Start   <   Artikelübersicht   <   Linus Geisler: FEIND, FREUND ODER PARTNER? - Dr. med. Mabuse, Mai/Juni 2007
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Feind, Freund oder Partner?

Angehörige im Krankenhaus

Linus Geisler

Für Angehörige in der Klinik erscheint vieles, was für ÄrztInnen und Pflegende Alltag ist, sehr bedrohlich. Schläuche, Apparate und hektisches Personal lösen oft große Ängste aus. Was Angehörige erwarten, ist das unmittelbare Eingehen auf ihre aktuelle Situation und ihre Hilflosigkeit.
Der Patient und sein Arzt - ein dyadisches Bezugssystem, je hermetischer nach außen abgegrenzt, umso besser. Dies entspricht der landläufigen Meinung. Doch die Wirklichkeit, sie ist nicht so. In ihrem soeben erschienenen Buch "Die Stellung von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung in Abhängigkeit von Dritten" verdeutlicht die Pflegewissenschaftlerin Anika Mitzkat, dass die Stellung des Angehörigen in einer Triade zu sehen ist: Der Patient, der Angehörige und "Dritte". [1] Dieser Dritte kann der Arzt sein, aber auch jeder andere Akteur im Gesundheitssystem. Mit anderen Worten: In das Patient-Arzt-Bezugssystem ist meistens als "Dritter" der oder die Angehörige eingebunden. Er oder sie kann dort eine Nebenrolle spielen, aber auch den Hauptpart, wenn es um einen nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten, zum Beispiel im Koma oder in einem demenziellen Status, geht. Schließlich kann der Angehörige, wenn er lange und belastet mit dem Leiden oder der Behinderung seines Angehörigen konfrontiert ist, selbst zum Patienten werden.

Mitläufer oder Querulant

Im klinischen Alltag sehen ÄrztInnen und Pflegekräfte den Angehörigen nicht immer in dieser differenzierten Rolle. Am ehesten fungiert er als "Mitläufer", der sich passiv verhält oder seine Ängste querulatorisch umsetzt, noch schlimmer, wenn er allen mit Internet-basiertem Wissen zusetzt oder mit penetranter Klebrigkeit Station oder Praxis dauerhaft bedrängt. Der (scheinbar) "ideale Angehörige" ist hingegen seltener anzutreffen. Er passt sich den persönlichen, arbeitsspezifischen Bedürfnissen des Personals an, respektiert dessen Autorität und unterwirft sich widerstandslos allen Anordnungen und Maßnahmen. Er verzichtet auf störende Eigenarten und Anliegen, zeigt Vertrauen und Dankbarkeit, antwortet rückhaltlos und umfassend, wenn er gefragt wird, sagt selbst aber nichts, wenn er nicht gefragt wird, und ist mit dem Maß an Kommunikation zufrieden, das man ihm zubilligt. Dieser "Ideal-Angehörige" wäre freilich eine kontraproduktive Gestalt und kaum zu ertragen.

Kein Wunder, dass die "Mitläuferrolle" des Angehörigen nicht selten in einer entsprechend unwürdigen Kommunikationsform augenfällig wird: im so genannten "Flurgespräch". Es zählt nicht nur zu den ineffektivsten Gesprächsformen, sondern ist Ausdruck der Unfähigkeit zum empathischen Umgang mit Menschen. [2] Man sieht einen die Klinikflure entlangeilenden Arzt/Pflegenden, an dessen Seite ein mithastender Angehöriger Brosamen einer fragmentierten, kaum verständlichen Information abbekommt, die ihn mehr verstört als stabilisiert.

Angehörige fallen unter Umständen erst richtig auf, wenn - meistens für die Betroffenen völlig überraschend - ein Rechtsanwaltsschreiben vermeintliche oder nicht auszuschließende Behandlungsfehler moniert. Dann tritt der Angehörige plötzlich aus seinem Schattendasein heraus und imponiert als "Feind". Regelhaft ist jetzt festzustellen, dass dem Vorwurf fehlerhafter Behandlung oder Betreuung schwere Kommunikationsverstöße vorausgegangen sind.

Der Angehörige: Feind - Freund - Partner? Wie die jeweilige Kategorisierung ausfällt, ist nicht Schicksal, sondern hängt weitgehend vom behandelnden Team ab. [3]

Zusammenstoß der Wirklichkeiten

Je komplexer und verantwortungsvoller das medizinische Terrain strukturiert ist, auf dem sich Behandlung und Pflege abspielen, umso größer ist das Risiko, dass die Perspektiven der Akteure und der Involvierten, wie beispielsweise der Angehörigen, divergieren. Diese "Perspektivendivergenz" ist nicht selten die Grundlage von Missverständnissen, Fehldeutungen und Dissonanzen, die auf das Klima der Teamarbeit durchschlagen, das heißt zulasten des Patienten gehen und beim Angehörigen zu verzerrten Wahrnehmungen führen.

Der Königsweg zur Wahrnehmung und Interpretation der Perspektiven der Gesprächspartner ist ein von aufmerksamer und einfühlender Zuwendung geprägter Dialog. Die Qualität der Intensivmedizin wird daher in hohem Maße mitbestimmt von der Qualität der Kommunikation zwischen den Betroffenen und den Beteiligten: den PatientInnen, ÄrztInnen, den Pflegekräften und den Angehörigen. Jede dieser Gruppen erlebt und bewertet die Intensivmedizin aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, genauer gesagt, erlebt sie in verschiedenen Wirklichkeiten. Nirgendwo in der Medizin gewinnt das Phänomen unterschiedlicher Wirklichkeiten so enorme Bedeutung wie auf der Intensivstation, und nirgendwo sind auch die Folgen des Verkennens und Nichtbeachtens dieses Phänomens so schwer wiegend wie hier.

Beispielhaft und beeindruckend wird die Perspektivendivergenz in einem konkreten Vorgang deutlich:

"Gestorben am 15. August 1977 -
erlöst am 1. Dezember 1979"
Mit dieser "Todesanzeige der Bitternis" wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Dezember 1979 auf die Beerdigung eines 15-jährigen Schülers hingewiesen, der nach einem Badeunfall wiederbelebt und über zwei Jahre auf einer Intensivstation im Wachkoma behandelt worden war. Für die Angehörigen war der in ihren Augen schon gestorbene Junge Objekt eines sinnlosen und belastenden medizinischen Aufwands. Für die Behandelnden und Pflegenden bedeutete es mehr als zwei Jahre eines intensiven und verantwortungsvollen Einsatzes.

Der erste Eindruck ist für die Angehörigen oft erschütternd

Gerade der "erste Eindruck" der Angehörigen von einer Intensiveinheit, auf der sie, vielleicht völlig unerwartet, ein Familienmitglied in einem kritischen Zustand vorfinden, kaum zu erkennen und auszumachen hinter Geräten und Schläuchen, trägt häufig schockartige Züge. In einer Befragung vom "ersten Eindruck", den Angehörige von ihrem Familienmitglied auf der Intensivstation hatten, wählten 26 der 29 Befragten die Beschreibung: "schrecklich - Entsetzen - grauenvoll".

Die Perspektive des Patienten hingegen kann davon völlig abweichend sein. Die Bedrohung des Menschen durch die viel zitierte "Apparatemedizin", der er - dem Anschein nach - gerade im Intensivbereich in monströser Form ausgesetzt ist, scheint sehr viel mehr in der Wirklichkeit der Angehörigen, der Öffentlichkeit, aber auch des Behandlungsteams zu existieren als in der des Patienten. Nach Aussagen vieler Patienten ist die Angst vor den Apparaten (Monitoren, Beatmungsgeräten, Infusionspumpen und so weiter) im Allgemeinen nicht groß, oft gar nicht vorhanden. Häufig wird gerade der technische Aufwand nicht als Bedrohung, sondern als sicherndes Element erlebt. In einer Studie mit rund hundert Patienten, die im Schnitt drei Tage auf der Intensivstation behandelt worden waren, bewerteten rund 85 Prozent der retrospektiv Befragten den Aufenthalt dort als positiv, fühlten sich "gut aufgehoben" oder waren "dankbar für die Hilfe". Über 80 Prozent wollten bei einem ähnlichen Krisenfall in der Zukunft wieder auf einer Intensivstation behandelt werden. Damit soll die Behandlung auf der Intensivstation nicht idealisiert werden, denn immer wieder kann sie als extrem belastend oder als Horror erlebt werden.

Die Wirklichkeit der Angehörigen

Folgende Elemente bestimmen die Wirklichkeit und das Erleben der Angehörigen von Intensivpatienten:
 
> schon vorher gestörte Konstellationen innerhalb der Familie erfahren in der Krise eine scharfe Zuspitzung;
> es besteht ein ausgeprägtes Informationsbedürfnis über den Zustand, therapeutische Maßnahmen und die Prognose, das nur ausnahmsweise völlig befriedigt wird;
> Informationen werden oft in großer Eile und von unterschiedlichen Mitgliedern des Behandlungsteams gegeben;
> missverständliche oder widersprüchliche Aussagen des Behandlungsteams wecken Angst, Unsicherheit, Misstrauen und Aggressionen;
> die Auskunft gebenden Personen des Teams werden als "Unglücksboten" erlebt, an denen sich Ängste, Zorn, Erregung und Aggressionen entladen;
> die Intensivbehandlung eines nahen Anverwandten bedeutet für Angehörige vielfach nicht nur, dass ein Familienmitglied vital bedroht ist, sondern dass sie sich selbst plötzlich in einer kritischen Lebensphase befinden;
> häufig leiden die Angehörigen unter dem ungewissen Schicksal ihres Anverwandten sehr viel mehr als der Patient selbst.

Typische Phasen

Bei langwierigen Verläufen lassen sich nicht selten typische Reaktionsmuster der Angehörigen beobachten. [4] Deren Kenntnis ist für die Betreuung durch das Team von Bedeutung:

1. Phase: Die Angehörigen versuchen, die zunächst unerträglich wirkende Diagnose zu verleugnen, und weigern sich, die Krankheit anzunehmen.

2. Phase: Die Angehörigen haben realisiert, dass der Patient vital bedroht ist oder sterben muss, können es aber nicht akzeptieren und flüchten sich in verschiedenste Überaktivitäten.

3. Phase: Auf die Phase der Überaktivitäten folgt die Entmutigung. Die Angehörigen werden sich der ganzen Tragweite des Geschehens bewusst, Überempfindlichkeit und Misstrauen kommen auf.

4. Phase: Es tauchen zahlreiche, teilweise belastende Fragen und Reaktionen auf: Wird alles getan? Warum wird der Patient beatmet? Was haben die vielen Geräte für einen Sinn? Ist nicht alles nur sinnlose "Quälerei"? Warum bekomme ich nur unzureichende Auskünfte?

5. Phase: Sie ist häufig gekennzeichnet durch Resignation, sowohl rational als auch emotional, kann aber auch - abhängig von der Situation (Beispiele: der Patient überlebt mit einer Behinderung; es gibt eine gute palliativmedizinische Betreuung) - von Akzeptanz geprägt sein.

Wichtig ist zu beachten, dass die Angehörigen nicht immer alle der genannten Phasen durchlaufen. Auch kann sich die Reihenfolge ändern. Die Kenntnis der Phasen erleichtert es jedoch, diese ursächlich richtig einordnen und angemessen auf sie reagieren zu können.

"Perspektivenkonvergenz"

Die Betreuung der Angehörigen ist keine lästige Nebenaufgabe in der Intensivmedizin, sondern gehört zum Gesamtbehandlungskonzept. Sie ist mittelbar auch eine Betreuung des Patienten, denn die Krise des Patienten ist vielfach auch eine Krise der Angehörigen und umgekehrt. Der sorgfältig und vernünftig vorbereitete Angehörige kann für den Kranken zu einer Quelle der Kraft werden. Andererseits kann der Angehörige, der im Behandlungsteam und auf der Intensivstation nur Feindbilder erkennt, die Betreuung des Patienten erheblich erschweren. Im Idealfall kann es jedoch gelingen, den Angehörigen im weitesten Sinne in das Behandlungsteam zu integrieren; dann ist er zum "Partner" geworden.

ÄrztInnen und Pflegende auf der Intensivstation, nicht selten physisch und emotional bis an die Grenzen belastet, sehen sich immer wieder vor die manchmal kaum lösbar erscheinende Aufgabe gestellt, eine tragfähige Brücke zu einem Angehörigen zu schlagen, den sie vielleicht als schwierig oder zumindest als zusätzliche Belastung erleben. Sie werden mit den vielfältigsten Reaktionen und Verhaltensweisen konfrontiert: Aggression, Trauer, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Schuldgefühle, Ängste, Vorwurfshaltung und Anspruchsdenken. In anderen Fällen bewegen den Angehörigen kindlich naive, magisch anmutende Illusionen einer "totalen Machbarkeit" durch den Einsatz des gesamten intensivmedizinischen Repertoires. Vielleicht wird er auch von apokalyptischen Visionen verfolgt, weil er in der Tagespresse das prolongierte Sterben Prominenter in allen Details mitverfolgen konnte.

Grundzüge des Umgangs mit Angehörigen von Intensivpatienten
 1.
Grundlage: Präsenz - Empathie - Akzeptanz
 2. Schock der "ersten Konfrontation" mildern!
 3. Behutsame, einfache, warmherzige Sprache
 4. Angemessener Gesprächsrahmen (keine "Flurgespräche")
 5. Hoffnung signalisieren!
 6. Reaktionsphase der Angehörigen berücksichtigen (Verleugnung? Überaktivität? Resignation?)
 7. Konstellation innerhalb der Familie und Familiendynamik beachten
 8. Gleicher Informationsstand für alle Angehörigen
 9. "Perspektivenkonvergenz"
10. Versuch, Angehörige in das Behandlungsteam zu integrieren = der Angehörige als Partner
Präsenz, Zuwendung, Empathie und Akzeptanz der entgegengebrachten Gefühle sind die Grundlage jeder Kommunikation zwischen Behandlungsteam und Angehörigen. Der nächste Schritt ist eine regelmäßige, verständliche, Angst abbauende und warmherzige Information. Was Angehörige ganz entscheidend erwarten, ist das unmittelbare Eingehen auf ihre aktuelle Situation und Hilflosigkeit.

Zunächst ist es wichtig, den Schock der ersten Konfrontation mit dem kranken Anverwandten zu mildern. Dieser Schock kann gemildert werden, wenn man den Angehörigen gut vorinformiert, ehe man ihn zum Patienten führt. Es ist vorteilhaft, wenn der Arzt bei der ersten Begegnung dabei ist, um gegebenenfalls auftauchende Fragen gleich beantworten zu können. Das Gespräch sollte bestimmt werden von einer behutsamen, einfachen Sprache, die immer auch Hoffnung signalisiert.

Es ist anzustreben, dass die Angehörigen auf einem möglichst gleichen Informationsstand gehalten werden, da sonst die Gefahr gegenseitiger Verunsicherung besteht. Günstig wirkt es sich aus, wenn bei mehreren Angehörigen ein Hauptansprechpartner gefunden werden kann, der für eine gleichmäßige Information und Beruhigung innerhalb der Familie sorgt. Dies muss nicht immer der oder die nächste Angehörige sein.

Wichtig ist es auch zu analysieren, in welcher der oben geschilderten Phasen sich die Angehörigen befinden, um ihre Fragen und ihr Verhalten besser einordnen zu können, scheinbar irrationale Reaktionen besser zu verstehen und zu tolerieren, Anschuldigungen und aggressives Verhalten richtig zu bewerten und das emotionale Aufschaukeln von Spannungen zwischen Angehörigen und Behandlungsteam zu verhindern.

Die Schwierigkeiten, in einer solchen psychologisch komplexen und emotional hoch gespannten Situation Gespräche zu führen, die die Belange des Patienten berücksichtigen, den Ansprüchen der Angehörigen Rechnung tragen und die medizinischen Notwendigkeiten plausibel machen, können enorm sein.

Die Zusammenführung der unterschiedlichen Perspektiven bietet die beste Chance für eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Angehörigen und Behandlungsteam: Es geht also im weitesten Sinne um eine größtmögliche "Perspektivenkonvergenz". Für ihr Gelingen sind aktives Zuhören, einfühlende Kommunikation und die Fähigkeit zu selbstkritischer Haltung die Grundlagen.

Ob der Angehörige also zum "Feind", zum "Freund" oder zum "Partner" des Behandlungsteams wird, liegt zu großen Teilen am Team selbst. Es hängt davon ab, ob es sich der triadischen Beziehung bewusst ist und sich nicht als Monade versteht und verhält.


Anmerkungen:

[1] Mitzkat, A.: Die Stellung von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung in Abhängigkeit von Dritten. Berlin 2007

[2] Geisler, L. S.: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. Frankfurt am Main 2002, 4. Auflage

[3] Geisler, L. S.: Kommunikation im Team. Online-Version des Vortrags vom 23. September 2006 in Hamburg auf dem 6. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. www.linus-geisler.de/vortraege/0609kommunikation-team.html

[4] Müller, F. G.; Thywissen, M.; Behrendt, W.: Der Intensivpatient und seine Angehörigen. In: Hannich, H.-J.; Wendt, M.; Lawin, P. (Hg): Psychosomatik in der Intensivmedizin. Stuttgart/New York 1983
 


Geisler, Linus: Feind, Freund oder Partner? - Angehörige im Krankenhaus
DR. MED. MABUSE, Nr. 167, Mai/Juni 2007, S. 23-26
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2007/200705mabuse-angehoerige.html

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