Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: "DIE LIEBE VERKÜMMERT"  - Wohin steuert die Hightech-Medizin? DER SPIEGEL vom 17.04.2000
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SPIEGEL-GESPRÄCH

"Die Liebe verkümmert"

Wohin steuert die Hightech-Medizin? Internist und Bioethiker LINUS GEISLER befürchtet Fehlentwicklungen. Sein Fazit: Die Tante-Emma-Praxis ist tot, der Mensch bleibt sterblich und das Medizinsystem unersättlich.

[IMAGE] Der Internist Professor Linus Geisler, 65, aus Gladbeck war viele Jahre Chefarzt eines großen regionalen Krankenhauses. Als Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer Nordrhein sowie bei Anhörungen des Bundestagsausschusses zur Transplantationsgesetzgebung hat er sich kritisch zu Fragen wie Sterbehilfe, Organtransplantation, Gentechnik und Bioethik geäußert.

SPIEGEL: Herr Professor Geisler, "die Zukunft ist das Land der Phantasten", hat der Philosoph Immanuel Kant gesagt. Mögen Sie ein wenig über die Zukunft des Gesundheitswesens phantasieren?

Geisler: Sicherlich ist alles spekulativ, was wir hier sagen. Eines aber, denke ich, kann man mit großer Sicherheit vorhersagen: Wir Menschen werden sterblich bleiben. Die Summe des Leidens wird sich nicht verringern, nur das Spektrum wird sich wandeln. Es werden andere Todesursachen Nummer eins kommen - aber eine Todesursache - Nummer eins wird es immer geben.

SPIEGEL: Gehört es nicht zu den Verheißungen der modernen Medizin, sie werde das Leiden mindern?

Geisler: Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen: Die Summe des Leidens wird zunehmen. Denn in dem Maße, wie die Menschen älter werden, nimmt auch die Zahl derer zu, die chronisch krank werden oder mit irgendeiner Form der Behinderung weiterleben. Die große Menge der Pflegebedürftigen ist ein Produkt der modernen Medizin, und nichts deutet darauf hin, dass dieses Produkt in Zukunft kleiner wird. 

SPIEGEL: Wird sich diese Entwicklung auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auswirken?

Geisler: Unvermeidbar. Es gibt mehrere Faktoren, die das Arzt-Patienten-Verhältnis bestimmen werden. Zum einen: Die Tante-Emma-Praxis ist tot. Die Bezugsperson Arzt, von der ich alles weiß und die von mir alles weiß, existiert nicht mehr. In Zukunft wird die Behandlung immer anonymer und sprachloser werden.

SPIEGEL: Der Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner hat über die ärztliche Profession gesagt, sie sei ein Gemisch aus Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft. Welcher dieser Aspekte wird in Zukunft im Vordergrund stehen?

Geisler: Die Liebestätigkeit wird verkümmern und der Geschäftssinn zwangsläufig florieren. Der Arzt steht in einem nahezu unlösbaren Dilemma: Individuell ist er dem Wohlergehen seines Patienten verpflichtet. Auf der anderen Seite steht er unter einem enormen gesellschaftlichen Druck zu sparen. Diese Zerrissenheit werden die Patienten immer stärker zu spüren bekommen. Zuwendung wird zur Mangelware werden. Der Doktor als "père maternel", als mütterlicher Vater, der zwar sagt, wo es langgeht, aber auch das große Herz der Mutter in sich hat, wird bald eine Figur von gestern sein. Es wird einen sehr rationalen, in jedem Sinne auch berechnenden Umgang zwischen Arzt und Patient geben. 

SPIEGEL: Welchen Einfluss werden Informationstechnologien wie das Internet auf die Arzt-Patienten-Beziehung haben?

Geisler: Der Einfluss wird enorm sein, und die Folgen sind noch gar nicht abzusehen. In den USA gibt es jetzt schon über 20 Millionen
Gesundheitssurfer, die ihren Doktor mit einem Computerausdruck bedrängen und sagen: Da steht das und das, was meinen Sie denn dazu? Die Ärzte, deren Wissen ja oft sehr veraltet ist, wird das zwingen, sich besser fortzubilden. Aber es birgt auch große Gefahren. In der Anonymität des Web gibt es zum Beispiel schon jetzt einen grauen Medikamentenmarkt, ich glaube, allein 90 Web-Seiten, auf denen Viagra angeboten wird, ohne rechte Aufklärung über die Risiken.

SPIEGEL: Auf jeden Fall fördert das Internet die Autonomie des Patienten. Werden Ärzte eines Tages weitgehend überflüssig? 

Geisler: Bestimmt nicht. Das Schlagwort von der Autonomie des Patienten ist für mich Augenwischerei. Denn Autonomie kann nur funktionieren, wenn man das System auch durchschaut, in dem man sich befindet. Dieses System ist aber heute so chaotisch, und Gut und Böse sind so schwer zu unterscheiden, dass es für einen Laien fast unmöglich ist, noch durchzublicken. Ein Beispiel: Schutzimpfung gegen Polio, das konnte jeder noch als "gut" einstufen. Aber wie ist Klonen zu bewerten? Es werden immer mehr solcher ethisch changierenden Techniken angeboten werden. Die Autonomie des Patienten gerät in diesem System leicht zur Abwälzung von Verantwortung. Der "mündige Patient" ist für mich eine Illusion.

SPIEGEL: Schon jetzt können nicht mehr alle medizinischen Leistungen allen Menschen in gleicher Weise zur Verfügung gestellt werden. Wird diese Rationierung in Zukunft noch rigider werden?

Geisler: Wenn in der Entwicklung von neuen Technologien keine ethische Bremse gezogen wird und auf der anderen Seite die Budgets begrenzt sind, gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: dass ein Teil der Leistungen privatisiert wird, dass also nur diejenigen die Leistung erhalten, die sie auch bezahlen können, und dass für den großen Rest rigoros rationiert wird. Ein Denkmodell ist die "Basisversorgung auf niedrigem Niveau". Sie fängt ja schon an, und zwar wie immer bei den Schwächsten. Die Altenpflege zum Beispiel hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Letztendlich läuft das auf eine so genannte gelenkte Sterblichkeit hinaus: Weil die Kosten in den letzten zwei Lebensjahren am höchsten sind, wird eine Verkürzung der Lebenserwartung in Kauf genommen.

SPIEGEL: Wie hat unser ehemaliger Ärztepräsident das genannt: "sozialverträgliches Frühableben".

Geisler: Hier sehe ich die ganz große Schizophrenie unserer Medizin - auf der einen Seite macht sie eine zunehmende Lebensverlängerung möglich und zeigt Szenarios von ewigem Leben, von Nichtmehr-Altern, von Unsterblichkeit. Auf der anderen Seite steuert sie aus ökonomischen Gründen unausgesprochen auf eine gewisse Verkürzung der Lebenserwartung hin. Genau das ist die große Sinn- und Identitätskrise der heutigen Medizin. Solange diese nicht wirklich einem Klärungsprozess unterworfen wird, werden noch dramatische Probleme auf uns zukommen.

SPIEGEL: Wie könnte ein solcher Klärungsprozess denn aussehen?

Geisler: Ein Ansatz, über den man nachdenken könnte, wäre eine breite gesellschaftliche Diskussion, basierend auf einer möglichst großen Transparenz. Und zwar sehr früh, nicht erst wenn die neuen Techniken schon auf dem Markt sind. Man müsste, lange bevor eine Innovation klinik- oder praxisreif wird, prüfen: Können wir sie wirklich allen, die sie brauchen, anbieten? Wenn nicht, sollte diese Technik nicht weiter entwickelt werden. Der französische Reproduktionsmediziner Jacques Testart nannte das eine Ethik der Nichtforschung, eine "Logik der Nichterfindung" ...

SPIEGEL: ... die aber im Kapitalismus nicht funktioniert. Auch könnte jemand, der Geld hat, in ein medizinisches Zentrum nach Kalkutta oder Schanghai fliegen und sich dort applizieren lassen, was er hier nicht bekommt.

Geisler: Ja, diese Schieflage wird es immer geben.

SPIEGEL: Manche setzen aber auch große Hoffnungen in die neuen Technologien, zum Beispiel die Gentechnologie, die die nächsten Jahrzehnte prägen wird. 

Geisler: Es wird sicherlich neue, gut wirksame Arzneimittel geben. Ich bezweifle allerdings, dass sie billiger und auch Menschen in
Entwicklungsländern zugänglich sein werden. Meine größte Skepsis gilt der genetischen Diagnose von Krankheiten und dem manipulativen Zugriff auf die Keimbahn. 

SPIEGEL: Der Genchip, auf dem man 5000 Erbkrankheiten ablesen kann...

Geisler: Das ist der erste Schritt zu einer Selektion. Außerdem wirft es die Frage auf: Was ist eigentlich "Krankheit"? Dass es schwere Erbkrankheiten gibt, die man verhüten möchte, ist klar. Aber was ist mit den Linkshändern? Oder mit den Legasthenikern? Sind das dann noch Gesunde? Oder rücken die schon in eine Grauzone, wo man sie nicht mehr haben will? 

SPIEGEL: Darüber hinaus wird es immer mehr Krankheiten geben, die wir zwar diagnostizieren, aber nicht heilen können.

Geisler: Es werden "unpatients" kommen, die es nicht abwarten können, weil sie die Prophezeiung schon in der Tasche haben, dass sie mit 40 Jahren eine tödliche Krankheit bekommen werden und darauf nur noch warten.

SPIEGEL: Es bleibt aber dabei: Alles, was machbar ist, wird irgendwann gemacht. Man wird keine der Entwicklungen durch Gesetze auf Dauer verhindern können.

Geisler: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Wenn man sich diese "rocket scientists", die Extremwissenschaftler von heute, ansieht, die sich als eine Elite auffassen und sich demokratischer Kontrolle zu entziehen versuchen, dann weiß man: Alles das wird kommen. Sie gehen fast blind für die sozialen und ethischen Folgen ihren Forschungszielen nach.

SPIEGEL: Der Aufwand für die Gesundheit liegt in Deutschland gegenwärtig bei 550 Milliarden Mark pro Jahr. Angenommen, die Summe wird verdoppelt, hätten wir dann ein Niveau erreicht, auf dem wir sagen können: Nun ist es genug, für alle Menschen wird alles Menschenmögliche getan? Oder ist das medizinische System prinzipiell unersättlich?

Geisler: Das Letztere kann ich nur bejahen. Es wird deshalb früher oder später zu ganz dramatischen gesellschaftlichen Spaltungen kommen. Der amerikanische Wissenschaftler Lee Silver zum Beispiel sagt: Es wird eines Tages eine Spaltung in die Gen-Reichen und die Gen-Armen geben. Die einen können sich eine genetische Top-Ausstattung leisten, und die werden dann mit ihren armen, alten Verwandten, die noch alle Erbkrankheiten bekommen, nicht mehr verkehren wollen. Wie das im Einzelnen sein wird, wissen wir heute nicht, aber die gesellschaftliche Spaltung in Reiche und Bedürftige, was die Früchte der Medizin betrifft, ist vorprogrammiert.

SPIEGEL: Herr Professor Geisler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
 

Das Gespräch führten die Redakteure Veronika Hackenbroch und Hans Halter


Geisler, Linus: "Die Liebe verkümmert" - Wohin steuert die Hightech-Medizin?
DER SPIEGEL, Nr. 16, 17.04.2000, S. 176-179 (SPIEGEL-Gespräch)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0004spiegel_interview.html

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