Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: NEUES VOM NEUEN MENSCHEN. BLÄTTER FÜR DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK. Heft 8/2000
Download / Druck: PDF-Version (14 kb) PDF-Version
Neues vom neuen Menschen

"Heute lernen wir die Sprache, in der Gott Leben schuf", sagte Bill Clinton während der Pressekonferenz im Weißen Haus am 26. Juni, bei der die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes durch Craig Venter (Celera Genomics) und Francis Collins (Human Genome Project) vorgestellt wurde. So großartig der Satz klingt, so unrichtig ist seine Aussage. Die Buchstaben, besser die Hieroglyphen des "Buch des Lebens", das achthundert mal größer als die Bibel ist, sind zwar erfasst. Um aber die Sprache und Syntax vollständig zu verstehen, bedarf es noch eines Steins von Rosette - und der lässt sich nicht irgendwo am Wegrand der Genomforschung finden und von einem modernen Jean François Champollion enträtseln. Weltweit werden Teams von Forschern diese Aufgabe lösen müssen, die noch viel Zeit und Geld erfordert. Das Zeitalter der "Postgenomics" ist eben erst angebrochen, die Büchse der Pandora noch verschlossen.

Dennoch, die - wissenschaftlich gesehen fraglos epochale - Tat wird nahezu unisono gerühmt: ein einzigartiges Geschenk für die Menschheit, eine Erfindung bedeutender als die des Rades oder des Feuers, gewaltiger als das Apolloprojekt, ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte. Besonnenere Köpfe, die den Vergleich mit dem Bau der ersten Atombombe nicht scheuen, schätzen das Risikopotential als weitaus größer und der Qualität nach schwerer bestimmbar ein. Aber Zukunftsprognosen sind, wie uns das Poppersche Theorem lehrt, fragwürdig, weil wir nicht wissen können, was wir dereinst wissen werden, sprich: wie das zukünftig Machbare aussehen und welche Folgen es haben könnte. Abgesehen davon erleben wir vermehrt, wie sehr wir dem ausgeliefert sind, was das Machbare mit uns macht.

Die Euphorie, die am Anfang jeder überwältigenden Errungenschaft steht, funktioniert wie eine gigantische Lupe, die jede zarte Hoffnung zu einer überdimensionalen Gewissheit vergrößert. Am Horizont taucht, scheinbar zum Greifen nahe, die Überwindung von Krebs, Aids und Alzheimerkrankheit auf. Der Humangenetiker John Harris, Berater von Tony Blair in Fragen der Gentechnik, hält eine durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen von langfristig 1200 Jahren für erreichbar. Die Spekulation, mithilfe des Enzyms Telomerase die Endstücke der Chromosomen, die für die Lebensdauer bestimmend sind, wieder zu verlängern, erweist sich mittlerweile als ein zwiespältiges Unterfangen: Im Überschuss gebildete Telomerase scheint die bösartige Entartung von Zellen zu fördern. [1]

In den USA spezialisieren sich bereits Unternehmen wie Life Tree Technologies darauf, Gewebeproben soeben Verstorbener für eine spätere "Wiedergeburt im Reagenzglas" tiefzufrieren und mindestens 25 Jahre aufzubewahren. Der perfekte neue Mensch durch Manipulation der Keimbahn (Gregory Stock) avanciert zur Vision, deren Einlösung die Molekularbiologie vorgibt. Am Ende des Genzeitalters, so der Kritiker Jeremy Rifkin, beschert das gesündeste Kind, das man sich für Geld kaufen kann, die ultimative Einkaufserfahrung der Zukunft. Selbst die hoch renommierte Zeitschrift "Science" hat sich vor kurzem auf das verminte Feld der Verhaltens-Genetik vorgewagt, indem sie über die baldige Entschlüsselung von Genen für Arbeitslosigkeit, soziale und häusliche Gewalttätigkeit oder Drogenabhängigkeit berichtete. Bei allen bisherigen Innovationen galt freilich regelhaft der Nestroysche Aphorismus über den Fortschritt: "daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist".

Nachdenklicheren - Peter Glotz würde sie vielleicht zu den Entschleunigern zählen - fällt es nicht ganz so leicht, sich von der globalen Hochstimmung mitreißen zu lassen. Wer wird, wenn das Buch des Lebens eines Tages wirklich entschlüsselt vorliegt, den uralten Text lesen? In welchem Sinne, mit welchem Bild vom Menschen? Mit welchen Absichten? Die vielversprechende Konstellation von New Economy gepaart mit New Science - wird sie sich als Heilige Allianz der Globalisierung erweisen oder stellt sie lediglich die Weiterentwicklung einer Verfilzung dar, wie der Genetiker Richard C. Lewontin [2] unmissverständlich formulierte? "Ich kenne keinen prominenten Molekularbiologen, der nicht finanzielle Interessen in der Biotechnologie-Industrie hätte."

Das Geld ist da, konstatiert Friedrich von Bohlen und Halbach [3], es fehle nur das rechte gesellschaftspolitische Bekenntnis, um es sinnvoll auszugeben. Wirklich? Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (ein "großer Tag für die Forschung") stellt eine Mittelerhöhung für die Humangenetikforschung im Jahr 2001 um satte 50% in Aussicht. Die Bundesregierung lädt zu einem Gen- und Biotechgipfel nach Berlin ein, mit dem Ziel "die verantwortbaren Innovationspotenziale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterzuentwickeln und zu nutzen". Aber lässt sich aus der Perspektive des "Wirtschaftsstandorts Deutschland" all das erfassen, was an ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen auf die Menschheit zukommt? Das Ringen um die Umsetzung der Richtlinie der Europäischen Union zum "Schutz biotechnologischer Erfindungen" (Richtlinie 98/44/EC) in nationales Recht läuft auf Hochtouren. Sie lässt kaum noch eine Grenze zur Patentierung der belebten Natur erkennen, seien es Gene oder menschliche Embryonen. Patentämter seien keine Ethikkommissionen, belehrt uns der Patentrechtsexperte Joseph Straus - allerdings dürfe sich ihr Wirken nicht in einem ethikfreien Raum abspielen.

Versteht man "kritisch" als neutrales Bemühen um das Richtige, können jene Stimmen, die eine "wohl wollend kritische" Begleitung der Genforschung propagieren, nicht als unbefangen interpretiert werden. Bleibt zu hoffen, dass die intensiven Warnungen und Interventionen der jüngst ins Leben gerufenen Enquête-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" vor tief gehenden Eingriffen in die genetische Integrität des Menschen nicht ohne Wirkung auf politische Entscheidungen - auch auf europäischer Ebene (Grundrechte-Charta, EU-Biopatent-Richtlinie) - bleiben.

Suggeriert man der Gesellschaft nur lange genug die Utopien eines leidfreien Lebens in Unsterblichkeit, erliegt sie schlussendlich der normativen Kraft des Utopischen. Solange beispielsweise Fernsehsendungen mit dem kleinwüchsigen Jazzpianisten Michel Petrucciani von den Zuschauern als Zumutung empfunden werden, bleibt die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Behindertsein in diesem Land wohl ebenfalls Utopie und wird Selektion von behindertem Leben, zum Beispiel durch Präimplantationsdiagnostik, über kurz oder lang Realität.

Die beiden großen Kirchen hier zu Lande argumentieren - wie so oft - zwiespältig. Von der Aussicht "gewisse Krankheiten zu überwinden" ist die Rede, aber auch von dem großen "Risiko, dass Menschen in Zukunft von vornherein nach ihren Genen bewertet werden". Gewarnt wird vor Menschenbildern, in denen Menschen nur als "anonyme Nummern, Kostenfaktoren und Manövriermasse" vorkämen. Eines ist sicher: Die Egomanie einer Spaßgesellschaft dürfte nicht den schlechtesten Nährboden für einen rigorosen Utilitarismus bieten. Die alten diffusen Ängste vor "der Gentechnik" scheinen sich ohnehin zu verflüchtigen. Fast 70% der Deutschen befürworten inzwischen Gentests und die gentechnische Herstellung von Medikamenten, jeder Zweite das Klonen von menschlichen Zellen zu therapeutischen Zwecken.[4] Freilich weiß der Durchschnittsbundesbürger kaum, was braune (Bakterien), grüne (Pflanzen) oder rote (Menschen und Tiere) Gentechnik bedeutet.

"Vergiftetes" Wissen

Die Euphorie der Forscher klammert, offensichtlich nicht ohne Absicht, wesentliche Grundlagen des Menschseins aus. In den plakativen, im Grunde aber längst überwundenen Formeln bleibt der Mensch auf seine Gene reduziert. Bedenkt man die Vielfalt der Lebewesen und ihre geringen genetischen Differenzen (1,5% zwischen Menschen und Primaten), zeigt sich die Brüchigkeit dieser Position. Die Reduktion der Komplexität des Menschen auf sein Genom blendet die entscheidende Seite des Menschseins aus und beinhaltet grausame Handlungsspielräume, betrachtet man die manipulativen Möglichkeiten, die die Genforschung der Zukunft bereithält. Umgekehrt wird deutlich, dass die Sloterdijkschen Anthropotechniken als Surrogat eines defizitären Humanismus a priori als Versagenstechniken einzustufen sind.

Der Mensch ist enträtselt, lesen wir. Aber nach dem alten Prinzip, dass mit neuem Wissen stets das Unwissen wächst, ist das Rätsel "Mensch" durch die Entschlüsselung seines Erbgutes wieder größer geworden. Das war schon in der Antike bekannt: die zahllosen Versuche, das Götterbild von Sais im alten Ägypten zu entschleiern, führten zu der Erkenntnis, dass das einzige Geheimnis des verschleierten Bildnisses ein verschleiertes Bild war. Aber Demut ist keine Tugend moderner Forscher.

Das Wissen über das Erbgut des Menschen ist dank Craig Venter und der Human Genome Organisation (HUGO) gewaltig angewachsen - und damit auch ein vernünftiges Potenzial an therapeutischen Hoffnungen für die Medizin der Zukunft entstanden; zum Beispiel die Entwicklung wirksamer, individuell angepasster Medikamente gegen die großen Menschheitsplagen. Heute hätten wir nur Durchschnittsmedizin für Durchschnittspersonen, sagt Bill Castell vom Gentechnologiekonzern Nycomed Amersham Plc, "morgen werden wir personalisierte Medizin für jedes Individuum haben". Der Zeitrahmen für derartige Innovationen dürfte 20 bis 30 Jahre umfassen, ihre Finanzierung aber ist bislang offen. Fest steht nur, dass sie bei der explosionsartigen Vermehrung der Kosten im Gesundheitswesen - viel mehr durch den Faktor Fortschritt als durch demographische Einflüsse bedingt - nicht mehr allen zugute kommen werden; ganz zu schweigen von den Ländern in der Dritten Welt. Die dortigen großen gesundheitlichen Probleme sind ohnehin anders gelagert und kaum durch gentechnologische Methoden zu lösen; unsauberes Wasser stellt einen der wichtigsten krankheitsverursachenden Faktoren dar. Das Versprechen der Genomforscher, eine "individualisierte Medizin" mit besser wirksamen Arzneimitteln auf der Basis neuer Erbinformationen werde billiger sein, ist mit Skepsis zu bewerten und könnte eine ganz andere Bedeutung bekommen: verfügbar für einen privilegierten Personenkreis.

Die somatische Gentherapie, bisher eine der großen Enttäuschungen der Gentechnik, könnte, falls man ungefährliche "Genfähren" findet, monogenetisch bedingte Erbkrankheiten verhindern. Viel häufiger treten jedoch polygenetische Krankheiten auf, bei denen gleichzeitig mehrere Gene "defekt sind; hierzu zählen etwa bestimmte Formen der Zuckerkrankheit. Wesentlich öfter kommen multifaktorielle Erkrankungen vor, bei denen stets Gendefekte und Umweltfaktoren zusammenwirken; dies gilt beispielsweise für die meisten Krebsarten, Asthma oder auch Schizophrenie. Die Risiken der somalischen Gentherapie lassen sich bei weitem nicht überblicken, Todesfälle sind bereits dokumentiert. Die "Washington Post" berichtete im Mai diesen Jahres von 691 Meldungen amerikanischer Genforscher über schwerwiegende Probleme als Folge gentherapeutischer Experimente.

Utopisch ist die Hoffnung, durch genetic engineering menschliches Leben frei von Behinderung gestalten zu können. Die Ursachenanalyse belegt, daß 95% aller Behinderungen durch Einflüsse entstehen, die nach der Geburt wirksam wurden, von den restlichen 5% lassen sich allenfalls die Hälfte ursächlich auf einen genetischen Defekt zurückführen, davon gilt aber nur ein Bruchteil als entschlüsselt.

Menschliche embryonale Stammzellen werden bereits als der "Joker des Lebens" gehandelt, ein unerschöpfliches Füllhorn, aus dem sich beliebige Zellverbände, Gewebe und vielleicht sogar menschliche Organe werden züchten lassen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 verbietet bei uns die Gewinnung von embryonalen Stammzellen, weil es sich hierbei um eine Verwendung von Embryonen zu anderen Zwecken als zu ihrer Erhaltung handelt.

Nach Aus- und Umwegen wird dringend gesucht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) will im Rahmen eines Schwerpunktprogramms menschliche embryonale Stammzellen aus den USA importieren, die von "überzähligen" humanen Embryonen Stammen. Im Gegensatz zu Hubert Hüppe, stellvertretender Vorsitzender der Enquête-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin", erhebt das Bundesforschungsministerium keine grundsätzlichen rechtlichen Einwände. Deutschland eine "Insel der Seligen" für die Stammzellforschung, die das "schmutzige Geschäft" dem Ausland überlässt? [5]

Das Wissen um das genetische Schicksal des einzelnen Menschen explodiert. Doch solange aus diesen Erkenntnissen keine Behandlungschancen resultieren, bleibt es "vergiftetes" Wissen. Die Schicksale von Frauen, die sich als Trägerinnen der erblichen BRCA-2-Genmutation ("Brustkrebs-Gen") vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, obwohl über 80% der Genträgerinnen mit 50 Jahren noch gesund sind, geben einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer derartigen unbarmherzigen Wissensbürde. Der Weg zum "heilenden" Wissen dürfte lang und steinig sein. "Now comes the hard work", lautet die Prognose des Bostoner Stammzellenforschers Jeffrey Macklis, und Anders Björklund, einer der Pioniere der Parkinson-Behandlung mit embryonalen Hirnzellen, warnt seine Kollegen: "Don't promise too much too early!"

Mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes sind Gesellschaft und scientific community wieder einmal mit einem Forschungsresultat konfrontiert, das paradigmatisch Züge trägt, die den Ergebnissen der modernen Biowissenschaften mehr und mehr zueigen sind: ethische Ratlosigkeit. Vielleicht sollte der Lektüre des Buchs des Lebens der Versuch vorangehen, eine ethische Grammatik zu finden.

Dieses Unterfangen erfordert Mut und Gradlinigkeit. So wären bereits zu Anfang der ethischen Konsensfindung klare Grenzen aufzuzeigen, einen Rubikon, den die Wissenschaftler keinesfalls überschreiten dürften. Doch Mut allein reicht nicht, wenn er nicht mit einer hohen persönlichen Verantwortung assoziiert ist. Die notwendigen Regeln sind einfach und klar:

  • Genetische Diagnostik nur soweit sie therapeutische Implikationen beinhaltet, auf keinen Fall, wenn sie zur Diskriminierung beiträgt. Das Recht auf Nichtwissen muss garantiert sein.
  • Somatische Gentherapie, wenn die Risiken tolerierbar sind und eine indirekte Erbgutmanipulation ausgeschlossen bleibt.
  • Arzneimittelforschung mit dem Ziel genetisch "maßgeschneiderter" Wirkung, falls sich dieser Weg als echter und für alle verfügbarer Fortschritt herausstellt.
  • Unter keinen Umständen: Forschung an Embryonen, reproduktives Klonen und Manipulation der Keimbahn.
  • Die Patentierung von Lebewesen und "biologischen Materialien" (Genen, Geweben, Organen) muss tabu bleiben. 
Niemand kann ausschließen, dass sich eines Tages diese Regeln als änderungsbedürftig erweisen. Sicher aber dürfte sein, dass eine Politik, die die Einhaltung dieser Prinzipien garantiert, das ihre getan hat, um die Gefahr des Abgleitens auf einer ethisch schiefen Ebene so gering wie möglich zu halten. Das beinhaltet neben Forschungsförderung möglicherweise auch den Verzicht auf verlockende Forschungsziele. Genau dies meint der prominente französische Reproduktionswissenschaftler Jacques Testart, wenn er postuliert: "Ich plädiere für eine Logik der Nichterfindung, für eine Ethik der Nichtforschung." [6]
 
 

[1] Vgl. Jing Wang, Gregory H. Hannon und David H. Beach, Cell Biology, in: "Nature", 15.6.2000, S.755.
[2] The Dream of the Human Genome, in: ders., (Hg.), Biology as Ideology, New York 1993, S.61-83.
[3] Chef des Heidelberger Bio-Informatik-Unternehmens Lion Bioscience.
[4] Europäische Kommission, European Opinions on Modern Biotechnology, Eurobarometer 46.1, Brüssel 1997.
[5] So jüngst der Heidelberger Jurist Rüdiger Wolfrum.
[6] Jacques Testart, Das transparente Ei, Frankfurt a. M. 1988.
 

Geisler, Linus S.: Neues vom neuen Menschen.
Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2000 -Monatszeitschrift- 45. Jahrgang, Heft 8/2000
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0008blaetter_neues.html

© beim Autor
Start  <  Artikelübersicht  <  dieser Artikel