Ist das ein Mensch?
In der Fortpflanzungsmedizin
kulminieren nahezu alle ethischen Probleme der Biotechnologie / Von Linus
S. Geisler
Das sogenannte therapeutische
Klonen von menschlichen Embryonen für medizinische Zwecke hat auch
die Reproduktionsmedizin insgesamt wieder in den Blickpunkt gerückt.
Denn die Fortpflanzungsmediziner bieten eine Reihe von janusköpfigen
und ethisch strittigen Methoden an. In dieser "assistierten Reproduktion"
kulminieren deshalb nach der Auffassung Linus S. Geislers fast alle ethischen
Probleme der modernen Biomedizin: Die Instrumentalisierung des Menschen
wird zur Methode, sie reduziert ihn zum Konsumgut oder Kunden. Wir dokumentieren
den Text Geislers im Wortlaut. Der Autor ist emeritierter Medizin-Professor
und Publizist in Gladbeck.
Retortenromantik
Aus heutiger Sicht war es
eine prophetische Feststellung als der geniale Enzyklopädist Denis
Diderot in dem philosophischen Dialog Der Traum d’Alemberts 1769
ausrief: "Sehen Sie dieses Ei? Damit können alle theologischen Systeme
und alle Tempel der Erde gestürzt werden!" Wenige Jahre später
unternahm der Abbé und Physiologe Lazzaro Spallanzani ein unappetitliches
Experiment. Er manipulierte 1780 das Glied eines Spanielhundes bis zum
Samenerguss und pflanzte den Samen einer läufigen Hündin ein.
62 Tage später warf die Hündin drei gesunde Welpen.
Lazzaro Spallanzani, den
Hans Magnus Enzensberger in dem gleichnamigen Gedicht als fett, mit kleinem
Kinn und stechenden Augen beschreibt, schrieb enthusiastisch, ihm sei niemals
"...ein lebhafteres Vergnügen zuteil..." geworden, zugleich aber schwante
ihm Ungutes: "Mein Geist übervoll der Verwunderung und des Staunens,
kann nicht an die Zukunft dessen denken, was ich entdeckt habe." Die Möglichkeit
der künstlichen Befruchtung von Säugetieren war erstmals bewiesen.
Bald folgt ihm die erste Frau, heißt es weiter in Enzensbergers Gedicht.
Am 15. Oktober 1951 gelang
der Firma Syntex in Mexico City die Synthese des Hormons Norethisteron.
Damit war die Grundlage für die Antibabypille geschaffen. Carl Djerassi,
der "Vater" dieser Entdeckung, hat später Romane und Bühnenstücke
geschrieben. In seinem Schauspiel An Immaculate Misconception (Eine
unbefleckte Fehlempfängnis) erklärt er das 21. Jahrhundert zum
ART-Zeitalter. ART steht für Assistierende Reproduktionstechniken.
Junge Männer und Frauen
legen Reproduktionsbanken voll tiefgefrorener Spermien und Eizellen an.
Wer über ein solides Konto bei der Reprobank verfügt, kann sich
sterilisieren lassen; seine Fortpflanzungsfähigkeit ist für Jahrzehnte
gesichert. Sex findet nur noch aus Lust oder Liebe statt. Die Separierung
von Sexualität und Fortpflanzung ist besiegelt. Folgerichtig lautet
das Motto des jüngsten Festivals Ars Electronica "Sex im Zeitalter
seiner reproduktionstechnischen Überflüssigkeit". Auf dem Programm
stehen die maschinellen Aspekte menschlicher Sexualität, oder wem
danach ist, auch Orgien im Cyberspace.
In "Sperm Wars" entwirft
Robin Baker ein Szenario von Fortpflanzungsrestaurants, "... die man aufsucht,
um zu essen, zu trinken und nach Fortpflanzungsmöglichkeiten zu stöbern
- und bei einer Feinschmeckermahlzeit und einer guten Flasche Wein möglicherweise
ein Kind zu bestellen." – Retortenromantik, cool und doch zu Herzen gehend.
Fortpflanzung wird externalisiert. Sie ereignet sich als menschenferner
synthetischer Laborakt, vollzieht sich als mikromanipulative Technik.
Noch weiter könnten
in etwa 15 Jahren die Lebensplanungsspielräume zumindest für
Frauen werden: die "Karrierepille" hemmt den Eisprung zwischen Pubertät
und Anfang 30 und verschiebt die Wechseljahre um Jahrzehnte (Roger Gosden,
Reproduktionsbiologe an der Montrealer Universität). Nach absolvierter
Karriere winkt spätes Mutterglück – vorausgesetzt, es gelingt
gleichzeitig die Zellalterung zu verzögern und das Risiko für
Gendefekte zu bremsen.
Rückrufaktion Embryo
Aus einem frauenärztlichen
Randgebiet hat sich die Fortpflanzungsmedizin zu einer sich verselbständigenden
monströsen Reproduktionsmaschinerie entwickelt. Mehr als 100 reproduktionsmedizinische
Zentren bieten alleine in Deutschland ihre Dienste an. Schätzungsweise
40 000 Behandlungszyklen pro Jahr werden dort durchgeführt. Weltweit
verdanken jährlich etwa 40 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen
Maßnahmen ihr Leben.
Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin
beinhalten die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie seine Verhinderung
oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als therapeutischer Akt
in die Geburtshilfe einzuziehen. Die Reproduktionsmedizin beschafft das
Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der Unfruchtbarkeit
oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche stehen, und sie selektioniert
mit gleicher Routine das potenzielle Horrorkind. Die Sehnsucht nach dem
Kind schlägt um in eine Art süchtigen Besitzwunsch, der sich
die Lebensperspektiven eines Paares rigoros unterzuordnen haben.
Dem Zufall bleibt nichts
mehr überlassen. Das Geschlecht des Kindes ist vorbestimmbar. Das
Spermiensortiergerät Microsort des Genetics IVF Institutes in Fairfex
Virginia vermag auf Grund des unterschiedlichen Gewichtes Samenzellen mit
weiblichen X-Chromosomen von den leichteren männlichen Y-Chromosomen
zu trennen. Jeder Versuch kostet rund 5000 DM. Drei Versuche sind im Durchschnitt
erforderlich. "Ausbalancierte Familienplanung" nennt sich das Unterfangen.
In der Tierzucht hat sich die Methode bereits etabliert: "gesexter Samen"
für die Rinderzucht ist in England bereits im Handel.
Bei der Präimplantationsdiagnostik
(PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer
Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch
gesunde Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen,
die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". So
werden willkommene Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives
Fallobst, das der Verrottung anheimfällt.
Die dieser Methode innewohnende
Schizophrenie ist bestürzend: Eine medizinische Technik erzeugt selbst
jenes "Unheil", dessen Verhinderung zugleich ihr erklärtes Ziel ist.
Exemplarisch wird hier genetisches Wissen zum vergifteten Wissen. Die gnadenlose
Annäherung an den Embryo, so Regine Kollek, erfolgt bei der PID wie
an ein Konsumobjekt, das einer Qualitätskontrolle unterliegt, mit
garantiertem Rückgaberecht. Der Blick auf annehmbare Alternativen
zur PID, wie Samenspende, Adoption oder der freiwillige Verzicht auf ein
Kind, werden verstellt.
Kommt es bei der PID zu einer
Schwangerschaft (Erfolgsquote ca. 20%), besteht ein erhebliches Risiko
für eine Fehlgeburt (ca. 25%) bzw. für eine Mehrlingsschwangerschaft
(ca. 27%), da meist mehrere Embryonen - in Deutschland maximal drei - in
die Gebärmutter der Frau eingebracht werden. Bei Mehrlingsschwangerschaften
wiederum steigt die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass das Kind zu früh,
mit einem zu niedrigen Geburtsgewicht und per Kaiserschnitt zur Welt kommt.
Frühgeborene wiederum
weisen eine hohe Rate von Entwicklungsdefiziten auf. Mit sechs Jahren zeigen
zwei Drittel der Kinder neurologische Auffälligkeiten, nur jedes Zweite
besucht später eine altersentsprechende Klasse. Die Quote der Kinder,
die nicht bei ihren Eltern leben, ist bei frühgeborenen Kindern neunmal
so hoch wie bei termingerecht geborenen. Grund ist die hohe Rate an Behinderungen.
So schafft eine selektionierende Reproduktionstechnik, die ihre Legitimation
aus dem Versprechen bezieht, Behinderung zu vermeiden, selbst behinderte
Menschen.
Wie utopisch die Hoffnung
ist, durch Selektion "untauglicher Embryonen" bereits vor der Einpflanzung
in den mütterlichen Uterus menschliches Leben frei von Behinderung
gestalten zu können, lässt sich schon durch die Ursachenanalyse
von Behinderungen belegen: 95% aller Behinderungen entstehen durch Einflüsse,
die nach der Geburt wirksam wurden und bei den restlichen 5% kommt allenfalls
bei der Hälfte ein genetischer Defekt als Ursache in Betracht. Von
diesen Defekten ist jedoch nur ein Bruchteil entschlüsselt. Die Gesellschaft,
werden ihr nur lange genug die Utopien eines leidfreien Lebens in Unsterblichkeit
suggeriert, wird schlussendlich der "normativen Kraft des Utopischen" erliegen.
ICSI (intracytoplasmatische
Spermieninjektion) gilt seit 1992 die Hoffnung steriler Männer, deren
Spermienqualität hochgradig eingeschränkt ist. Die Fortpflanzung
wird durch Injektion eines einzelnen Spermiums in die Eizelle ermöglicht;
Erfolgsquote etwa 25%. Als Methode ist ICSI, die auch bei der Präimplantationsdiagnostik
eingesetzt wird, durch die willkürliche Auswahl eines Spermiums extrem
unbiologisch. Auswahlmechanismen, die bei der natürlichen Empfängnis
wirksam werden, sind außer Kraft gesetzt. Ob erhöhte Fehlbildungsraten
bei "ICSI-Kindern" vorkommen ist noch Gegenstand von Studien. Diskutiert
wird auch, ob ein genetisch bedingtes Krebsrisiko, das bei männlicher
Unfruchtbarkeit nicht weiter vererbt wird, durch ICSI nun doch auf die
Nachkommen übertragen werden kann.
Die Ironie der Methode wird
dann offensichtlich, wenn Männer, deren Unfruchtbarkeit durch einen
genetischen Defekt am Y-Chromosom bedingt ist, mit Hilfe von ICSI den Defekt
an ihre Söhne weitergeben: Fortpflanzungsmedizin als Technik zur Weitervererbung
von Unfruchtbarkeit (David Page, Whitehead-Institute, Cambridge, Massachusetts).
Unmenschlicher Blick
Am in der Retorte gezeugten
Embryo stellt sich die unausweichliche Frage: Ist das ein Mensch? Ist es
jener Blick auf den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen
Auschwitz-Bericht sagt, er sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen
anderen Menschen anschaut"? Ist dieser Zellverbund nur ein "Zellhaufen",
aus dem "noch nichts Menschliches geworden" ist (Michael West, Advanced
Cell Technology in Worcester, Mass.)? Wer ist schon bereit, sich einen
Achtzeller als Geschöpf vorzustellen, das ausgerichtet ist auf einen
einmaligen Menschen mit seiner ganzen Würde, seiner unverwechselbaren
Personalität? Die Vorstellungen reichen vielleicht noch gerade zur
Akzeptanz von "human life" - in aller Unverbindlichkeit -, aber "human
being"?
"Schutzwürdige Organismen"
zu sein, so viel räumt man diesen embryonalen Zellen ein. Da erscheint
es nur folgerichtig, eine "abgestufte Schutzwürdigkeit" als gerechtfertigt
an zusehen. Für manche Forscher greifen selbst derartige minimalistische
Wertzuschreibungen noch zu hoch. Austin Smith, Inhaber des umstrittenen
Patents EP 0695351 ("Edinburgh-Patent"), das die Manipulation an menschlichen
Stammzellen sichern sollte, artikuliert seine Sicht früher menschlicher
Embryonen unmissverständlich: "... es ist eindeutig nicht dasselbe
wie du und ich. Es hat keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen.
Niemand weiß, ob es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann.
Es ist nicht nichts. Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter
menschlichem Leben verstehen."
Das Unanschauliche ist eine
gut funktionierende Trumpfkarte. Der Griff nach dem Ungegenständlichen
wird zum Griff in den Nebel, hinter dem alle Wertsetzungen verschwinden.
Die Zuschreibung von Menschenwürde an Zellhaufen strapaziert die moralischen
Kraftanstrengungen über Gebühr. Das Operieren mit Verkürzungen
(Materie sind Quarks, Leben besteht aus Molekülen) bildet das sichere
Fundament einer auf Standpunkte reduzierten Debatte. In dem Film Der
Dritte Mann gibt es die gespenstische Szene, wo der Schieber Harry
Lime (gespielt von Orson Welles), der mit gepanschtem Penicillin den Tod
hunderter Menschen auf dem Gewissen hat, seine Tat dem früheren Freund
Martins erklärt. Dabei versucht auch er, durch Distanzbildung seine
Handlungen unanschaulich zu machen: das Gespräch vom höchsten
Punkt des Wiener Riesenrades ermöglicht Lime den menschenverachtenden
Blick auf die "schwarzen Fliegen" tief unten, die für ihn nur noch
gesichtslose Größen in einer abstrakten Rechnung darstellen.
In der Unanschaulichkeit gelingt kein Entwurf eines Menschenbildes mehr.
Joker des Lebens
Menschliche embryonale Stammzellen
werden als der "Joker des Lebens" gehandelt, ein unerschöpfliches
Füllhorn aus dem sich beliebige Zellverbände, Gewebe und vielleicht
sogar menschliche Organe werden züchten lassen. Nachdem Großbritannien
als erstes Land der Welt das Klonen menschlicher Embryonen zu therapeutischen
Zwecken zuzulassen beabsichtigt, ist ihr Preis sprunghaft gestiegen. Das
Embryonenschutzgesetz von 1991 verbietet bei uns die Gewinnung von embryonalen
Stammzellen, weil es sich hierbei um eine Verwendung von Embryonen zu anderen
Zwecken als zu ihrer Erhaltung handelt. Nach Aus- und Umwegen wird daher
dringend gesucht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) will im Rahmen
eines Schwerpunktprogramms menschliche embryonale Stammzellen aus den USA
importieren, die von "überzähligen" humanen Embryonen stammen.
Zu beziehen ist das kostbare Gut durch Professor Jamie Thompson von der
Universität Wisconsin in Madison. Preis pro Kultur rund 5000 Dollar.
Im Gegensatz zu Hubert Hüppe, stellvertretender Vorsitzender der Enquête-Kommission
Recht und Ethik der modernen Medizin, sieht das Bundesforschungsministerium
keine grundsätzlichen rechtlichen Einwände. Deutschland eine
"Insel der Seligen" der Stammzellforschung, die das "schmutzige Geschäft"
dem Ausland überlässt? So die Frage des Heidelberger Juristen
Rüdiger Wolfrum. Auch im Entwurf der Grundrechtecharta der EU ist
nur das reproduktive, nicht aber das therapeutische Klonen als technische
Grundlage der Stammzellgewinnung verboten.
Mit dem als "Honolulu-Technik"
bekanntem Verfahren ist es Anfang August den australischen Wissenschaftlern
Peter Mountford und Megan Munsie des Biotech-Unternehmens Stem Cell Sciences
gelungen, aus klonierten Körperzellen von Mäusen embryonale Stammzellen
zu gewinnen und daraus Nerven- und Muskelzellen zu züchten. Erweisen
sich diese Versuche als reproduzierbar, ist das Tor zum therapeutischen
Klonen menschlicher Embryonen weit und wahrscheinlich unwiderruflich geöffnet.
Stem Cell Sciences ist übrigens die Firma, die "irrtümlich" vom
Europäischen Patentamt Ende 1999 jenes Patent (EP 695 351) auf das
Klonen von Menschen erhalten hatte, das nach Aufdeckung des Skandals durch
Greenpeace unter dem massiven öffentlichen Druck revidiert werden
musste.
Autonomie als Phantom
Die In-vitro-Fertilisation,
ursprünglich als Hilfe bei Sterilität durch verwachsene Eileiter
entwickelt, hat sich in kürzester Zeit von ihrem originären Zweck
entfernt. Als großer Schritt in Richtung auf eine legitime Freiheit
der Frau, wurde sie gepriesen, als Befreiung der Frau und nebenbei als
Garant für eine "bessere medizinische Wartung des Fötus", als
Überwindung der Poesie einer Schwangerschaft "wie zu Großmutters"
Zeiten (Jean-Louis Touraine, Medizinprofessor, Das Kind außerhalb
der Fruchtblase). Die scheinbar neu gestärkte Autonomie der Frau
wurde aber in Wirklichkeit schrittweise unterlaufen und schließlich
pervertiert: Die Frau, als Erfüllungsgehilfin missbraucht für
das "soziokulturelle Projekt" des fehlerfreien Kindes nach Maß (Sigrid
Graumann).
Die Biodiktatur der "Normalisierungsgesellschaft"
im Foucaultschen Sinne fordert ihren Tribut. Sie relativiert die Autonomie
der Frau oder des Paares, die in diese Selektionstechnik einwilligen, bis
zum inhaltslosen Phantom. Was als individuelle, verantwortlich und selbstbestimmt
getroffene Entscheidung imponiert, ist in Wahrheit vielfach das Diktat
gesellschaftlicher Lebenswertzuschreibungen. Diese "neue Eugenik", so der
französische Reproduktionsmediziner Jacques Testart, ist "nützlich,
schmerzfrei und effizient". Man kann hinzufügen: sie ist lautlos,
unanschaulich und hinterlässt, anders als die Spätabtreibung,
keine schmutzigen Hände.
Die nostalgische Idee, Fortpflanzung
diene der Fortpflanzung, ist zur Karikatur geworden. Am Ende von Selektion
und verbrauchender Embryonenforschung pflanzt sich nichts mehr fort, das
Ganze mündet aus in den verhinderten Menschen oder in Bereicherung
von Grundlagenforschung. Im philosophischen Diskurs wird Selektion verniedlicht
zur Kränkung der Lebenden und gefragt, "ob eine Erleichterung von
Selektion insgesamt mehr Leiden verhindert, als es durch Kränkung
hervorruft, und mehr Freiheit der Lebensgestaltung ermöglicht, als
es durch neu entstehenden sozialen Druck mindert" (Dieter Birnbacher).
Einen Vorgeschmack auf die
Zukunft unserer Kinder gab die Konferenz Humans and Genetic Engeneering
in the New Millenium 1999 in Kopenhagen. Im Jahre 2025 werden, so Joseph
F. Coates, 65% der Kinder genetisch versorgt sein (genetic serviced), 95%
wegen Krankheiten oder Störungen und 5% zur "Verbesserung" (enhancement).
Bei 12% der Eingriffe wird die Keimbahn verändert.
Der Genetiker Lee Silver
hat bereits zwei Typen von "enhancement" kategorisiert. Beim Typ I wird
der Embryo mit einem Gen versorgt, das andere Menschen natürlicherweise
besitzen. Beim Typ II findet die Versorgung mit einem Gen statt, das es
bisher beim Menschen noch nicht gegeben hat. In Zukunft, so die Prophezeiung
Silvers, werden die Optionen der Fortpflanzungsmedizin schrankenlos sein:
Für jede Person, gleich welchen Geschlechts und welchen Alters, wird
es möglich sein, ein genetisch verwandtes Baby zu haben, alleine oder
mit jeder Person, gleich welchen Geschlechts und welchen Alters.
Das Embryonenspiel
Das Embryonenspiel erweist
sich als Spiel ohne Grenzen. Embryonen lassen sich nutzen und züchten,
biopsieren und verwerfen, beforschen und entsorgen, tieffrieren und auftauen,
selektionieren oder als Zelllinien immortalisieren, via Internet verkaufen
oder in Rückrufaktionen ungeschehen machen. Nach Auskunft des Pariser
Gesundheitsministeriums lagern zurzeit in französischen Labors und
Reproduktionskliniken etwa 54 000 tiefgefrorene Embryonen, die aufgetaut
und wieder zum Leben erweckt, im mütterlichen Körper zu Kindern
heranwachsen könnten.
Für ein Drittel dieser
"Gefrierfachwaisen"gibt es kein "Elternprojekt" mehr, weil die Erzeuger
den Kinderwunsch aufgegeben haben. Nach einer Empfehlung des Conseil d’Etat,
des höchsten Verwaltungsgerichts Frankreichs, ist die Nutzung dieser
"Frühwaisen" zu Forschungszwecken zu erwägen. Aufgestockt werden
könnte dieses Kontingent noch um schätzungsweise 300 000 "überzählige"
Embryonen pro Jahr, die bei künstlichen Befruchtungen anfallen. Verbrauchende
Embryonenforschung als ad absurdum geführte "Reproduktions-Medizin":
Menschenzeugung, die nicht mehr in die Fortpflanzung ausmündet.
Der Akt der geschlechtlichen
Vereinigung, wenn er lediglich als physiologischer Vorgang, der der Fortpflanzung
dient, verstanden wird, ist externalisierbar in eine Retorte, die Embryonalentwicklung
lokalisierbar in einen künstlichen Uterus. Wenn dieser Akt aber die
Konstituierung eines neuen Lebens ist, ausgerichtet auf eine neue Person,
fühlend und denkend und einmalig, wenn Zeugung so verstanden wird,
dann ist die Auslagerung dieses Ortes von höchster Intimität
in ein Reagenzglas Signum einer "menschenleer" gewordenen Medizin. Fortpflanzung
ist zur asexuellen Praktik degeneriert, ist steril geworden. Es gäbe
nichts Obszöneres, schreibt die französische Psychoanalytikerin
Monette Vacquin in ihrem Buch Die Geburt ohne Frau, "...als jene
Unbeflecktheit, die man in unnatürlichen experimentellen Kreuzungen
oder in der Keimfreiheit des Labors sucht."
Unerträglichkeit
So weist die Reproduktionsmedizin
paradigmatisch ethisch fragwürdige Züge auf, die in Medizin und
Biowissenschaften, zunehmend dominieren. Ihre Begründungen basieren
auf einer konsequenzialistischen Ethik. Biogenetischer Determinismus bildet
ihr gedankliches Fundament. Ihre Mechanismen wirken vorwiegend manipulativ
nach der Losung: Die Welt ist alles, was manipulierbar ist (Guillaume Paoli).
Die Instrumentalisierung des Menschen wird zur Methode. Sie reduziert ihn
zum Konsumgut oder Kunden (Embryo/Paar). Die Eigendynamik der Fortpflanzungsmedizin
wird als unvermeidlich und unaufhaltsam verkündet. Ethische Kollateralschäden
gehören zum Handwerk.
Indem die Reproduktionsmedizin,
abweichend von ihrem originären Ziel, ständig ihre Indikationen
erweitert und sich Anwendungsfelder sucht, für die primär kein
Bedarf bestand, wird sie zum Modell der Krise der Ziele einer ungezügelten
Technologie. Die Maßlosigkeit einer Technologie wird spätestens
dort unerträglich, wo sich ihre primäre Zielsetzung pervertiert,
wo ihre ursprüngliche Absicht lebensschöpfend zu wirken, sich
gegen das Leben kehrt, wo die Voraussetzung für die Entstehung menschlichen
Lebens die Selektion und Vernichtung von menschlichem Leben ist.
Was auch in der Fortpflanzungsmedizin
erkennbar wird, ist das elementare Trauma der modernen Biowissenschaften
schlechthin: ihre Unfähigkeit, den Menschen in seiner Unvollkommenheit
und Endlichkeit anzunehmen.
Hier ist die Quelle aller
Utopien, des zwanghaften Drangs, der Evolution in den Arm zu fallen, der
verzweifelten Anstrengungen dem Sterbenmüssen zu entkommen, in dem
der menschliche Geist als unsterbliche Software auf monströse Festplatten
heruntergeladen werden soll oder seine eigene Überwindung in humanoiden
Megamaschinen provoziert (Ray Kurzweil). Selektion, "betterment" und gierige
Eingriffe in die Keimbahn erscheinen dann als nahezu hysterische Abwehrreaktion
auf diese vermeintliche Kränkung. Hier liegt auch der Grund, warum
es sich schon im Ansatz um Versagenstechniken handelt.
Ein Gesetz als Glücksfall
Aber war da nicht noch etwas
im Roulette embryonaler Möglichkeiten? Tatsächlich: Noch kommen
manche dieser Geschöpfe durch. Manche schaffen es, die embryologische
Rennstrecke von neun Monaten zu überwinden, alle Hürden zu nehmen:
Präfertilisationsdiagnostik und Präimplantationsdiagnostik, Amniozentese
und Zottenbiopsie, Triple-Test, Nackenfaltenmessung und den Big-Brother-Blick
unablässiger Visualisierungen im Ultraschall. Sie wagen den Ausbruch
aus der Einkreisung durch Reprofachleute, Zellforscher und Stammzellenjäger.
Irgendwo, ganz im Hintergrund ist vielleicht sogar ein Elternpaar auszumachen,
sprachlose Statisten, noch unverzichtbare Rudimente der Evolution.
Aber die Elternidee steht
bereits zum Ausverkauf an: Die rigorosesten Vordenker haben die sogenannten
primordialen Keimzellen abgetriebener Feten im Visier. Gelänge es,
diese zur Totipotenz zu programmieren (aus totipotenten Zellen ist die
Entwicklung ganzer Organismen möglich), wären menschliche Geschöpfe
denkbar, deren genetische Eltern nie gelebt haben.
Das deutsche Embryonenschutzgesetz
schreibt diesen "Zellhaufen", die am Anfang allen menschlichen Lebens stehen,
eindeutig Menschenwürde zu. Nicht anders das Bundesverfassungsgericht
mit der Feststellung: "Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten
potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu
begründen." (BverfGE 39,41).
Dieses Gesetz ist bei all
dem ethischen Zwielicht, das auf der Fortpflanzungsmedizin liegt, in seiner
Eindeutigkeit kein Hindernis, sondern ein Glücksfall. Nicht seine
Aufweichung ist geboten, sondern die gelassene und kluge Auseinandersetzung
mit den Optionen, die eine rasend gewordene Fortschrittsbesessenheit pausenlos
in unser Bewusstsein zu projizieren versucht.
Der Köder der Utopie
(Hans Jonas) ist heute von stärkerer Suggestivkraft denn je. Die Währung,
in der der Preis für das blinde Ausstellen ethischer Blankoschecks
auf die Zukunft eingefordert wird, darf nicht die Instrumentalisierung
menschlichen Lebens in seiner frühesten, besonders schutzbedürftigen
Phase sein.
Geisler, Linus S.: Ist das
ein Mensch? In der Fortpflanzungsmedizin kulminieren nahezu alle ethischen
Probleme der Biotechnologie. |
Frankfurter Rundschau, 09.09.2000,
Nr. 210, S/R/D, S. 9 (Dokumentation) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0009fr_mensch.html |
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