Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: IST DAS EIN MENSCH? FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 09.09.2000
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Ist das ein Mensch?

In der Fortpflanzungsmedizin kulminieren nahezu alle ethischen Probleme der Biotechnologie / Von Linus S. Geisler

Das sogenannte therapeutische Klonen von menschlichen Embryonen für medizinische Zwecke hat auch die Reproduktionsmedizin insgesamt wieder in den Blickpunkt gerückt. Denn die Fortpflanzungsmediziner bieten eine Reihe von janusköpfigen und ethisch strittigen Methoden an. In dieser "assistierten Reproduktion" kulminieren deshalb nach der Auffassung Linus S. Geislers fast alle ethischen Probleme der modernen Biomedizin: Die Instrumentalisierung des Menschen wird zur Methode, sie reduziert ihn zum Konsumgut oder Kunden. Wir dokumentieren den Text Geislers im Wortlaut. Der Autor ist emeritierter Medizin-Professor und Publizist in Gladbeck.

Retortenromantik

Aus heutiger Sicht war es eine prophetische Feststellung als der geniale Enzyklopädist Denis Diderot in dem philosophischen Dialog Der Traum d’Alemberts 1769 ausrief: "Sehen Sie dieses Ei? Damit können alle theologischen Systeme und alle Tempel der Erde gestürzt werden!" Wenige Jahre später unternahm der Abbé und Physiologe Lazzaro Spallanzani ein unappetitliches Experiment. Er manipulierte 1780 das Glied eines Spanielhundes bis zum Samenerguss und pflanzte den Samen einer läufigen Hündin ein. 62 Tage später warf die Hündin drei gesunde Welpen. 

Lazzaro Spallanzani, den Hans Magnus Enzensberger in dem gleichnamigen Gedicht als fett, mit kleinem Kinn und stechenden Augen beschreibt, schrieb enthusiastisch, ihm sei niemals "...ein lebhafteres Vergnügen zuteil..." geworden, zugleich aber schwante ihm Ungutes: "Mein Geist übervoll der Verwunderung und des Staunens, kann nicht an die Zukunft dessen denken, was ich entdeckt habe." Die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung von Säugetieren war erstmals bewiesen. Bald folgt ihm die erste Frau, heißt es weiter in Enzensbergers Gedicht.

Am 15. Oktober 1951 gelang der Firma Syntex in Mexico City die Synthese des Hormons Norethisteron. Damit war die Grundlage für die Antibabypille geschaffen. Carl Djerassi, der "Vater" dieser Entdeckung, hat später Romane und Bühnenstücke geschrieben. In seinem Schauspiel An Immaculate Misconception (Eine unbefleckte Fehlempfängnis) erklärt er das 21. Jahrhundert zum ART-Zeitalter. ART steht für Assistierende Reproduktionstechniken.

Junge Männer und Frauen legen Reproduktionsbanken voll tiefgefrorener Spermien und Eizellen an. Wer über ein solides Konto bei der Reprobank verfügt, kann sich sterilisieren lassen; seine Fortpflanzungsfähigkeit ist für Jahrzehnte gesichert. Sex findet nur noch aus Lust oder Liebe statt. Die Separierung von Sexualität und Fortpflanzung ist besiegelt. Folgerichtig lautet das Motto des jüngsten Festivals Ars Electronica "Sex im Zeitalter seiner reproduktionstechnischen Überflüssigkeit". Auf dem Programm stehen die maschinellen Aspekte menschlicher Sexualität, oder wem danach ist, auch Orgien im Cyberspace.

In "Sperm Wars" entwirft Robin Baker ein Szenario von Fortpflanzungsrestaurants, "... die man aufsucht, um zu essen, zu trinken und nach Fortpflanzungsmöglichkeiten zu stöbern - und bei einer Feinschmeckermahlzeit und einer guten Flasche Wein möglicherweise ein Kind zu bestellen." – Retortenromantik, cool und doch zu Herzen gehend. Fortpflanzung wird externalisiert. Sie ereignet sich als menschenferner synthetischer Laborakt, vollzieht sich als mikromanipulative Technik.

Noch weiter könnten in etwa 15 Jahren die Lebensplanungsspielräume zumindest für Frauen werden: die "Karrierepille" hemmt den Eisprung zwischen Pubertät und Anfang 30 und verschiebt die Wechseljahre um Jahrzehnte (Roger Gosden, Reproduktionsbiologe an der Montrealer Universität). Nach absolvierter Karriere winkt spätes Mutterglück – vorausgesetzt, es gelingt gleichzeitig die Zellalterung zu verzögern und das Risiko für Gendefekte zu bremsen.

Rückrufaktion Embryo

Aus einem frauenärztlichen Randgebiet hat sich die Fortpflanzungsmedizin zu einer sich verselbständigenden monströsen Reproduktionsmaschinerie entwickelt. Mehr als 100 reproduktionsmedizinische Zentren bieten alleine in Deutschland ihre Dienste an. Schätzungsweise 40 000 Behandlungszyklen pro Jahr werden dort durchgeführt. Weltweit verdanken jährlich etwa 40 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen Maßnahmen ihr Leben. 

Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin beinhalten die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie seine Verhinderung oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als therapeutischer Akt in die Geburtshilfe einzuziehen. Die Reproduktionsmedizin beschafft das Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der Unfruchtbarkeit oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche stehen, und sie selektioniert mit gleicher Routine das potenzielle Horrorkind. Die Sehnsucht nach dem Kind schlägt um in eine Art süchtigen Besitzwunsch, der sich die Lebensperspektiven eines Paares rigoros unterzuordnen haben. 

Dem Zufall bleibt nichts mehr überlassen. Das Geschlecht des Kindes ist vorbestimmbar. Das Spermiensortiergerät Microsort des Genetics IVF Institutes in Fairfex Virginia vermag auf Grund des unterschiedlichen Gewichtes Samenzellen mit weiblichen X-Chromosomen von den leichteren männlichen Y-Chromosomen zu trennen. Jeder Versuch kostet rund 5000 DM. Drei Versuche sind im Durchschnitt erforderlich. "Ausbalancierte Familienplanung" nennt sich das Unterfangen. In der Tierzucht hat sich die Methode bereits etabliert: "gesexter Samen" für die Rinderzucht ist in England bereits im Handel.

Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch gesunde Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen, die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". So werden willkommene Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives Fallobst, das der Verrottung anheimfällt. 

Die dieser Methode innewohnende Schizophrenie ist bestürzend: Eine medizinische Technik erzeugt selbst jenes "Unheil", dessen Verhinderung zugleich ihr erklärtes Ziel ist. Exemplarisch wird hier genetisches Wissen zum vergifteten Wissen. Die gnadenlose Annäherung an den Embryo, so Regine Kollek, erfolgt bei der PID wie an ein Konsumobjekt, das einer Qualitätskontrolle unterliegt, mit garantiertem Rückgaberecht. Der Blick auf annehmbare Alternativen zur PID, wie Samenspende, Adoption oder der freiwillige Verzicht auf ein Kind, werden verstellt. 

Kommt es bei der PID zu einer Schwangerschaft (Erfolgsquote ca. 20%), besteht ein erhebliches Risiko für eine Fehlgeburt (ca. 25%) bzw. für eine Mehrlingsschwangerschaft (ca. 27%), da meist mehrere Embryonen - in Deutschland maximal drei - in die Gebärmutter der Frau eingebracht werden. Bei Mehrlingsschwangerschaften wiederum steigt die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass das Kind zu früh, mit einem zu niedrigen Geburtsgewicht und per Kaiserschnitt zur Welt kommt. 

Frühgeborene wiederum weisen eine hohe Rate von Entwicklungsdefiziten auf. Mit sechs Jahren zeigen zwei Drittel der Kinder neurologische Auffälligkeiten, nur jedes Zweite besucht später eine altersentsprechende Klasse. Die Quote der Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben, ist bei frühgeborenen Kindern neunmal so hoch wie bei termingerecht geborenen. Grund ist die hohe Rate an Behinderungen. So schafft eine selektionierende Reproduktionstechnik, die ihre Legitimation aus dem Versprechen bezieht, Behinderung zu vermeiden, selbst behinderte Menschen.

Wie utopisch die Hoffnung ist, durch Selektion "untauglicher Embryonen" bereits vor der Einpflanzung in den mütterlichen Uterus menschliches Leben frei von Behinderung gestalten zu können, lässt sich schon durch die Ursachenanalyse von Behinderungen belegen: 95% aller Behinderungen entstehen durch Einflüsse, die nach der Geburt wirksam wurden und bei den restlichen 5% kommt allenfalls bei der Hälfte ein genetischer Defekt als Ursache in Betracht. Von diesen Defekten ist jedoch nur ein Bruchteil entschlüsselt. Die Gesellschaft, werden ihr nur lange genug die Utopien eines leidfreien Lebens in Unsterblichkeit suggeriert, wird schlussendlich der "normativen Kraft des Utopischen" erliegen. 

ICSI (intracytoplasmatische Spermieninjektion) gilt seit 1992 die Hoffnung steriler Männer, deren Spermienqualität hochgradig eingeschränkt ist. Die Fortpflanzung wird durch Injektion eines einzelnen Spermiums in die Eizelle ermöglicht; Erfolgsquote etwa 25%. Als Methode ist ICSI, die auch bei der Präimplantationsdiagnostik eingesetzt wird, durch die willkürliche Auswahl eines Spermiums extrem unbiologisch. Auswahlmechanismen, die bei der natürlichen Empfängnis wirksam werden, sind außer Kraft gesetzt. Ob erhöhte Fehlbildungsraten bei "ICSI-Kindern" vorkommen ist noch Gegenstand von Studien. Diskutiert wird auch, ob ein genetisch bedingtes Krebsrisiko, das bei männlicher Unfruchtbarkeit nicht weiter vererbt wird, durch ICSI nun doch auf die Nachkommen übertragen werden kann. 

Die Ironie der Methode wird dann offensichtlich, wenn Männer, deren Unfruchtbarkeit durch einen genetischen Defekt am Y-Chromosom bedingt ist, mit Hilfe von ICSI den Defekt an ihre Söhne weitergeben: Fortpflanzungsmedizin als Technik zur Weitervererbung von Unfruchtbarkeit (David Page, Whitehead-Institute, Cambridge, Massachusetts).

Unmenschlicher Blick

Am in der Retorte gezeugten Embryo stellt sich die unausweichliche Frage: Ist das ein Mensch? Ist es jener Blick auf den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen Auschwitz-Bericht sagt, er sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen anderen Menschen anschaut"? Ist dieser Zellverbund nur ein "Zellhaufen", aus dem "noch nichts Menschliches geworden" ist (Michael West, Advanced Cell Technology in Worcester, Mass.)? Wer ist schon bereit, sich einen Achtzeller als Geschöpf vorzustellen, das ausgerichtet ist auf einen einmaligen Menschen mit seiner ganzen Würde, seiner unverwechselbaren Personalität? Die Vorstellungen reichen vielleicht noch gerade zur Akzeptanz von "human life" - in aller Unverbindlichkeit -, aber "human being"? 

"Schutzwürdige Organismen" zu sein, so viel räumt man diesen embryonalen Zellen ein. Da erscheint es nur folgerichtig, eine "abgestufte Schutzwürdigkeit" als gerechtfertigt an zusehen. Für manche Forscher greifen selbst derartige minimalistische Wertzuschreibungen noch zu hoch. Austin Smith, Inhaber des umstrittenen Patents EP 0695351 ("Edinburgh-Patent"), das die Manipulation an menschlichen Stammzellen sichern sollte, artikuliert seine Sicht früher menschlicher Embryonen unmissverständlich: "... es ist eindeutig nicht dasselbe wie du und ich. Es hat keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen. Niemand weiß, ob es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann. Es ist nicht nichts. Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter menschlichem Leben verstehen." 

Das Unanschauliche ist eine gut funktionierende Trumpfkarte. Der Griff nach dem Ungegenständlichen wird zum Griff in den Nebel, hinter dem alle Wertsetzungen verschwinden. Die Zuschreibung von Menschenwürde an Zellhaufen strapaziert die moralischen Kraftanstrengungen über Gebühr. Das Operieren mit Verkürzungen (Materie sind Quarks, Leben besteht aus Molekülen) bildet das sichere Fundament einer auf Standpunkte reduzierten Debatte. In dem Film Der Dritte Mann gibt es die gespenstische Szene, wo der Schieber Harry Lime (gespielt von Orson Welles), der mit gepanschtem Penicillin den Tod hunderter Menschen auf dem Gewissen hat, seine Tat dem früheren Freund Martins erklärt. Dabei versucht auch er, durch Distanzbildung seine Handlungen unanschaulich zu machen: das Gespräch vom höchsten Punkt des Wiener Riesenrades ermöglicht Lime den menschenverachtenden Blick auf die "schwarzen Fliegen" tief unten, die für ihn nur noch gesichtslose Größen in einer abstrakten Rechnung darstellen. In der Unanschaulichkeit gelingt kein Entwurf eines Menschenbildes mehr.

Joker des Lebens

Menschliche embryonale Stammzellen werden als der "Joker des Lebens" gehandelt, ein unerschöpfliches Füllhorn aus dem sich beliebige Zellverbände, Gewebe und vielleicht sogar menschliche Organe werden züchten lassen. Nachdem Großbritannien als erstes Land der Welt das Klonen menschlicher Embryonen zu therapeutischen Zwecken zuzulassen beabsichtigt, ist ihr Preis sprunghaft gestiegen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 verbietet bei uns die Gewinnung von embryonalen Stammzellen, weil es sich hierbei um eine Verwendung von Embryonen zu anderen Zwecken als zu ihrer Erhaltung handelt. Nach Aus- und Umwegen wird daher dringend gesucht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) will im Rahmen eines Schwerpunktprogramms menschliche embryonale Stammzellen aus den USA importieren, die von "überzähligen" humanen Embryonen stammen. Zu beziehen ist das kostbare Gut durch Professor Jamie Thompson von der Universität Wisconsin in Madison. Preis pro Kultur rund 5000 Dollar. Im Gegensatz zu Hubert Hüppe, stellvertretender Vorsitzender der Enquête-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin, sieht das Bundesforschungsministerium keine grundsätzlichen rechtlichen Einwände. Deutschland eine "Insel der Seligen" der Stammzellforschung, die das "schmutzige Geschäft" dem Ausland überlässt? So die Frage des Heidelberger Juristen Rüdiger Wolfrum. Auch im Entwurf der Grundrechtecharta der EU ist nur das reproduktive, nicht aber das therapeutische Klonen als technische Grundlage der Stammzellgewinnung verboten. 

Mit dem als "Honolulu-Technik" bekanntem Verfahren ist es Anfang August den australischen Wissenschaftlern Peter Mountford und Megan Munsie des Biotech-Unternehmens Stem Cell Sciences gelungen, aus klonierten Körperzellen von Mäusen embryonale Stammzellen zu gewinnen und daraus Nerven- und Muskelzellen zu züchten. Erweisen sich diese Versuche als reproduzierbar, ist das Tor zum therapeutischen Klonen menschlicher Embryonen weit und wahrscheinlich unwiderruflich geöffnet. Stem Cell Sciences ist übrigens die Firma, die "irrtümlich" vom Europäischen Patentamt Ende 1999 jenes Patent (EP 695 351) auf das Klonen von Menschen erhalten hatte, das nach Aufdeckung des Skandals durch Greenpeace unter dem massiven öffentlichen Druck revidiert werden musste.

Autonomie als Phantom

Die In-vitro-Fertilisation, ursprünglich als Hilfe bei Sterilität durch verwachsene Eileiter entwickelt, hat sich in kürzester Zeit von ihrem originären Zweck entfernt. Als großer Schritt in Richtung auf eine legitime Freiheit der Frau, wurde sie gepriesen, als Befreiung der Frau und nebenbei als Garant für eine "bessere medizinische Wartung des Fötus", als Überwindung der Poesie einer Schwangerschaft "wie zu Großmutters" Zeiten (Jean-Louis Touraine, Medizinprofessor, Das Kind außerhalb der Fruchtblase). Die scheinbar neu gestärkte Autonomie der Frau wurde aber in Wirklichkeit schrittweise unterlaufen und schließlich pervertiert: Die Frau, als Erfüllungsgehilfin missbraucht für das "soziokulturelle Projekt" des fehlerfreien Kindes nach Maß (Sigrid Graumann). 

Die Biodiktatur der "Normalisierungsgesellschaft" im Foucaultschen Sinne fordert ihren Tribut. Sie relativiert die Autonomie der Frau oder des Paares, die in diese Selektionstechnik einwilligen, bis zum inhaltslosen Phantom. Was als individuelle, verantwortlich und selbstbestimmt getroffene Entscheidung imponiert, ist in Wahrheit vielfach das Diktat gesellschaftlicher Lebenswertzuschreibungen. Diese "neue Eugenik", so der französische Reproduktionsmediziner Jacques Testart, ist "nützlich, schmerzfrei und effizient". Man kann hinzufügen: sie ist lautlos, unanschaulich und hinterlässt, anders als die Spätabtreibung, keine schmutzigen Hände. 

Die nostalgische Idee, Fortpflanzung diene der Fortpflanzung, ist zur Karikatur geworden. Am Ende von Selektion und verbrauchender Embryonenforschung pflanzt sich nichts mehr fort, das Ganze mündet aus in den verhinderten Menschen oder in Bereicherung von Grundlagenforschung. Im philosophischen Diskurs wird Selektion verniedlicht zur Kränkung der Lebenden und gefragt, "ob eine Erleichterung von Selektion insgesamt mehr Leiden verhindert, als es durch Kränkung hervorruft, und mehr Freiheit der Lebensgestaltung ermöglicht, als es durch neu entstehenden sozialen Druck mindert" (Dieter Birnbacher). 

Einen Vorgeschmack auf die Zukunft unserer Kinder gab die Konferenz Humans and Genetic Engeneering in the New Millenium 1999 in Kopenhagen. Im Jahre 2025 werden, so Joseph F. Coates, 65% der Kinder genetisch versorgt sein (genetic serviced), 95% wegen Krankheiten oder Störungen und 5% zur "Verbesserung" (enhancement). Bei 12% der Eingriffe wird die Keimbahn verändert. 

Der Genetiker Lee Silver hat bereits zwei Typen von "enhancement" kategorisiert. Beim Typ I wird der Embryo mit einem Gen versorgt, das andere Menschen natürlicherweise besitzen. Beim Typ II findet die Versorgung mit einem Gen statt, das es bisher beim Menschen noch nicht gegeben hat. In Zukunft, so die Prophezeiung Silvers, werden die Optionen der Fortpflanzungsmedizin schrankenlos sein: Für jede Person, gleich welchen Geschlechts und welchen Alters, wird es möglich sein, ein genetisch verwandtes Baby zu haben, alleine oder mit jeder Person, gleich welchen Geschlechts und welchen Alters. 

Das Embryonenspiel

Das Embryonenspiel erweist sich als Spiel ohne Grenzen. Embryonen lassen sich nutzen und züchten, biopsieren und verwerfen, beforschen und entsorgen, tieffrieren und auftauen, selektionieren oder als Zelllinien immortalisieren, via Internet verkaufen oder in Rückrufaktionen ungeschehen machen. Nach Auskunft des Pariser Gesundheitsministeriums lagern zurzeit in französischen Labors und Reproduktionskliniken etwa 54 000 tiefgefrorene Embryonen, die aufgetaut und wieder zum Leben erweckt, im mütterlichen Körper zu Kindern heranwachsen könnten. 

Für ein Drittel dieser "Gefrierfachwaisen"gibt es kein "Elternprojekt" mehr, weil die Erzeuger den Kinderwunsch aufgegeben haben. Nach einer Empfehlung des Conseil d’Etat, des höchsten Verwaltungsgerichts Frankreichs, ist die Nutzung dieser "Frühwaisen" zu Forschungszwecken zu erwägen. Aufgestockt werden könnte dieses Kontingent noch um schätzungsweise 300 000 "überzählige" Embryonen pro Jahr, die bei künstlichen Befruchtungen anfallen. Verbrauchende Embryonenforschung als ad absurdum geführte "Reproduktions-Medizin": Menschenzeugung, die nicht mehr in die Fortpflanzung ausmündet.

Der Akt der geschlechtlichen Vereinigung, wenn er lediglich als physiologischer Vorgang, der der Fortpflanzung dient, verstanden wird, ist externalisierbar in eine Retorte, die Embryonalentwicklung lokalisierbar in einen künstlichen Uterus. Wenn dieser Akt aber die Konstituierung eines neuen Lebens ist, ausgerichtet auf eine neue Person, fühlend und denkend und einmalig, wenn Zeugung so verstanden wird, dann ist die Auslagerung dieses Ortes von höchster Intimität in ein Reagenzglas Signum einer "menschenleer" gewordenen Medizin. Fortpflanzung ist zur asexuellen Praktik degeneriert, ist steril geworden. Es gäbe nichts Obszöneres, schreibt die französische Psychoanalytikerin Monette Vacquin in ihrem Buch Die Geburt ohne Frau, "...als jene Unbeflecktheit, die man in unnatürlichen experimentellen Kreuzungen oder in der Keimfreiheit des Labors sucht."

Unerträglichkeit 

So weist die Reproduktionsmedizin paradigmatisch ethisch fragwürdige Züge auf, die in Medizin und Biowissenschaften, zunehmend dominieren. Ihre Begründungen basieren auf einer konsequenzialistischen Ethik. Biogenetischer Determinismus bildet ihr gedankliches Fundament. Ihre Mechanismen wirken vorwiegend manipulativ nach der Losung: Die Welt ist alles, was manipulierbar ist (Guillaume Paoli). Die Instrumentalisierung des Menschen wird zur Methode. Sie reduziert ihn zum Konsumgut oder Kunden (Embryo/Paar). Die Eigendynamik der Fortpflanzungsmedizin wird als unvermeidlich und unaufhaltsam verkündet. Ethische Kollateralschäden gehören zum Handwerk. 

Indem die Reproduktionsmedizin, abweichend von ihrem originären Ziel, ständig ihre Indikationen erweitert und sich Anwendungsfelder sucht, für die primär kein Bedarf bestand, wird sie zum Modell der Krise der Ziele einer ungezügelten Technologie. Die Maßlosigkeit einer Technologie wird spätestens dort unerträglich, wo sich ihre primäre Zielsetzung pervertiert, wo ihre ursprüngliche Absicht lebensschöpfend zu wirken, sich gegen das Leben kehrt, wo die Voraussetzung für die Entstehung menschlichen Lebens die Selektion und Vernichtung von menschlichem Leben ist.

Was auch in der Fortpflanzungsmedizin erkennbar wird, ist das elementare Trauma der modernen Biowissenschaften schlechthin: ihre Unfähigkeit, den Menschen in seiner Unvollkommenheit und Endlichkeit anzunehmen. 

Hier ist die Quelle aller Utopien, des zwanghaften Drangs, der Evolution in den Arm zu fallen, der verzweifelten Anstrengungen dem Sterbenmüssen zu entkommen, in dem der menschliche Geist als unsterbliche Software auf monströse Festplatten heruntergeladen werden soll oder seine eigene Überwindung in humanoiden Megamaschinen provoziert (Ray Kurzweil). Selektion, "betterment" und gierige Eingriffe in die Keimbahn erscheinen dann als nahezu hysterische Abwehrreaktion auf diese vermeintliche Kränkung. Hier liegt auch der Grund, warum es sich schon im Ansatz um Versagenstechniken handelt.

Ein Gesetz als Glücksfall

Aber war da nicht noch etwas im Roulette embryonaler Möglichkeiten? Tatsächlich: Noch kommen manche dieser Geschöpfe durch. Manche schaffen es, die embryologische Rennstrecke von neun Monaten zu überwinden, alle Hürden zu nehmen: Präfertilisationsdiagnostik und Präimplantationsdiagnostik, Amniozentese und Zottenbiopsie, Triple-Test, Nackenfaltenmessung und den Big-Brother-Blick unablässiger Visualisierungen im Ultraschall. Sie wagen den Ausbruch aus der Einkreisung durch Reprofachleute, Zellforscher und Stammzellenjäger. Irgendwo, ganz im Hintergrund ist vielleicht sogar ein Elternpaar auszumachen, sprachlose Statisten, noch unverzichtbare Rudimente der Evolution. 

Aber die Elternidee steht bereits zum Ausverkauf an: Die rigorosesten Vordenker haben die sogenannten primordialen Keimzellen abgetriebener Feten im Visier. Gelänge es, diese zur Totipotenz zu programmieren (aus totipotenten Zellen ist die Entwicklung ganzer Organismen möglich), wären menschliche Geschöpfe denkbar, deren genetische Eltern nie gelebt haben.

Das deutsche Embryonenschutzgesetz schreibt diesen "Zellhaufen", die am Anfang allen menschlichen Lebens stehen, eindeutig Menschenwürde zu. Nicht anders das Bundesverfassungsgericht mit der Feststellung: "Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen." (BverfGE 39,41). 

Dieses Gesetz ist bei all dem ethischen Zwielicht, das auf der Fortpflanzungsmedizin liegt, in seiner Eindeutigkeit kein Hindernis, sondern ein Glücksfall. Nicht seine Aufweichung ist geboten, sondern die gelassene und kluge Auseinandersetzung mit den Optionen, die eine rasend gewordene Fortschrittsbesessenheit pausenlos in unser Bewusstsein zu projizieren versucht. 

Der Köder der Utopie (Hans Jonas) ist heute von stärkerer Suggestivkraft denn je. Die Währung, in der der Preis für das blinde Ausstellen ethischer Blankoschecks auf die Zukunft eingefordert wird, darf nicht die Instrumentalisierung menschlichen Lebens in seiner frühesten, besonders schutzbedürftigen Phase sein.


Geisler, Linus S.: Ist das ein Mensch? In der Fortpflanzungsmedizin kulminieren nahezu alle ethischen Probleme der Biotechnologie.
Frankfurter Rundschau, 09.09.2000, Nr. 210, S/R/D, S. 9 (Dokumentation)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0009fr_mensch.html

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