Vieles machbar
- aber nicht alles bezahlbar
Explodierende
Kosten im Gesundheitssektor
von
Linus S. Geisler
Folgt
man den Visionen der neuen Extremwissenschaftler, den "rocket scientists",
dann wird in wenigen Jahrzehnten der Mensch unsterblich sein und der Begriff
"Lebenserwartung" seine Bedeutung verloren haben. 2019 werden die Computer
den Turing-Test bestehen, also wie menschliche Wesen in einem beliebigen
Gespräch agieren, ohne dass sie als Computer erkennbar werden. Spätestens
im Jahr 2030, so Ray Kurzweil, Professor am MIT und der Autor des Buches
"Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert", werden Rechner die menschliche
Intelligenz überrundet haben. Nanotechnologisch minimalisierte Computer,
sogenannte "Nanobots", werden ins Gehirn geschleust, das sie exakt kopieren
- kognitive Fähigkeiten ebenso wie Emotionalität.
Der
Mensch überlebt für alle Zeiten als herunterladbare Software,
als "mind-file" und stirbt nicht mehr am Zusammenbrechen der vergänglichen
Hardware "Gehirn". Im Jahr 2099 wird es maschinelle "Entsprechungen" des
Menschen geben, die softwareresistent und eine Art digitaler Garantie seiner
Unsterblichkeit sein werden. Freilich, so räumt Kurzweil ein, existieren
dann auch noch ein paar Individuen, die "kohlenwasserstoffbasierte Neuronen"
- sprich das gute alte Gehirn - benutzen, quasi Dinosaurierexemplare der
Spezies Homo sapiens. Die komplexen ethischen und rechtlichen Implikationen
dieses von Menschenhand gesteuerten Evolutionssprungs werden wahrscheinlich
nur die softwareresistenten Entsprechungen selbst lösen können
- wenn es dann überhaupt noch Wertekategorien gibt, die mit heutigen
ethischen Normen entfernt etwas zu tun haben. Auf die Frage nach der ökonomischen
Basis bleibt Kurzweil die Antwort schuldig. Etwa zum gleichen Zeitpunkt,
an dem Computer die Rechenleistungen aller menschlichen Gehirne zusammen
übertreffen werden, könnte eine ganz andere Vision Realität
werden, die am ehesten den Namen "Horrorszenario" verdient. Folgt man den
jüngsten Prognosen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
(DIW), wird der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit
13,5 Prozent bis zum Jahr 2040 auf 23,1 Prozent angestiegen sein. Schon
2015 werden sich nach Hochrechnungen der "Klinikstudie 2015" der Frankfurter
Unternehmensberatung Arthur Andersen die Kosten im Gesundheitswesen knapp
vervierfacht haben: statt 500 Milliarden jährlich 1,9 Billionen Mark.
Eine gesetzliche Krankenversicherung wird dann praktisch nicht mehr existieren.
Sterbehilfe-Diskussion
Der
Staat gewährt allenfalls eine "Basisversorgung auf niedrigem Niveau"
- für das Gros der Rentenempfänger und Alten die einzige gesundheitliche
Absicherung. Hinter vorgehaltener Hand wird über "sozialtechnische"
Lösungen nachgedacht, auch über "gelenkte Sterblichkeit". Nur
am Rande: Wer garantiert, dass die Sterbehilfe-Diskussion davon unbeeinflusst
verläuft? Dass sich das auf Vertrauen basierende Arzt-Patienten-Verhältnis
der guten alten Zeit unter dem ökonomischen Druck wandelt, scheint
kaum abwendbar. Schon heute ist mehr von "Kunden" als von Patienten, von
"Leistungen" als von ärztlichem Engagement die Rede. Der Umgang zwischen
Arzt und Patient wird berechnender in jedem Sinne. Voraussehbar ist ein
nüchterner Umgang zwischen aufgeklärten "Health-Care-Consumers"
und "Leistungserbringern".
Das
therapeutische Handeln bestimmen Managementsysteme und betriebswirtschaftliches
Kalkül. Wer auf "Patientenautonomie" als steuerndes Element in der
Allokation immer knapper werdender Ressourcen setzt, sollte bedenken, dass
die Aufklärungslast für Patienten ebenso begrenzt ist, wie ärztliche
Belastbarkeit durch aufgeklärte Patienten, deren Wissen auf den neuesten
Downloads aus dem Internet basiert. Das verschmähte Reizwort "Rationalisierung"
ist bereits jetzt Realität im klinischen Alltag. Interessant ist die
Ursachenanalyse des DIW für die Kostenexplosion. Danach spielt der
demographische Faktor, sprich die erwartete Alterung der Bevölkerung,
eine vergleichsweise moderate Rolle. Was die Kosten in erster Linie in
die Höhe treibt, ist der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt.
Die neu ins Leben gerufene Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und
Ethik der modernen Medizin", wird nicht umhin können, bei den vielfältigen
Problemen, die zur Klärung anstehen, diese Aspekte nicht aus dem Blickfeld
zu verlieren. Zu ihren Aufgaben zählt auftragsgemäß auch,
"dass sie Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung entwickelt,
die das unbedingte Gebot zur Wahrung der Menschenwürde beinhalten".
Eine
Medizinethik, die der Mittelverschwendung, die aus ungesteuertem Fortschrittsfanatismus
resultiert, nicht entgegenwirkt, läuft Gefahr, ihre Legitimation einzubüßen.
Neben der Frage, wie viel Fortschritt der Mensch verträgt, taucht
zumindest gleichwertig die Frage auf, wie viel ökonomische Zwänge
der zukünftigen Medizin aufgebürdet werden können, wenn
verbriefte Patientenrechte und tradierte ärztliche Kodizes noch Bestand
haben sollen. Eine Medizin, die einerseits ungehemmt Szenarien von Unsterblichkeit
und Nichtmehr-Altern entwirft, auf der anderen Seite als Folge ökonomischer
Entwicklungen, die auch aus einer ethisch aus dem Ruder laufenden Fortschrittsdynamik
resultieren, eine gewisse Verkürzung der Lebenserwartung in Kauf nimmt,
befindet sich in einer tiefen Sinn- und Identitätskrise. Ihre Zukunft
wird wesentlich davon abhängen, wie weit ihr ein gesellschaftlich
akzeptabler Klärungsprozess gelingt.
Geisler, Linus S.: Vieles
machbar - aber nicht alles bezahlbar.
Das
Parlament, 11./18.08.2000, Nr. 33-34, S. 4 (Zukunft - Perspektiven für
das 21. Jahrhundert) |
Artikel-URL:
http://www.linus-geisler.de/artikel/0008parlament_zukunft.html |
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