Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DER BÖRSENKURS IST DAS ZIEL. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 25.04.2000
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Der Börsenkurs ist das Ziel

Craig Venter und die Entschlüsselung der menschlichen Gene / Von Linus S. Geisler

Viele Spitznamen hat der Kollegenneid Craig Venter, dem Chef von Celera Genomics, eingebracht: Bill Gates der Gentechnologie, Darth Venter (in Anspielung auf Darth Vader, die Personifizierung des Bösen im Film "Krieg der Sterne"), GenZampano oder schlicht der Feind. Die Veröffentlichung der Genomsequenz für die Taufliege Drosophila am 24. März 2000 in Science könnte ihm den ultimativen Beinamen einbringen: Herr der Fliegen. 

Am 6. April konnte Venter vor dem Untersuchungsausschuss für Energie und Umwelt des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten seinen größten wissenschaftlichen Triumph verkünden: die fast vollständige Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, Sequenzdaten von mehr als 97 Prozent aller menschlichen Gene. Eine vergleichsweise kleine Firma in Rockville (Maryland) mit 300 Mitarbeitern schlägt das Human Genome Project (Hugo), an dem 16 Institutionen aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Japan und China mit Milliardenaufwand arbeiten, um die möglicherweise entscheidende Nasenlänge. 

Damit scheint Venter seiner Utopie einer "Zukunft ohne Krankheiten" ein Stück näher gerückt zu sein. Über seine Motive und Methoden lässt er niemanden im Dunkel. "Gnadenloser Wettbewerb" herrsche in dem 200-Milliarden-Markt der Gentechnologie. Seine Warnung ist deutlich: "Dies ist kein Akt der Nächstenliebe, es ist Business, Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin." Folgerichtig erreichte Venters Erfolgsnachricht die Scientific Community auf dem Umweg über die Börsenticker. Der Kurs ist das Ziel. 

Craig Venter, der Antiheld, trägt Spott und Anfeindung mit Gelassenheit. James Watson, Entdecker der Doppelhelix, vergleicht Venters frühe Sequenzierkünste als Arbeit, die "jeder Affe" schaffen könne. Das Resultat gleiche dem Schreddern von Lexika zu unsortierten Schnipseln, so ein Genom-Forscher. Bei Venters Sequenzierungsmethode sei jeder 100. Buchstabe falsch, im Hugo nur jeder 10 000. "Vor allem Kurspflege", so DFG-Präsident Winnacker, betreibe Celera. Venter, der auf über 6500 Patentanträge zurückblickt, versichert, er wolle weder das menschliche Genom noch irgendwelche Chromosomen patentieren. Im Internet will er, wie Hugo, die gesamte menschliche Genomsequenz allen Forschern gratis zu Verfügung stellen. Patentiert werden sollen nur 100 bis 300 erstmals isolierte Gene, die zur Behandlung von Krankheiten wichtig sind, d. h. das Filetstück des Ganzen. 

Venter wiegelt ab: Patente machten niemand zum Besitzer bestimmter Gene, es gehe nur um zeitlich limitierte Lizenzen. Jede Pharmafirma werde verlangen, dass das angebotene Zielgen geschützt ist. Als letztes Kapitel der genetischen Revolution prophezeit er die "vollkommene Erkenntnis der Lebensprozesse", sozusagen die "Mondlandung der Biologie". 

Die Verheißungen der Gentechnologie lauten gebetsmühlenartig: neue Wundermedikamente und die Ausmerzung der großen Menschheitsplagen Krebs, Aids und Alzheimer Demenz. Ganz zu schweigen von den Fantasien vom neuen Menschen, schön, gesund und dazu noch unsterblich, oder dem Klonen menschlicher Wesen, von Vordenker Gregory Stock als die "verspätete Geburt eines eineiigen Zwillings" gepriesen (die Ungnade der verspäteten Geburt?). 

Ist Venters Erfolg der Beginn des Triumphzuges der Gentechnologie? Die aktuelle Erfolgsanalyse ihrer vier Hauptbetätigungsfelder (Diagnostik, Substitutionsbehandlung mit künstlich erzeugten Hormonen wie Insulin, somatische Gentherapie und Keimbahnmanipulation) ist eher ernüchternd. Die an rund 4000 Patienten eingesetzte somatische Gentherapie hat bislang keine einzige Heilung erzielt. Die weltweit größte Studie zur Gentherapie bei Patienten mit besonders bösartigen Hirntumoren (Glioblastomen) ist wegen Wirkungslosigkeit abgebrochen worden. 

Die konkreten Resultate der Gentechnologie liegen ganz überwiegend im diagnostischen Bereich. Als Joker gilt der Markt für Genchips, die zehntausende Gene in kürzester Zeit zu analysieren vermögen. Eine gigantomanische prädiktive Medizin zieht herauf. "Unpatients", noch Gesunde, die in Kenntnis ihres genetischen Schicksals in furchtsamer Ungeduld auf kommende Krankheiten in 30 oder 40 Jahren warten, beginnen die bisherigen Kranken zu beneiden, die ihr Leiden noch in altmodischer Manier als Blitz aus heiterem Himmel erleben. 

Die Schicksale von Frauen, die sich als Trägerinnen der erblichen BRCA-2-Genmutation ("Brustkrebs-Gen") vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, obwohl über 80 Prozent der 50-jährigen Genträgerinnen noch gesund sind, geben einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer unbarmherzigen zukünftigen Wissensbürde. Die Präimplantationsdiagnostik, die an zu Diagnosezwecken im Reagenzglas (in vitro) erzeugten Embryonen im Achtzellenstadium nach genetischen Defekten fahndet und aktuell von der Bundesärztekammer zur "Diskussion" gestellt wird, wird euphemistisch als "bedingte Zeugung" bemäntelt. Wirklichkeitsnäher betrachtet ist diese Rückrufaktion Embryo nichts als eine selektionistische Methode der Menschenverhinderung. 

Die Euphorie über die rigorose Bemächtigung und Ausbeutung der "Blaupause des Lebens" könnte allerdings im grauen Alltag gnadenloser Budgets und unerbittlicher Rationierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen rasch in Ernüchterung umschlagen. Wer Eingriffe ins Erbgut befürwortet, muss damit rechnen, selbst an seinem genetischen Outfit identifiziert, klassifiziert und diskriminiert zu werden. Der Aussonderungsprozess der Versicherungen kommt mit Großbritannien an der Spitze bereits in Gang. Deutsche Versicherer wollen sich für Zwangs-Gentests "Optionen offen halten". Die (gezielte?) Ausweitung des Behindertenstigmas auf abweichendes soziales Verhalten, auf Schizophrene, Drogenabhängige, Nichtsesshafte, die Durchforstung der genetischen Lotterie auf Nieten - sie schüren Selektionsängste. 

Die Reduktion der Komplexität des Menschen auf sein Genom beinhaltet grausame Handlungsspielräume - und blendet die entscheidende Seite des Menschseins aus. Die Inbesitznahme, Vermarktung und Instrumentalisierung des menschlichen Erbgutes ist komplett in das Machtgefüge der Kapitalmärkte übergegangen. Nach den neuen Spielregeln ist weniger der Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Ergebnisse als ihr Marktwert von Interesse. Die Schamhürden werden nivelliert. Am 22. Januar räumte Islands Regierung für 25 Millionen Mark dem amerikanischen Unternehmen DeCode die exklusive Lizenz für 12 Jahre ein, die genetischen Informationen der gesamten Bevölkerung Islands auf kommerzieller Basis auszuwerten. Der Nutzwert des Lebens dominiert über seinen ideellen Wert. Trotz Globalisierung bilden sich Monopolstellungen heraus. Als wichtigster "genetic information provider" wird Celera eingestuft. Für das terminale Genopoly werden rigoros die letzten Claims abgesteckt. Das Gen als hysterische Metapher und goldenes Kalb regiert eine Epoche. Gottes Handwerk mit Staunen zu begreifen war das naive Ziel eines Gregor Mendel. Gott sein Werkzeug aus der Hand zu winden erscheint als Minimalprogramm der heutigen Biologen. 

Den Verlust der Unschuld bekannten noch die Atomphysiker der ersten Generation nach dem Bau der Atombombe, und Hans Jonas sah die Unschuld in Frage gestellt, ". . . sobald lebende, fühlende Wesen Versuchsobjekte werden. . ." Die Lebenswissenschaften haben auf dem Weg von Mendels Klostergarten zu den Laboratorien von Celera ihre Unschuld verloren. 

Bei Christoph Wilhelm Hufeland (1762 - 1836), einem der Begründer der modernen Medizin, können wir lesen: "Der Arzt soll nichts anderes tun als Leben zu erhalten, . . . ob es 'Wert' habe oder nicht. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate." 


Geisler, Linus S.: Der Börsenkurs ist das Ziel - Craig Venter und die Entschlüsselung der menschlichen Gene.
Frankfurter Rundschau, 25.04.2000, Nr. 96, S. 7
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0004fr_venter.html

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