Der Börsenkurs ist das Ziel
Craig Venter und die Entschlüsselung
der menschlichen Gene / Von Linus S. Geisler
Viele Spitznamen hat der
Kollegenneid Craig Venter, dem Chef von Celera Genomics, eingebracht: Bill
Gates der Gentechnologie, Darth Venter (in Anspielung auf Darth Vader,
die Personifizierung des Bösen im Film "Krieg der Sterne"), GenZampano
oder schlicht der Feind. Die Veröffentlichung der Genomsequenz für
die Taufliege Drosophila am 24. März 2000 in Science könnte
ihm den ultimativen Beinamen einbringen: Herr der Fliegen.
Am 6. April konnte Venter
vor dem Untersuchungsausschuss für Energie und Umwelt des Repräsentantenhauses
der Vereinigten Staaten seinen größten wissenschaftlichen Triumph
verkünden: die fast vollständige Entschlüsselung des menschlichen
Erbgutes, Sequenzdaten von mehr als 97 Prozent aller menschlichen Gene.
Eine vergleichsweise kleine Firma in Rockville (Maryland) mit 300 Mitarbeitern
schlägt das Human Genome Project (Hugo), an dem 16 Institutionen aus
den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Japan und China
mit Milliardenaufwand arbeiten, um die möglicherweise entscheidende
Nasenlänge.
Damit scheint Venter seiner
Utopie einer "Zukunft ohne Krankheiten" ein Stück näher gerückt
zu sein. Über seine Motive und Methoden lässt er niemanden im
Dunkel. "Gnadenloser Wettbewerb" herrsche in dem 200-Milliarden-Markt der
Gentechnologie. Seine Warnung ist deutlich: "Dies ist kein Akt der Nächstenliebe,
es ist Business, Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin."
Folgerichtig erreichte Venters Erfolgsnachricht die Scientific Community
auf dem Umweg über die Börsenticker. Der Kurs ist das Ziel.
Craig Venter, der Antiheld,
trägt Spott und Anfeindung mit Gelassenheit. James Watson, Entdecker
der Doppelhelix, vergleicht Venters frühe Sequenzierkünste als
Arbeit, die "jeder Affe" schaffen könne. Das Resultat gleiche dem
Schreddern von Lexika zu unsortierten Schnipseln, so ein Genom-Forscher.
Bei Venters Sequenzierungsmethode sei jeder 100. Buchstabe falsch, im Hugo
nur jeder 10 000. "Vor allem Kurspflege", so DFG-Präsident Winnacker,
betreibe Celera. Venter, der auf über 6500 Patentanträge zurückblickt,
versichert, er wolle weder das menschliche Genom noch irgendwelche Chromosomen
patentieren. Im Internet will er, wie Hugo, die gesamte menschliche Genomsequenz
allen Forschern gratis zu Verfügung stellen. Patentiert werden sollen
nur 100 bis 300 erstmals isolierte Gene, die zur Behandlung von Krankheiten
wichtig sind, d. h. das Filetstück des Ganzen.
Venter wiegelt ab: Patente
machten niemand zum Besitzer bestimmter Gene, es gehe nur um zeitlich limitierte
Lizenzen. Jede Pharmafirma werde verlangen, dass das angebotene Zielgen
geschützt ist. Als letztes Kapitel der genetischen Revolution prophezeit
er die "vollkommene Erkenntnis der Lebensprozesse", sozusagen die "Mondlandung
der Biologie".
Die Verheißungen der
Gentechnologie lauten gebetsmühlenartig: neue Wundermedikamente und
die Ausmerzung der großen Menschheitsplagen Krebs, Aids und Alzheimer
Demenz. Ganz zu schweigen von den Fantasien vom neuen Menschen, schön,
gesund und dazu noch unsterblich, oder dem Klonen menschlicher Wesen, von
Vordenker Gregory Stock als die "verspätete Geburt eines eineiigen
Zwillings" gepriesen (die Ungnade der verspäteten Geburt?).
Ist Venters Erfolg der Beginn
des Triumphzuges der Gentechnologie? Die aktuelle Erfolgsanalyse ihrer
vier Hauptbetätigungsfelder (Diagnostik, Substitutionsbehandlung mit
künstlich erzeugten Hormonen wie Insulin, somatische Gentherapie und
Keimbahnmanipulation) ist eher ernüchternd. Die an rund 4000 Patienten
eingesetzte somatische Gentherapie hat bislang keine einzige Heilung erzielt.
Die weltweit größte Studie zur Gentherapie bei Patienten mit
besonders bösartigen Hirntumoren (Glioblastomen) ist wegen Wirkungslosigkeit
abgebrochen worden.
Die konkreten Resultate der
Gentechnologie liegen ganz überwiegend im diagnostischen Bereich.
Als Joker gilt der Markt für Genchips, die zehntausende Gene in kürzester
Zeit zu analysieren vermögen. Eine gigantomanische prädiktive
Medizin zieht herauf. "Unpatients", noch Gesunde, die in Kenntnis ihres
genetischen Schicksals in furchtsamer Ungeduld auf kommende Krankheiten
in 30 oder 40 Jahren warten, beginnen die bisherigen Kranken zu beneiden,
die ihr Leiden noch in altmodischer Manier als Blitz aus heiterem Himmel
erleben.
Die Schicksale von Frauen,
die sich als Trägerinnen der erblichen BRCA-2-Genmutation ("Brustkrebs-Gen")
vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, obwohl über 80 Prozent
der 50-jährigen Genträgerinnen noch gesund sind, geben einen
Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer unbarmherzigen zukünftigen
Wissensbürde. Die Präimplantationsdiagnostik, die an zu Diagnosezwecken
im Reagenzglas (in vitro) erzeugten Embryonen im Achtzellenstadium nach
genetischen Defekten fahndet und aktuell von der Bundesärztekammer
zur "Diskussion" gestellt wird, wird euphemistisch als "bedingte Zeugung"
bemäntelt. Wirklichkeitsnäher betrachtet ist diese Rückrufaktion
Embryo nichts als eine selektionistische Methode der Menschenverhinderung.
Die Euphorie über die
rigorose Bemächtigung und Ausbeutung der "Blaupause des Lebens" könnte
allerdings im grauen Alltag gnadenloser Budgets und unerbittlicher Rationierungsmaßnahmen
im Gesundheitswesen rasch in Ernüchterung umschlagen. Wer Eingriffe
ins Erbgut befürwortet, muss damit rechnen, selbst an seinem genetischen
Outfit identifiziert, klassifiziert und diskriminiert zu werden. Der Aussonderungsprozess
der Versicherungen kommt mit Großbritannien an der Spitze bereits
in Gang. Deutsche Versicherer wollen sich für Zwangs-Gentests "Optionen
offen halten". Die (gezielte?) Ausweitung des Behindertenstigmas auf abweichendes
soziales Verhalten, auf Schizophrene, Drogenabhängige, Nichtsesshafte,
die Durchforstung der genetischen Lotterie auf Nieten - sie schüren
Selektionsängste.
Die Reduktion der Komplexität
des Menschen auf sein Genom beinhaltet grausame Handlungsspielräume
- und blendet die entscheidende Seite des Menschseins aus. Die Inbesitznahme,
Vermarktung und Instrumentalisierung des menschlichen Erbgutes ist komplett
in das Machtgefüge der Kapitalmärkte übergegangen. Nach
den neuen Spielregeln ist weniger der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher
Ergebnisse als ihr Marktwert von Interesse. Die Schamhürden werden
nivelliert. Am 22. Januar räumte Islands Regierung für 25 Millionen
Mark dem amerikanischen Unternehmen DeCode die exklusive Lizenz für
12 Jahre ein, die genetischen Informationen der gesamten Bevölkerung
Islands auf kommerzieller Basis auszuwerten. Der Nutzwert des Lebens dominiert
über seinen ideellen Wert. Trotz Globalisierung bilden sich Monopolstellungen
heraus. Als wichtigster "genetic information provider" wird Celera eingestuft.
Für das terminale Genopoly werden rigoros die letzten Claims abgesteckt.
Das Gen als hysterische Metapher und goldenes Kalb regiert eine Epoche.
Gottes Handwerk mit Staunen zu begreifen war das naive Ziel eines Gregor
Mendel. Gott sein Werkzeug aus der Hand zu winden erscheint als Minimalprogramm
der heutigen Biologen.
Den Verlust der Unschuld
bekannten noch die Atomphysiker der ersten Generation nach dem Bau der
Atombombe, und Hans Jonas sah die Unschuld in Frage gestellt, ". . . sobald
lebende, fühlende Wesen Versuchsobjekte werden. . ." Die Lebenswissenschaften
haben auf dem Weg von Mendels Klostergarten zu den Laboratorien von Celera
ihre Unschuld verloren.
Bei Christoph Wilhelm Hufeland
(1762 - 1836), einem der Begründer der modernen Medizin, können
wir lesen: "Der Arzt soll nichts anderes tun als Leben zu erhalten, . .
. ob es 'Wert' habe oder nicht. Und maßt er sich einmal an, diese
Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar,
und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate."
Geisler, Linus S.: Der Börsenkurs
ist das Ziel - Craig Venter und die Entschlüsselung der menschlichen
Gene. |
Frankfurter Rundschau, 25.04.2000,
Nr. 96, S. 7 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0004fr_venter.html |
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