Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: NICHTS, AUF DAS WIR MIT FREUDE ZU HOFFEN WAGEN. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 08.01.2000
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Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen wagen

Der neue Mensch ist kein Wesen mehr zum Anfassen / Linus Geisler über die Medizin des 21. Jahrhunderts

Wie wird sie aussehen, die Medizin des dritten Jahrtausends? Linus Geisler formuliert in seinem Beitrag weniger die Zukunftsperspektiven aller wichtigen Sparten der modernen Heilkunde, sondern exemplarisch das untergründige Unbehagen an einer bestimmten Medizin, an ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Menschenferne. Wir dokumentieren den Beitrag des früheren Chefarztes am St. Barbara Hospital in Gladbeck mit dem Titel "Medizin an der Schwelle zum dritten Jahrtausend - Das Verschwinden des Bösen?" im Wortlaut.

Zukünfte

In Samuel Becketts Endspiel antwortet der Diener Clov auf die angstvolle Frage seines Herren Hamm ("Was passiert eigentlich?") mit den kryptischen Worten "Irgendetwas geht seinen Gang." Dieses Irgendetwas sitzt uns im Nacken. Wir möchten ihm gerne einen Namen geben: Selbst "Apokalypse" wäre erträglicher, als diese Vorahnung in der Silvesternacht, dass uns hundert Jahre Einsamkeit bevorstehen, hundert als symbolische Zahl gemeint. 

Die Zahl 2000 zwingt unseren Blick magisch in die Zukunft. Aber bekanntlich gleicht das Stellen von Zukunftsprognosen einem Kamikaze-Unterfangen. Vorhersagen für kurze Zeiträume sind nicht ausgenommen. Wer weiß, ob am Ende des "langen Booms", den der Zukunftsforscher Peter Schwartz, Chef des GBN (Global Business Network) in seiner Geschichte der Zukunft beschreibt, im Jahre 2018 tatsächlich das Zeitalter der Nanotechnologie ausgebrochen sein wird: Mikromaschinen im Körperinneren führen in Femtosekunden (= 100 Billionstel Sekunden) Zellreparaturen aus. 

Ganz zu schweigen von längerfristigen Prognosen: Die Vision der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner im Jahr 1899 von der Abschaffung des Krieges "als legale Institution" bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zählt zu dieser Kategorie. Selbst das bescheidenere Entwerfen von "Szenarien" ist kaum mehr als russisches Roulette mit vermeintlich harten Daten. 

Die Vorsichtigeren erkennen wenigstens, dass es immer gefährlicher wird, sich ständig neue, noch fortschrittlichere Zukünfte zusammenzufantasieren. Denn die Zukünfte schlagen zurück in die Gegenwart. Sie verbauen die Kontingenz als Fundament der Freiheit. Sie engen die Handlungsspielräume und die Kreativität ein. Ihre Gloriosität in der Ferne ist unsere Depression heute. Selbst das Zuckerbrot des Mega-Fortschritts, das die "rocket scientists", die Extremwissenschaftler, den Menschen penetrant vor die Nase halten, hat einen bitteren Beigeschmack und löst neue Ängste aus: werden wir so schnell leben können, wie es uns die Beschleunigung des Fortschritts diktiert? 

Oder werden wir in die Kategorie der "Entschleuniger" gerechnet werden, zu den "Todtnauberg-Menschen" Heideggerschen Angedenkens (Peter Glotz). Da trösten uns die Appelle der wenigen Rufer in der Wüste nach "Verlangsamung des Fortschritts" (Dietmar Mieth) oder "entschleunigtem Fortschritt" (Alexander Gauland) allenfalls oberflächlich. Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen wagen. Das Millennium der christlichen Eschatologie bot wenigstens noch die Aussicht auf ein Jahrtausend, das die Ankettung des Teufels verhieß. 

Wagnis des Unmöglichen

Dennoch: Das Wagnis, dem Beckettschen "Irgendetwas" Kontur zu geben, legitimiert sich als Versuch des kommunikativen Umgangs mit der Angst, "weil wir darüber, wofür wir Worte haben, auch schon hinaus sind" (Nietzsche). Es geht also um Artikulierung von Angst, nicht um Angstüberwindung, um Angst, in der Andrzej Szczypiorski, die Garantie unserer Existenz sieht. Es geht um die Frage nach der Ursache des besonderen Schmerzes, den der Abschied vom 20. Jahrhundert auslöst und der möglicherweise zu tun hat mit dem Verlust der Unschuld. 

Warum trotz der faustischen Pakte der Wissenschaften die Erlösung ausbleibt und das Mephistophelische Prinzip der Umkehrung des Bösen zum Guten außer Kraft geraten zu sein scheint. Warum die Grenzen zwischen dem Gewaltigen und dem Gewalttätigen nicht mehr auszumachen sind. Warum der Mensch nach dem Sturz aus der Mitte der Welt immer mehr zur Randfigur des eigenen Systems gerät. Immer stärker beginnt er ". . . seine totale Verlassenheit und seine radikale Fremdheit" in dieser Welt zu erkennen, so Jacques Monod (Medizinnobelpreis 1965). Er hat ". . . seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universum . . ., das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen . . . Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben." 

Kurzum, nach dem Verlust des Gottvertrauens, scheint die letzte diesseitige Bastion, das Weltvertrauen, abhanden gekommen zu sein. 

Arzt und Systeme

In seinen Betrachtungen über die wunderliche Natur des ärztlichen Berufes fragt der Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner, "was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft, das Wesentliche sei". Diese altmodischen Facetten des Arztberufes werden überwuchert durch die Dominanz der Fremdbestimmung. Medizin als reglementierte Profession und Dienstleistung. Der Arzt als schwächstes Glied in der Kette der "Leistungserbringer", ausgesetzt dem wachsenden Druck der Politik, der Sozialpartner, der Patientenforderungen, der Medien, der zunehmenden Verrechtlichung, den erpresserischen Sirenenstimmen der Pharmaindustrie. Im Jobdenken verschwinden die Reste von Berufung. 

Individualismus ist unerwünscht, Persönlichkeit suspekt, die Austauschbarkeit greift um sich. Auch die Gier: Abrechnungsmanipulation und Wissenschaftsbetrug als Symptome eines korrumpierten Berufsethos. Evidence based Medicine (EBM) und Managed Care diktieren die Handlungsspielräume. Computerisierte Expertensysteme berechnen Prognosen und entwerfen (noch) unverbindliche Handlungsoptionen. Der Sieg der harten über die weichen Daten, das Ende des klinischen Blicks ist angesagt. Gott sitzt, wenn überhaupt irgendwo, im Rechner. 

Die "Tante-Emma-Praxis", in der Arzt und Patient über ihre Lebensgeschichten gegenseitig im Bilde waren, ist tot. Organkliniken und vernetzte Ambulatorien breiten sich aus, in denen auf ein Einzelsymptom reduzierte Kranke sich Ärzten zuhauf gegenübersehen, von denen keiner ihr Arzt ist. Samariter und Räuber zu unterscheiden fällt immer schwerer. Nach alter tibetischer Lehrmeinung gleicht ein Arzt, der keine medizinischen Instrumente besitzt, einem Ritter ohne Rüstung und Waffen. Der Patient von heute prallt auf monströse Rüstungen und ein hochtechnisiertes Waffenarsenal, wo aber ist der Ritter? 

Das schweinerne Herz

Nach der endlos scheinenden Geburt eines Transplantationsgesetzes, das der Organbeschaffung die Pforten weit öffnet, trickreich den Hirntod lediglich als Voraussetzung zur Organentnahme verharmlost und seine Gleichsetzung mit dem Tod des Menschen verschleiert, nach euphemistischen Werbekampagnen (Organwechsel nach dem garbage-in-garbage-out-Prinzip) dümpelt die Organtransplantation auf dem seit Jahren gleichen Level vor sich hin. Eine Abstimmung mit den Füßen? Es ist Organspende, und so gut wie keiner geht hin? 

Verhieß da nicht die Unesco, jeder zweite Eingriff nach dem Jahre 2000 werde eine Verpflanzung von Organen oder Geweben sein? Am offerierten Menü kann es kaum liegen: Eierstöcke, Hoden, Hirngewebe - alles im Angebot und technisch unproblematisch. 

Auch die Kopfverpflanzung von Krebskranken im Finalstadium auf den gesunden Rumpf eines Hirntoten, so der amerikanische Chirurg Robert White von der Case Western Reserve-Universität, gläubiger Katholik und Vater von zehn Kindern, werde im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts möglich sein. Verpflanzte Affenköpfe hätten in seiner Gegenwart immerhin schon die Augen gerollt und die Zähne gefletscht. Selbst am makabren Gegenexperiment wird gearbeitet: die Züchtung kopfloser Wesen durch den englischen Wissenschaftler Jonathan Slack. 

Sollte es möglicherweise ein übergeordnetes "Abstoßungsphänomen" geben? Aber der systemeigene Expansionsdruck ist nicht aufzuhalten. Er bedient sich rigoros aller Mittel. Lebendspende ist angesagt. Die Altlast des nil-nocere ist entsorgt. Renommierte Strafrechtler hegen keine Bedenken gegen operative Eingriffe an Gesunden trotz des Sterblichkeitsrisikos von zirka einem Promille (Nieren-Lebendspende). Die gesellschaftlichen Implikationen werden ausgeblendet. 

In den USA stammen bereits rund 25 Prozent der verpflanzten Nieren von Gesunden, aber der Chirurg Robert Montgomery spricht von "ungenügend genutzten Ressourcen". Was wird, wenn eines Tages 80 Prozent der Mütter dialysepflichtiger Kinder eine Niere geopfert haben, mit den widerspenstigen restlichen 20 Prozent? Die Vision von der Lebendspende als "unerschöpflichem Reservoir" (Jochem Hoyer), das im Umfeld jedes terminal Nierenkranken einen "potentiell gesunden Spender" erkennt, steht bereits im Raum. Die Gesellschaft von morgen ein fröhliches Kollektiv von Lebendspendern? 

Andere unerschöpfliche Reservoire tun sich auf: Das "spannendste, umstrittenste und verschwiegenste aller wissenschaftlichen Unterfangen" (Technology Review), die Jagd nach embryonalen menschlichen Stammzellen ist eröffnet. In diesem "Schatzhaus der Möglichkeiten" schlummert das Potenzial, "maßgeschneiderte" Gewebe und Organe zu züchten. Noch verhindert das Embryonenschutzgesetz den Zugriff auf "frühe menschliche Lebewesen", die für andere allerdings lediglich "Zellhaufen" sind (Michael West, Direktor von Advanced Cell Technology). 

Doch der Konsequenzialismus lässt nicht locker: Wenn Kranke durch embryonale Stammzellen geheilt werden könnten, "dann werde in Deutschland eine Mehrheit dafür sorgen, dass das Embryonenschutzgesetz geändert wird", so die Forderung von Reproduktionsmedizinern. Aber vielleicht macht die Xenotransplantation das Rennen. Favorit ist das Schwein, denn Affen sind zu teuer und emotional "zu hoch besetzt". Wenn Tarnkappenmoleküle das Abstoßungsproblem ausgetrickst haben, die Einschleusung von Schweineviren ins menschliche Erbgut blockiert ist und die Farmen mit transgenen Schweinen florieren, könnte der Boom ausbrechen: 
10 000 Herztransplantationen statt magerer 500 im Jahr. Freilich, die Funktionsdauer ist ungewiss. Was, wenn sie nur zehn Monate statt zehn Jahre betragen sollte? Dann werden die Wartelisten nicht abgebaut, sondern länger. Ganz zu schweigen vom Kostenfaktor (zirka 2,5 Milliarden Mark pro Jahr). 

Ins Netz gegangen?

Das Internet, ein anarchisches System ohne Firmensitz, Aufsichtsrat oder Vorstand, ohne den Status einer juristischen Person, ohne wirksame Kontrolle. Nahezu alles lässt sich hier finden und loswerden. 

Für die Medizin ein weites Feld, dessen Auswirkungen noch kaum zu erahnen sind. Blitzschneller Zugriff auf Datenbanken, virtuelle Bibliotheken, Internetkonferenzen, Operations- und Sektionskurse am digitalen Menschen als neue Aus- und Fortbildungsmedien. In "Health Online Services" beantworten Spezialisten (Qualifikation ungeprüft) Ärzten und Apothekern ausgefallene Fragen. Die Teilnehmer von Selbsthilfegruppen aus guten alten Tagen tauschen zunehmend ihre Erfahrungen in Chatrooms aus. 

In den USA stehen für 23 Millionen Gesundheitssurfer über 15 000 medizinische Webseiten zu Verfügung. Der graue Arzneimittelmarkt im Internet, vor allem für Lifestyle-Medikamente, floriert. Einer aktuellen Studie von Katrina Armstrong (New England Journal of Medicine, Oktober 1999) zufolge wird allein Sildenafil (Viagra) auf 86 Webseiten angeboten (Hinweise auf Kontraindikationen oder Nebenwirkungen finden sich nur bei rund einem Drittel der Anbieter). Gesamtsumme für die Direct-to-customer (DTC) Werbung in den USA: jährlich 1,5 Milliarden Dollar. 

Der Hausarzt, dessen Wissensstand vor fünf oder zehn Jahren eingefroren wurde, sieht sich, vor allem in den USA, immer häufiger mit Patienten konfrontiert, die ihm Stapel frischer Computerausdrucke unter die Nase halten. Online-Beratung, -Behandlung und Selbstbehandlung laufen der klassischen Arzt-Konsultation den Rang ab. Angehörige chronisch Kranker laden sich enzyklopädische Kenntnisse aus dem Netz herunter, übernehmen selbst die Behandlung und begeben sich auf Vortragsreisen für andere Leidensgenossen. 

Neurosen und Abartigkeiten lassen sich ungehemmt "outen". Seelische Verstörungen werden nicht auf der Couch analysiert, sondern per E-Mail angegangen. Das Internet als "spezifischer Entstehungskontext von Gefühlen" (Christina Schachtner) fördert die soziale Integration des einen und überfordert den anderen. Das gefährdete Ich droht in unterschiedliche Bilder zu zerfallen wie eine multiple Persönlichkeit (Sherry Turkle). 

Die Cyberwelt verführt zum Identity-Switch, zum Fluktuieren zwischen Rollen und Selbstbildern. Sie etabliert rasch Beziehungen und löst sie ebenso rasch und ohne Skrupel auf, die altmodische "Arzt- Patienten-Beziehung" nicht ausgenommen. Ein neuer Anschlag auf das Ich, ein anderer Ort der Einsamkeit? 

Der neue Mensch

Freuen wir uns auf den neuen Menschen der Molekularbiologie! Altmodische Empfindsamkeiten sind aus seinem Erbgut eliminiert. Dass er zum Endloskopierer eines manipulierten Genoms geworden ist, bewirkt keine Kränkung. Die Qualen der Ich-Jagd, die zugleich spiegelverkehrte Suche nach Gott im Inneren ist (Peter Gross), diesen uralten, in den neuen Katalog genetischer Defekte aufgenommenen Trieb, hat man ihm gründlich ausgetrieben. Die radikale Ausrottung der Wurzeln, mit denen der Mensch seine Defekte Generation für Generation aufgesogen hat, ist angesagt, das Abwerfen des Erbgutes als Erbsünde. 

Anvisiert ist die geschichtslose Kreatur, eine genetische Waise, ein Wesen ohne Vergangenheit, nur noch mit einer Zukunft aus fremder Hand. Ichlosigkeit als Ideal einer neuen Befindlichkeit. 

Die Computerspezialisten runden das Szenario ab. Spätestens im Jahr 2030, so Ray Kurzweil, Professor am MIT und Autor von The Age of Spritual Machines (Homo sapiens. Leben im 21. Jahrhundert), werden Computer die menschliche Intelligenz überrundet haben. Nanotechnologisch minimalisierte Computer, sogenannte Nanobots, werden über den Kreislauf ins Gehirn geschleust, das sie exakt kopieren, kognitive Fähigkeiten ebenso wie Emotionalität. Wir überleben für alle Zeiten als herunterladbare Software, als "mind-file" und sterben nicht mehr am Zusammenbrechen der vergänglichen Hardware Gehirn. 

Aber das Unbehagen bleibt. Der neue Mensch, so lautstark er verkündet wird, so merkwürdig blass, ja unbelebt wirkt er. "Stark, gesund und schön" rufen als abgenutzte plakative Phrasen keine lebendigen Figuren auf den Plan. Der neue Mensch ist kein Wesen zum Anfassen. 

Was macht ihn aus im Detail? Ewiges Gedächtnis und ewige Potenz? Kalkfreie Arterien und unzerbrechliche Knochen? Immunität gegen Aids, Krebs und noch alle künftigen Infektionskrankheiten und Tumoren? Das Arsenal der Organe stets komplett und auf dem neuesten Stand, der Körper permanent runderneuert? 

Sieht er mehr, der neue Mensch, etwa wenn er Alpengipfel betrachtet oder Michelangelos David? Schmeckt ihm der Kaviar noch kaviariger und der Hummer noch hummeriger? Und wenn er schon seit achtzig Jahren nicht mehr gearbeitet hat, findet sich dann immer noch ein neues Schlag-die-Zeit-tot-Spielchen? 

Hält er das aus: hundert Jahre lang jeden Morgen im Spiegel den gleichen, knackigen, alterslosen Körper zu sehen? Kann man ihm uralte Geschichten verständlich machen, in denen noch Menschen, wie der Stammvater Abraham "hochbetagt und lebenssatt" ihre Endlichkeit annahmen? Oder ist dieser bessere Mensch etwas gänzlich anderes: unfähig, Steuern zu hinterziehen, die Ehe zu brechen oder im Krieg kleinen Kindern die Augen auszustechen? Wo steckt das ganz und gar andere? 

Ein Entwurf ist nicht erkennbar. Der neue Mensch, nicht mehr als eine kostspielige Mogelpackung mit unbekanntem Inhalt? Ist diese neue Wissenschaft vielleicht nur eine wiederaufgewärmte "fröhliche Wissenschaft" (Nietzsche), mit dem alten Versprechen: ". . . und der Mensch wird von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfließt . . ."? 

Aber vielleicht ist dieser unsterbliche Mensch nichts anderes als die Projektion der Endlichkeits-Angst seiner Schöpfer. 

Rotstift-Kreaturen

Gesundheit als herausragendes Ziel der Industriegesellschaft definiert sich als "Konditionalgut". Aber die Leistungsexplosion der Medizin bewirkt eine ungehemmte Kostenexplosion. Die Fortschrittsfalle schnappt zu. Im Jahr 2020 werden die Ausgaben für Renten-, Sozial- und Krankenversicherung auf über 50 Prozent des Einkommens steigen, wobei auf Gesundheitsleistungen zirka 18 Prozent entfallen. Gesundheit für alle zu jedem Preis? Zwang zur Gesundheit? 

Die Grenzen der Belastbarkeit des Sozial- und Gesundheitssystems rücken greifbar nahe. Die Suche nach den Hauptschuldigen zeichnet sich ab, den chronisch Kranken, den schwer Pflegebedürftigen, den Alten in den überproportional teuren letzten zwei Lebensjahren. Jenes Kollektiv, das dank der modernen Medizin ständig wächst. Das große Rechnen beginnt, die Planspiele hinter verschlossenen Türen. 

Ein Zauberwort geistert durch die Runde: Verkürzung der Lebenserwartung. Zum Beispiel durch medizinische Basisversorgung auf "niedrigem Niveau" ab dem Rentenalter. Durch radikale "Qualitätskontrollen" für teure medizinische Leistungen, durch rigorose Rationierung. Qualität heißt dann Kostenersparnis und Systementlastung. Eine neue Niere nur noch, wenn sie billiger ist als chronische Dialyse? Eine Lebertransplantation (für zirka 225 000 Mark) oder die Verdoppelung der medizinischen Leistungsaufwendungen für mehr als 200 Alzheimer-Patienten (von Schulenburg)? Recht auf die Erfüllung eines Kinderwunsches um jeden Preis? 

Die Schlagkraft der Lobbys ist herausgefordert. Hinter vorgehaltener Hand wird über "sozialtechnische" Lösungen nachgedacht, auch über "gelenkte Sterblichkeit". Die Diskussion über Sterbehilfe könnte bald eine ganz andere Qualität erreichen, nicht nur in den Niederlanden, so der Theologe Ulrich Eibach. 

Die Sloterdijksche Erkenntnis, dass in wachsendem Maße ". . . der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt" (Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark), beginnt sich zu bewahrheiten, freilich weniger durch die Macht der Anthropotechniken als durch den Würgegriff knapper gewordener Budgets. Ein böses Erwachen für die Fetischisten der Globalisierung als Allheilmittel (Bill Gates: In 20 Jahren sind dank der Globalisierung alle heutigen Probleme der Medizin gelöst). Rotstift-Mensch versus Unsterblichkeit? Ein System am Rande der Bewusstseinsspaltung ? 

Zeit der Unmündigkeit

War die Aufklärung im Kant'schen Sinne der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", so findet sich der heutige Mensch in einer labyrinthischen Unmündigkeit wieder. Er erlebt schmerzlich, dass wachsender Fortschritt immer auch wachsende Ratlosigkeit bedeutet. Die erdrückende Wissensflut befähigt ihn nicht, sich für das Gute zu entscheiden. Vielmehr bewirken die komplexen, chaotischen Systeme, aus denen Wissen und sogenannter Fortschritt entspringen, dass er das Gute nicht mehr erkennen kann. So wie die Welt ein unüberschaubarer fragmentierter Ort geworden ist, so ist auch er fragmentiert. Das Ich - ein dunkles Kaleidoskop ständig wechselnder Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Selbstsüchte. Nichts was ihn verlässlich zusammenhält, das ihm eine Mitte zeigt, die der Urgrund ist. Die Systeme, in deren Griff er sich vorfindet, eröffnen ihm pausenlos wechselnde und widersprüchliche Perspektiven.

Das Urvertrauen als Grundlage des Seins ist abhanden gekommen. Er sieht sich einer Medizin ausgeliefert, die Züge einer multiplen Persönlichkeit trägt. Je exorbitanter ihre Errungenschaften, desto gnadenloser die Erkenntnis, dass sich die Verheißung leidfreien Seins als die Fiktion dieses Jahrhunderts erweist. Dass die Summe menschlichen Leidens eine unabänderliche anthropologische Konstante darstellt. Sie verspricht ewiges Leben und strebt die Verkürzung der Lebenserwartung als Rationierungseffekt an. Sie senkt die Versorgung der Habenichtse auf ein Minimal-Niveau ab und entwirft zugleich die Vision einer Elite von "Gen-Reichen" à la Lee Silver. 

Die Verführungen des Medizinsystems sind längst nur noch in einem auf Kredit finanzierbaren Kaufrausch zu verwirklichen. Die höchste Form vom Zynismus sei es, so Adorno, die Manipulationen der Werbung zu durchschauen und das Produkt trotzdem zu kaufen. Das Ganze vollzieht sich in einem interdisziplinären Albtraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker, Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten, Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker aus ihren Welt- und Menschenbildern eine Patchwork-Kreatur namens Mensch zusammenfantasieren, eine Art hochkomplexen humanoiden Tamagotchi, zum "lieb haben" ebenso geeignet wie zur programmierten Entsorgung. 

Das Verschwinden des Bösen

Nicht nur das Gute auszumachen, so stellen wir mit Erstaunen fest, wird immer schwieriger, sondern auch das Böse. Hakan Nesser scheint zu irren, wenn er in seinem Roman "Das vierte Opfer" (1999) feststellt, sicher sei nur: Das Böse ist da. Es ist das "Prinzip, dem wir entgegensehen können, auf das wir uns als das Absolute verlassen können. Das, was letztendlich nie enttäuscht." 

Vielmehr geht die Suche nach Absichten und Tätern anscheinend ins Leere. Ist der Teufel ins System ausgewandert, fragt Bernd Busch? Treibt sich dort das absichtslose Böse herum, das Systemböse sozusagen? "Wir werden vom Bösen überwältigt, das niemand wirklich wünscht und das dennoch geschieht", so der Computerwissenschaftler Jay David Bolter. 

Vielleicht machen wir es uns nur zu leicht. Vielleicht ist dieses Böse nichts als die Konstruktion jenes Außen, in das es abgewandert sein soll. Vielleicht hat diese verstörende Welt unsere Angst so überdimensional anwachsen lassen, dass wir nur noch gebannt auf das Außen starren und das Innen nicht mehr wahrnehmen, allenfalls als Leerzeichen. 

Aber wenn der Blick wieder frei wird auf das Innere, ist dort und nirgendwo anders der Ort auszumachen, an dem über Tun und Lassen bestimmt wird. Und wo, wenn überhaupt, das Rettende wächst. Wie seit Menschengedenken. Und auch im kommenden Millennium.


Geisler, Linus: Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen wagen. Frankfurter Rundschau, 08.01.2000, Nr. 6, S. 26
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0001fr_freude.html

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