium der christlichen Eschatologie bot wenigstens noch die Aussicht
auf ein Jahrtausend, das die Ankettung des Teufels verhieß.
[IMAGE] |
Der neue Mensch? Ein seiner
Individualität beraubtes Geschöpf der Molekularbiologie? Eine
genetische Waise, ein Wesen ohne Vergangenheit mit einer Zukunft aus fremder
Hand? |
(Antonio Pisacreta/Ropi) |
Dennoch, das Wagnis, dem Beckett'schen
"Irgendetwas" Kontur zu geben, legitimiert sich als Versuch des kommunikativen
Umgangs mit der Angst, "weil wir darüber, wofür wir Worte haben,
auch schon hinaus sind" (Nietzsche). Es geht also um Artikulierung von
Angst, in der nicht nur der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski
die Garantie unserer Existenz sieht. Es geht um die Frage nach der Ursache
des besonderen Schmerzes, den der Abschied vom 20. Jahrhundert auslöst
und der möglicherweise zu tun hat mit dem Verlust der Unschuld.
Warum trotz der faustischen
Pakte der Wissenschaften die Erlösung ausbleibt und das mephistophelische
Prinzip der Umkehrung des Bösen zum Guten außer Kraft geraten
zu sein scheint. Warum die Grenzen zwischen dem Gewaltigen und dem Gewalttätigen
nicht mehr auszumachen sind. Warum der Mensch nach dem Sturz aus der Mitte
der Welt immer mehr zur Randfigur des eigenen Systems gerät. Immer
stärker beginnt er "... seine totale Verlassenheit und seine radikale
Fremdheit" in dieser Welt zu erkennen, so Jacques Monod, der 1965 den Nobelpreis
für Medizin erhielt. Er hat "... seinen Platz wie ein Zigeuner am
Rande des Universums ..., das für seine Musik taub ist und gleichgültig
gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen ... Nicht nur sein Los,
auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben." Kurzum, nach dem Verlust
des Gottvertrauens scheint die letzte diesseitige Bastion, das Weltvertrauen,
abhanden gekommen zu sein.
In seinen Betrachtungen über
die wunderliche Natur des ärztlichen Berufes fragt der Medizinhistoriker
Hermann Kerschensteiner, "was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft,
Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft das Wesentliche"
sei. Diese altmodischen Facetten des Arztberufes werden überwuchert
durch die Dominanz der Fremdbestimmung. Medizin als reglementierte Profession
und Dienstleistung. Der Arzt als schwächstes Glied in der Kette der
"Leistungserbringer", ausgesetzt dem wachsenden Druck der Politik, der
Sozialpartner, der Patientenforderungen, der Medien, der zunehmenden Verrechtlichung,
den erpresserischen Sirenenstimmen der Pharmaindustrie. Im Jobdenken verschwinden
die Reste von Berufung.
Individualismus ist unerwünscht,
Persönlichkeit suspekt, die Austauschbarkeit greift um sich. Auch
die Gier: Abrechnungsmanipulation und Wissenschaftsbetrug als Symptome
eines korrumpierten Berufsethos. Evidence based Medicine (EBM) und Managed
Care diktieren die Handlungsspielräume. Computerisierte Expertensysteme
berechnen Prognosen und entwerfen (noch) unverbindliche Handlungsoptionen.
Der Sieg der harten über die weichen Daten, das Ende des klinischen
Blicks ist angesagt. Gott sitzt, wenn überhaupt irgendwo, im Rechner.
Die "Tante-Emma-Praxis",
in der Arzt und Patient über ihre Lebensgeschichten gegenseitig im
Bilde waren, ist tot. Organkliniken und vernetzte Ambulatorien breiten
sich aus, in denen auf ein Einzelsymptom reduzierte Kranke sich Ärzten
zuhauf gegenübersehen, von denen keiner ihr Arzt ist. Samariter und
Räuber zu unterscheiden fällt immer schwerer. Nach alter tibetischer
Lehrmeinung gleicht ein Arzt, der keine medizinischen Instrumente besitzt,
einem Ritter ohne Rüstung und Waffen. Der Patient von heute prallt
auf monströse Rüstungen und ein hoch technisiertes Waffenarsenal,
wo aber ist der Ritter? Nach der endlos scheinenden Geburt eines Transplantationsgesetzes,
das der Organbeschaffung die Pforten weit öffnet, trickreich den Hirntod
lediglich als Voraussetzung der Organentnahme verharmlost und seine Gleichsetzung
mit dem Tod des Menschen verschleiert, nach euphemistischen Werbekampagnen
(Organwechsel nach dem Garbage-in-garbage-out-Prinzip) dümpelt die
Organtransplantation auf dem seit Jahren gleichen Level vor sich hin. Eine
Abstimmung mit den Füßen? Es ist Organspende, und so gut wie
keiner geht hin? Verhieß da nicht die Unesco, jeder zweite Eingriff
nach dem Jahre 2000 werde eine Verpflanzung von Organen oder Geweben sein?
Am offerierten Menü kann es kaum liegen: Eierstöcke, Hoden, Hirngewebe
- alles im Angebot und technisch unproblematisch.
Auch die Kopfverpflanzung
von Krebskranken im Finalstadium auf den gesunden Rumpf eines Hirntoten,
so der amerikanische Chirurg Robert White von der Case-Western-Reserve-Universität,
gläubiger Katholik und Vater von zehn Kindern, werde im ersten Jahr
des neuen Jahrhunderts möglich sein. Verpflanzte Affenköpfe hätten
in seiner Gegenwart immerhin schon die Augen gerollt und die Zähne
gefletscht. Selbst am makabren Gegenexperiment wird gearbeitet: die Züchtung
kopfloser Wesen durch den englischen Wissenschaftler Jonathan Slack.
Verhieß nicht die
Unesco, jeder zweite Eingriff nach dem Jahre 2000 werde eine Verpflanzung
von Organen oder Geweben sein? Am offerierten Menü kann es kaum liegen:
Eierstöcke, Hoden, Hirngewebe — alles im Angebot und technisch unproblematisch. |
Sollte es möglicherweise
ein übergeordnetes "Abstoßungsphänomen" geben? Aber der
systemeigene Expansionsdruck ist nicht aufzuhalten. Er bedient sich rigoros
aller Mittel. Lebendspende ist angesagt. Die Altlast des nil-nocere ist
entsorgt. Renommierte Strafrechtler hegen keine Bedenken gegen operative
Eingriffe an Gesunden trotz des Sterblichkeitsrisikos von etwa einem Promille
(Nieren-Leber-Spende). Die gesellschaftlichen Implikationen werden ausgeblendet.
In den USA stammen bereits rund 25 Prozent der verpflanzten Nieren von
Gesunden, aber der Chirurg Robert Montgomery spricht von "ungenügend
genutzten Ressourcen". Was wird, wenn eines Tages 80 Prozent der Mütter
dialysepflichtiger Kinder eine Niere geopfert haben, mit den widerspenstigen
restlichen 20 Prozent? Die Vision von der Lebendspende als unerschöpflichem
Reservoir, das im Umfeld jedes terminal Nierenkranken einen potentiell
gesunden Spender erkennt, steht bereits im Raum. Die Gesellschaft von morgen
ein fröhliches Kollektiv von Lebendspendern?
Andere unerschöpfliche
Reservoire tun sich auf: Die Jagd nach embryonalen menschlichen Stammzellen
ist eröffnet. In diesem "Schatzhaus der Möglichkeiten" schlummert
das Potential, "maßgeschneiderte" Gewebe und Organe zu züchten.
Noch verhindert das Embryonenschutzgesetz den Zugriff auf "frühe menschliche
Lebewesen", die für andere allerdings lediglich "Zellhaufen" sind.
Doch der Konsequenzialismus lässt nicht locker: Wenn Kranke durch
embryonale Stammzellen geheilt werden können, "dann werde in Deutschland
eine Mehrheit dafür sorgen, dass das Embryonenschutzgesetz geändert
wird", so die Forderung von Reproduktionsmedizinern. Aber vielleicht macht
die Xenotransplantation das Rennen. Favorit ist das Schwein, denn Affen
sind zu teuer und emotional "zu hoch besetzt". Wenn Tarnkappenmoleküle
das Abstoßungsproblem ausgetrickst haben, die Einschleusung von Schweineviren
ins menschliche Erbgut blockiert ist und die Farmen mit transgenen Schweinen
florieren, könnte der Boom ausbrechen: 10 000 Herztransplantationen
statt magerer 500 im Jahr. Freilich, die Funktionsdauer ist ungewiss. Was,
wenn sie nur zehn Monate statt zehn Jahre betragen sollte? Dann werden
die Wartelisten nicht abgebaut, sondern länger. Ganz zu schweigen
vom Kostenfaktor (etwa 2,5 Milliarden Mark pro Jahr).
Ins Netz gegangen?
Das Internet, ein anarchistisches
System ohne Firmensitz, Aufsichtsrat oder Vorstand, ohne den Status einer
juristischen Person, ohne wirksame Kontrolle. Nahezu alles lässt sich
hier finden und loswerden.
Für die Medizin ein
weites Feld, dessen Auswirkungen noch kaum zu erahnen sind. Blitzschneller
Zugriff auf Datenbanken, virtuelle Bibliotheken, Internetkonferenzen, Operations-
und Sektionskurse am digitalen Menschen als neue Aus- und Fortbildungsmedien.
In "Health Online Services" beantworten Spezialisten (Qualifikation ungeprüft)
Ärzten und Apothekern ausgefallene Fragen. Die Teilnehmer von Selbsthilfegruppen
aus guten alten Tagen tauschen zunehmend ihre Erfahrungen in Chatrooms
aus.
In den USA stehen über
15 000 medizinische Webseiten zur Verfügung. Der graue Arzneimittelmarkt
im Internet, vor allem für Lifestyle-Medikamente wie Viagra, floriert.
Hinweise auf Kontraindikationen oder Nebenwirkungen sind noch lange nicht
die Regel.
Der Hausarzt, dessen Wissensstand
vor fünf oder zehn Jahren eingefroren wurde, sieht sich, vor allem
in den USA, immer häufiger mit Patienten konfrontiert, die ihm Stapel
frischer Computerausdrucke unter die Nase halten. Online-Beratung, -Behandlung
und Selbstbehandlung laufen der klassischen Arzt-Konsultation den Rang
ab. Angehörige chronisch Kranker laden sich enzyklopädische Kenntnisse
aus dem Netz herunter, übernehmen selbst die Behandlung und begeben
sich auf Vortragsreisen für andere Leidensgenossen.
Neurosen und Abartigkeiten
lassen sich ungehemmt "outen". Seelische Verstörungen werden nicht
auf der Couch analysiert, sondern per E-Mail angegangen. Das Internet fördert
die soziale Integration des einen und überfordert den anderen. Das
gefährdete Ich droht in unterschiedliche Bilder zu zerfallen wie eine
multiple Persönlichkeit. Die Cyberwelt verführt zum Identity-Switch,
zum Fluktuieren zwischen Rollen und Selbstbildern. Sie etabliert rasch
Beziehungen und löst sie ebenso rasch und ohne Skrupel auf, die altmodische
"Arzt-Patienten-Beziehung" nicht ausgenommen. Ein neuer Anschlag auf das
Ich, ein anderer Ort der Einsamkeit?
Freuen wir uns auf den neuen
Menschen der Molekularbiologie. Altmodische Empfindsamkeiten sind aus seinem
Erbgut eliminiert. Dass er zum Endloskopierer eines manipulierten Genoms
geworden ist, bewirkt keine Kränkung. Die Qualen der Ich-Jagd, die
zugleich spiegelverkehrte Suche nach Gott im Inneren ist (Peter Gross),
diesen uralten, in den neuen Katalog genetischer Defekte aufgenommenen
Trieb, hat man ihm gründlich ausgetrieben. Die radikale Ausrottung
der Wurzeln, mit denen der Mensch seine Defekte Generation für Generation
aufgesogen hat, ist angesagt, das Abwerfen des Erbgutes als Erbsünde.
Anvisiert ist die geschichtslose Kreatur, eine genetische Waise, ein Wesen
ohne Vergangenheit, nur noch mit einer Zukunft aus fremder Hand. Ichlosigkeit
als Ideal einer neuen Befindlichkeit.
Ist der Mensch der Zukunft
unfähig, Steuern zu hinterziehen, die Ehe zu brechen oder im Krieg
kleinen Kindern die Augen auszustechen? Wo steckt das ganz und gar andere? |
Die Computerspezialisten runden
das Szenario ab. Spätestens im Jahr 2030, so Ray Kurzweil, Professor
am Massachusetts Institute of Technology und Autor von "The Age of Spiritual
Machines" ("Homo sapiens. Leben im 21. Jahrhundert"), werden Computer die
menschliche Intelligenz überrundet haben. Nanotechnologisch minimalisierte
Computer, so genannte Nanobots, werden über den Kreislauf ins Gehirn
geschleust, das sie exakt kopieren, kognitive Fähigkeiten ebenso wie
Emotionalität. Wir überleben für alle Zeiten als herunterladbare
Software, als "mind-file", und sterben nicht mehr am Zusammenbrechen der
vergänglichen Hardware Gehirn. Aber das Unbehagen bleibt. Der neue
Mensch, so lautstark er verkündet wird, so merkwürdig blass,
ja unbelebt wirkt er. "Stark, gesund und schön" rufen als abgenutzte
plakative Phrasen keine lebendigen Figuren auf den Plan. Der neue Mensch
ist kein Wesen zum Anfassen. Was macht ihn aus im Detail? Ewiges Gedächtnis
und ewige Potenz? Kalkfreie Arterien und unzerbrechliche Knochen? Immunität
gegen Aids, Krebs und noch alle künftigen Infektionskrankheiten und
Tumoren? Das Arsenal der Organe stets komplett und auf dem neuesten Stand,
der Körper permanent runderneuert. Sieht er mehr, der neue Mensch,
etwa wenn er Alpengipfel betrachtet oder Michelangelos David? Schmeckt
ihm der Kaviar noch kaviariger und der Hummer noch hummeriger? Und wenn
er schon seit achtzig Jahren nicht mehr gearbeitet hat, findet sich dann
immer noch ein neues Schlag-die-Zeit-tot-Spielchen? Hält er das aus:
hundert Jahre lang jeden Morgen im Spiegel den gleichen, knackigen, alterslosen
Körper zu sehen? Kann man ihm uralte Geschichten verständlich
machen, in denen Menschen wie der Stammesvater Abraham "hochbetagt und
lebenssatt" ihre Endlichkeit annahmen?
Rotstift-Kreaturen
Ein Entwurf ist nicht erkennbar.
Der neue Mensch, nicht mehr als eine kostspielige Mogelpackung mit unbekanntem
Inhalt? Ist diese neue Wissenschaft vielleicht nur eine wiederaufgewärmte
"fröhliche Wissenschaft", mit dem alten Versprechen: "... und der
Mensch wird von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen
Gott ausfließt ..." (Nietzsche)? Aber vielleicht ist dieser unsterbliche
Mensch nichts anderes als die Projektion der Endlichkeits-Angst seiner
Schöpfer.
Gesundheit als herausragendes
Ziel der Industriegesellschaft definiert sich als "Konditionalgut". Aber
die Leistungsexplosion der Medizin bewirkt eine ungehemmte Kostenexplosion.
Die Fortschrittsfalle schnappt zu. Im Jahr 2020 werden die Ausgaben für
Renten-, Sozial- und Krankenversicherung auf über 50 Prozent des Einkommens
steigen, wobei auf Gesundheitsleistungen fast 20 Prozent entfallen. Gesundheit
für alle zu jedem Preis? Zwang zur Gesundheit? Die Grenzen der Belastbarkeit
des Sozial- und Gesundheitssystems rücken greifbar nahe. Die Suche
nach den Hauptschuldigen zeichnet sich ab, den chronisch Kranken, den schwer
Pflegebedürftigen, den Alten in den überproportional teuren letzten
zwei Lebensjahren. Jenes Kollektiv, das dank der modernen Medizin ständig
wächst. Das große Rechnen beginnt, die Planspiele hinter verschlossenen
Türen.
Ein interdisziplinärer
Albtraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker, Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten,
Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker eine Patchwork-Kreatur namens
Mensch zusammenfantasieren.
Ein Zauberwort macht die
Runde: Verkürzung der Lebenserwartung. Zum Beispiel durch medizinische
Basisversorgung auf "niedrigem Niveau" ab dem Rentenalter. Durch radikale
"Qualitätskontrollen" für teure medizinische Leistungen, durch
rigorose Rationierung. Qualität heißt dann Kostenersparnis und
Systementlastung. Eine neue Niere nur noch, wenn sie billiger ist als chronische
Dialyse? Recht auf Erfüllung eines Kinderwunsches um jeden Preis?
Die Schlagkraft der Lobbys ist herausgefordert. Hinter vorgehaltener Hand
wird über "sozialtechnische" Lösungen nachgedacht, auch über
"gelenkte Sterblichkeit". Die Diskussion über Sterbehilfe könnte
bald eine ganz andere Qualität erreichen, nicht nur in den Niederlanden,
so der Theologe Ulrich Eibach.
Die Sloterdijk'sche Erkenntnis,
dass in wachsendem Maße "... der Mensch für den Menschen die
höhere Gewalt darstellt", beginnt sich zu bewahrheiten, freilich weniger
durch die Macht der Anthropotechniken als durch den Würgegriff knapper
gewordener Budgets. Ein böses Erwachen für die Fetischisten der
Globalisierung als Allheilmittel. Rotstift-Mensch versus Unsterblichkeit?
Ein System am Rande der Bewusstseinsspaltung?
[IMAGE] |
Futuristisches Szenario,
aber bereits Gegenwart: Bei der Produktion von Kogenate, einem Medikament
zur Behandlung der Bluterkrankheit Hämophilie A, sind Staub und Keime
tabu. |
(Bayer) |
War die Aufklärung im Kant'schen
Sinne der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit",
so findet sich der heutige Mensch in einer labyrinthischen Unmündigkeit
wieder. Er erlebt schmerzlich, dass wachsender Fortschritt immer auch wachsende
Ratlosigkeit bedeutet. Die erdrückende Wissensflut befähigt ihn
nicht, sich für das Gute zu entscheiden. Vielmehr bewirken die komplexen,
chaotischen Systeme, aus denen Wissen und so genannter Fortschritt entspringen,
dass er das Gute nicht mehr erkennen kann. So wie die Welt ein unüberschaubarer
fragmentierter Ort geworden ist, so ist auch er fragmentiert. Das Ich -
ein dunkles Kaleidoskop ständig wechselnder Wünsche, Ängste,
Sehnsüchte und Selbstsüchte. Nichts was ihn verlässlich
zusammenhält, das ihm eine Mitte zeigt, die der Urgrund ist. Die Systeme,
in deren Griff er sich vorfindet, eröffnen ihm pausenlos wechselnde
und widersprüchliche Perspektiven.
Das Urvertrauen als Grundlage
des Seins ist abhanden gekommen. Er sieht sich einer Medizin ausgeliefert,
die Züge einer multiplen Persönlichkeit trägt. Je exorbitanter
ihre Errungenschaften, desto gnadenloser die Erkenntnis, dass sich die
Verheißung leidfreien Seins als die Fiktion dieses Jahrhunderts erweist.
Die Verführungen des Medizinsystems sind längst nur noch in einem
auf Kredit finanzierbaren Kaufrausch zu verwirklichen. Die höchste
Form von Zynismus sei es, so Adorno, die Manipulationen der Werbung zu
durchschauen und das Produkt trotzdem zu kaufen. Das Ganze vollzieht sich
in einem interdisziplinären Albtraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker,
Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten, Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker
aus ihren Welt- und Menschenbildern eine Patchwork-Kreatur namens Mensch
zusammenfantasieren, eine Art hoch komplexen humanoiden Tamagotchi, zum
"lieb haben" ebenso geeignet wie zur programmierten Entsorgung. Nicht nur
das Gute auszumachen, so stellen wir mit Erstaunen fest, wird immer schwieriger,
sondern auch das Böse. Hakan Nesser scheint zu irren, wenn er in seinem
Roman "Das vierte Opfer" feststellt, sicher sei nur, das das Böse
da ist. Es sei das "Prinzip, dem wir entgegensehen können, auf das
wir uns als das Absolute verlassen können. Das, was letztendlich nie
enttäuscht."
Vielmehr geht die Suche nach
Absichten und Tätern anscheinend ins Leere. Ist der Teufel ins System
ausgewandert, fragt Bernd Busch. Treibt sich dort das absichtslose Böse
herum, das Systemböse sozusagen? "Wir werden vom Bösen überwältigt,
das niemand wirklich wünscht und das dennoch geschieht", so der Computerwissenschaftler
Jay David Bolter. Vielleicht machen wir es uns nur zu leicht. Vielleicht
ist dieses Böse nichts als die Konstruktion jenes Außen, in
das es abgewandert sein soll. Vielleicht hat diese verstörende Welt
unsere Angst so überdimensional anwachsen lassen, dass wir nur noch
gebannt auf das Außen starren und das Innen nicht mehr wahrnehmen,
allenfalls als Leerzeichen.
Aber wenn der Blick wieder
frei wird auf das Innere, ist dort und nirgendwo anders der Ort auszumachen,
an dem über Tun und Lassen bestimmt wird. Und wo, wenn überhaupt,
das Rettende wächst. Wie seit Menschengedenken. Und auch im kommenden
Millenium.
Geisler, Linus: Ein neuer
Mensch. Universitas, 56. Jahrgang, Januar 2001, Nummer 655, S. 43-53 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0101universitas_mensch.html |
|