Feind, Freund oder Partner?
Angehörige im Krankenhaus
Linus Geisler
Für Angehörige
in der Klinik erscheint vieles, was für ÄrztInnen und Pflegende
Alltag ist, sehr bedrohlich. Schläuche, Apparate und hektisches Personal
lösen oft große Ängste aus. Was Angehörige erwarten,
ist das unmittelbare Eingehen auf ihre aktuelle Situation und ihre Hilflosigkeit.
Der Patient und sein Arzt -
ein dyadisches Bezugssystem, je hermetischer nach außen abgegrenzt,
umso besser. Dies entspricht der landläufigen Meinung. Doch die Wirklichkeit,
sie ist nicht so. In ihrem soeben erschienenen Buch "Die Stellung von Angehörigen
in der Gesundheitsversorgung in Abhängigkeit von Dritten" verdeutlicht
die Pflegewissenschaftlerin Anika Mitzkat, dass die Stellung des Angehörigen
in einer Triade zu sehen ist: Der Patient, der Angehörige und
"Dritte". [1] Dieser Dritte kann der Arzt sein, aber auch jeder andere
Akteur im Gesundheitssystem. Mit anderen Worten: In das Patient-Arzt-Bezugssystem
ist meistens als "Dritter" der oder die Angehörige eingebunden. Er
oder sie kann dort eine Nebenrolle spielen, aber auch den Hauptpart, wenn
es um einen nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten, zum Beispiel
im Koma oder in einem demenziellen Status, geht. Schließlich kann
der Angehörige, wenn er lange und belastet mit dem Leiden oder der
Behinderung seines Angehörigen konfrontiert ist, selbst zum Patienten
werden.
Mitläufer oder Querulant
Im klinischen Alltag sehen
ÄrztInnen und Pflegekräfte den Angehörigen nicht immer in
dieser differenzierten Rolle. Am ehesten fungiert er als "Mitläufer",
der sich passiv verhält oder seine Ängste querulatorisch umsetzt,
noch schlimmer, wenn er allen mit Internet-basiertem Wissen zusetzt oder
mit penetranter Klebrigkeit Station oder Praxis dauerhaft bedrängt.
Der (scheinbar) "ideale Angehörige" ist hingegen seltener anzutreffen.
Er passt sich den persönlichen, arbeitsspezifischen Bedürfnissen
des Personals an, respektiert dessen Autorität und unterwirft sich
widerstandslos allen Anordnungen und Maßnahmen. Er verzichtet auf
störende Eigenarten und Anliegen, zeigt Vertrauen und Dankbarkeit,
antwortet rückhaltlos und umfassend, wenn er gefragt wird, sagt selbst
aber nichts, wenn er nicht gefragt wird, und ist mit dem Maß an Kommunikation
zufrieden, das man ihm zubilligt. Dieser "Ideal-Angehörige" wäre
freilich eine kontraproduktive Gestalt und kaum zu ertragen.
Kein Wunder, dass die "Mitläuferrolle"
des Angehörigen nicht selten in einer entsprechend unwürdigen
Kommunikationsform augenfällig wird: im so genannten "Flurgespräch".
Es zählt nicht nur zu den ineffektivsten Gesprächsformen, sondern
ist Ausdruck der Unfähigkeit zum empathischen Umgang mit Menschen.
[2] Man sieht einen die Klinikflure entlangeilenden Arzt/Pflegenden, an
dessen Seite ein mithastender Angehöriger Brosamen einer fragmentierten,
kaum verständlichen Information abbekommt, die ihn mehr verstört
als stabilisiert.
Angehörige fallen unter
Umständen erst richtig auf, wenn - meistens für die Betroffenen
völlig überraschend - ein Rechtsanwaltsschreiben vermeintliche
oder nicht auszuschließende Behandlungsfehler moniert. Dann tritt
der Angehörige plötzlich aus seinem Schattendasein heraus und
imponiert als "Feind". Regelhaft ist jetzt festzustellen, dass dem Vorwurf
fehlerhafter Behandlung oder Betreuung schwere Kommunikationsverstöße
vorausgegangen sind.
Der Angehörige: Feind
- Freund - Partner? Wie die jeweilige Kategorisierung ausfällt, ist
nicht Schicksal, sondern hängt weitgehend vom behandelnden Team ab.
[3]
Zusammenstoß der
Wirklichkeiten
Je komplexer und verantwortungsvoller
das medizinische Terrain strukturiert ist, auf dem sich Behandlung und
Pflege abspielen, umso größer ist das Risiko, dass die Perspektiven
der Akteure und der Involvierten, wie beispielsweise der Angehörigen,
divergieren. Diese "Perspektivendivergenz" ist nicht selten die Grundlage
von Missverständnissen, Fehldeutungen und Dissonanzen, die auf das
Klima der Teamarbeit durchschlagen, das heißt zulasten des Patienten
gehen und beim Angehörigen zu verzerrten Wahrnehmungen führen.
Der Königsweg zur Wahrnehmung
und Interpretation der Perspektiven der Gesprächspartner ist ein von
aufmerksamer und einfühlender Zuwendung geprägter Dialog. Die
Qualität
der Intensivmedizin wird daher in hohem Maße mitbestimmt von
der Qualität der Kommunikation zwischen den Betroffenen und
den Beteiligten: den PatientInnen, ÄrztInnen, den Pflegekräften
und den Angehörigen. Jede dieser Gruppen erlebt und bewertet die Intensivmedizin
aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, genauer gesagt, erlebt sie in
verschiedenen Wirklichkeiten. Nirgendwo in der Medizin gewinnt das Phänomen
unterschiedlicher Wirklichkeiten
so enorme Bedeutung wie auf der Intensivstation,
und nirgendwo sind auch die Folgen des Verkennens und Nichtbeachtens dieses
Phänomens so schwer wiegend wie hier.
Beispielhaft und beeindruckend
wird die Perspektivendivergenz in einem konkreten Vorgang deutlich:
"Gestorben am
15. August 1977 -
erlöst am 1. Dezember
1979"
Mit dieser "Todesanzeige der
Bitternis" wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Dezember
1979 auf die Beerdigung eines 15-jährigen Schülers hingewiesen,
der nach einem Badeunfall wiederbelebt und über zwei Jahre auf einer
Intensivstation im Wachkoma behandelt worden war. Für die Angehörigen
war der in ihren Augen schon gestorbene Junge Objekt eines sinnlosen und
belastenden medizinischen Aufwands. Für die Behandelnden und Pflegenden
bedeutete es mehr als zwei Jahre eines intensiven und verantwortungsvollen
Einsatzes.
Der erste Eindruck ist
für die Angehörigen oft erschütternd
Gerade der "erste Eindruck"
der Angehörigen von einer Intensiveinheit, auf der sie, vielleicht
völlig unerwartet, ein Familienmitglied in einem kritischen Zustand
vorfinden, kaum zu erkennen und auszumachen hinter Geräten und Schläuchen,
trägt häufig schockartige Züge. In einer Befragung vom "ersten
Eindruck", den Angehörige von ihrem Familienmitglied auf der Intensivstation
hatten, wählten 26 der 29 Befragten die Beschreibung: "schrecklich
- Entsetzen - grauenvoll".
Die Perspektive des Patienten
hingegen kann davon völlig abweichend sein. Die Bedrohung des Menschen
durch die viel zitierte "Apparatemedizin", der er - dem Anschein nach -
gerade im Intensivbereich in monströser Form ausgesetzt ist, scheint
sehr viel mehr in der Wirklichkeit der Angehörigen, der Öffentlichkeit,
aber auch des Behandlungsteams zu existieren als in der des Patienten.
Nach Aussagen vieler Patienten ist die Angst vor den Apparaten (Monitoren,
Beatmungsgeräten, Infusionspumpen und so weiter) im Allgemeinen nicht
groß, oft gar nicht vorhanden. Häufig wird gerade der technische
Aufwand nicht als Bedrohung, sondern als sicherndes Element erlebt. In
einer Studie mit rund hundert Patienten, die im Schnitt drei Tage auf der
Intensivstation behandelt worden waren, bewerteten rund 85 Prozent der
retrospektiv Befragten den Aufenthalt dort als positiv, fühlten sich
"gut aufgehoben" oder waren "dankbar für die Hilfe". Über 80
Prozent wollten bei einem ähnlichen Krisenfall in der Zukunft wieder
auf einer Intensivstation behandelt werden. Damit soll die Behandlung auf
der Intensivstation nicht idealisiert werden, denn immer wieder kann sie
als extrem belastend oder als Horror erlebt werden.
Die Wirklichkeit der Angehörigen
Folgende Elemente bestimmen
die Wirklichkeit
und das Erleben der Angehörigen von
Intensivpatienten:
 |
schon
vorher gestörte Konstellationen
innerhalb der Familie erfahren
in der Krise eine scharfe Zuspitzung; |
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es
besteht ein ausgeprägtes Informationsbedürfnis über
den Zustand, therapeutische Maßnahmen und die Prognose, das nur ausnahmsweise
völlig befriedigt wird; |
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Informationen
werden oft
in großer Eile und von unterschiedlichen Mitgliedern
des Behandlungsteams gegeben; |
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missverständliche
oder widersprüchliche Aussagen des Behandlungsteams wecken Angst,
Unsicherheit, Misstrauen und Aggressionen; |
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die
Auskunft gebenden Personen des Teams werden als "Unglücksboten"
erlebt,
an denen sich Ängste, Zorn, Erregung und Aggressionen entladen; |
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die
Intensivbehandlung eines nahen Anverwandten bedeutet für Angehörige
vielfach nicht nur, dass ein Familienmitglied vital bedroht ist, sondern
dass sie sich selbst plötzlich in einer kritischen Lebensphase
befinden; |
 |
häufig
leiden
die
Angehörigen unter dem ungewissen Schicksal ihres Anverwandten sehr
viel mehr als der Patient selbst. |
Typische Phasen
Bei langwierigen Verläufen
lassen sich nicht selten typische Reaktionsmuster der Angehörigen
beobachten. [4] Deren Kenntnis ist für die Betreuung durch das Team
von Bedeutung:
1. Phase: Die
Angehörigen versuchen, die zunächst unerträglich wirkende
Diagnose zu verleugnen,
und weigern sich, die Krankheit anzunehmen.
2. Phase: Die
Angehörigen haben realisiert, dass der Patient vital bedroht ist oder
sterben muss, können es aber nicht akzeptieren und flüchten sich
in verschiedenste
Überaktivitäten.
3. Phase: Auf
die Phase der Überaktivitäten folgt die Entmutigung.
Die
Angehörigen werden sich der ganzen Tragweite des Geschehens bewusst,
Überempfindlichkeit und Misstrauen kommen auf.
4. Phase: Es
tauchen zahlreiche, teilweise belastende Fragen und Reaktionen
auf:
Wird alles getan? Warum wird der Patient beatmet? Was haben die vielen
Geräte für einen Sinn? Ist nicht alles nur sinnlose "Quälerei"?
Warum bekomme ich nur unzureichende Auskünfte?
5. Phase: Sie
ist häufig gekennzeichnet durch Resignation, sowohl rational
als auch emotional, kann aber auch - abhängig von der Situation (Beispiele:
der Patient überlebt mit einer Behinderung; es gibt eine gute palliativmedizinische
Betreuung) - von Akzeptanz geprägt sein.
Wichtig ist zu beachten,
dass die Angehörigen nicht immer alle der genannten Phasen durchlaufen.
Auch kann sich die Reihenfolge ändern. Die Kenntnis der Phasen erleichtert
es jedoch, diese ursächlich richtig einordnen und angemessen auf sie
reagieren zu können.
"Perspektivenkonvergenz"
Die Betreuung der Angehörigen
ist keine lästige Nebenaufgabe in der Intensivmedizin, sondern gehört
zum Gesamtbehandlungskonzept. Sie ist mittelbar auch eine Betreuung des
Patienten, denn die Krise des Patienten ist vielfach auch eine Krise der
Angehörigen und umgekehrt. Der sorgfältig und vernünftig
vorbereitete Angehörige kann für den Kranken zu einer Quelle
der Kraft werden. Andererseits kann der Angehörige, der im Behandlungsteam
und auf der Intensivstation nur Feindbilder erkennt, die Betreuung des
Patienten erheblich erschweren. Im Idealfall kann es jedoch gelingen, den
Angehörigen im weitesten Sinne in das Behandlungsteam zu integrieren;
dann ist er zum "Partner" geworden.
ÄrztInnen und Pflegende
auf der Intensivstation, nicht selten physisch und emotional bis an die
Grenzen belastet, sehen sich immer wieder vor die manchmal kaum lösbar
erscheinende Aufgabe gestellt, eine tragfähige Brücke zu einem
Angehörigen zu schlagen, den sie vielleicht als schwierig oder zumindest
als zusätzliche Belastung erleben. Sie werden mit den vielfältigsten
Reaktionen und Verhaltensweisen konfrontiert: Aggression, Trauer, Hilflosigkeit,
Unsicherheit, Schuldgefühle, Ängste, Vorwurfshaltung und Anspruchsdenken.
In anderen Fällen bewegen den Angehörigen kindlich naive, magisch
anmutende Illusionen einer "totalen Machbarkeit" durch den Einsatz des
gesamten intensivmedizinischen Repertoires. Vielleicht wird er auch von
apokalyptischen Visionen verfolgt, weil er in der Tagespresse das prolongierte
Sterben Prominenter in allen Details mitverfolgen konnte.
Grundzüge des Umgangs
mit Angehörigen von Intensivpatienten |
1. |
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Grundlage:
Präsenz - Empathie - Akzeptanz |
2. |
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Schock
der "ersten Konfrontation" mildern! |
3. |
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Behutsame,
einfache, warmherzige Sprache |
4. |
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Angemessener
Gesprächsrahmen (keine "Flurgespräche") |
5. |
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Hoffnung
signalisieren! |
6. |
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Reaktionsphase
der Angehörigen berücksichtigen (Verleugnung? Überaktivität?
Resignation?) |
7. |
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Konstellation
innerhalb der Familie und Familiendynamik beachten |
8. |
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Gleicher
Informationsstand für alle Angehörigen |
9. |
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"Perspektivenkonvergenz" |
10. |
|
Versuch,
Angehörige in das Behandlungsteam zu integrieren = der Angehörige
als Partner |
|
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Präsenz, Zuwendung, Empathie
und Akzeptanz der entgegengebrachten Gefühle sind die Grundlage jeder
Kommunikation zwischen Behandlungsteam und Angehörigen. Der nächste
Schritt ist eine regelmäßige, verständliche, Angst abbauende
und warmherzige Information. Was Angehörige ganz entscheidend erwarten,
ist das unmittelbare Eingehen auf ihre aktuelle Situation und Hilflosigkeit.
Zunächst ist es wichtig,
den Schock der ersten Konfrontation mit dem kranken Anverwandten zu mildern.
Dieser Schock kann gemildert werden, wenn man den Angehörigen gut
vorinformiert, ehe man ihn zum Patienten führt. Es ist vorteilhaft,
wenn der Arzt bei der ersten Begegnung dabei ist, um gegebenenfalls auftauchende
Fragen gleich beantworten zu können. Das Gespräch sollte bestimmt
werden von einer behutsamen, einfachen Sprache, die immer auch Hoffnung
signalisiert.
Es ist anzustreben, dass
die Angehörigen auf einem möglichst gleichen Informationsstand
gehalten werden, da sonst die Gefahr gegenseitiger Verunsicherung besteht.
Günstig wirkt es sich aus, wenn bei mehreren Angehörigen ein
Hauptansprechpartner gefunden werden kann, der für eine gleichmäßige
Information und Beruhigung innerhalb der Familie sorgt. Dies muss nicht
immer der oder die nächste Angehörige sein.
Wichtig ist es auch zu analysieren,
in welcher der oben geschilderten Phasen sich die Angehörigen befinden,
um ihre Fragen und ihr Verhalten besser einordnen zu können, scheinbar
irrationale Reaktionen besser zu verstehen und zu tolerieren, Anschuldigungen
und aggressives Verhalten richtig zu bewerten und das emotionale Aufschaukeln
von Spannungen zwischen Angehörigen und Behandlungsteam zu verhindern.
Die Schwierigkeiten, in einer
solchen psychologisch komplexen und emotional hoch gespannten Situation
Gespräche zu führen, die die Belange des Patienten berücksichtigen,
den Ansprüchen der Angehörigen Rechnung tragen und die medizinischen
Notwendigkeiten plausibel machen, können enorm sein.
Die Zusammenführung
der unterschiedlichen Perspektiven bietet die beste Chance für eine
partnerschaftliche Beziehung zwischen Angehörigen und Behandlungsteam:
Es geht also im weitesten Sinne um eine größtmögliche "Perspektivenkonvergenz".
Für ihr Gelingen sind aktives Zuhören, einfühlende Kommunikation
und die Fähigkeit zu selbstkritischer Haltung die Grundlagen.
Ob der Angehörige also
zum "Feind", zum "Freund" oder zum "Partner" des Behandlungsteams wird,
liegt zu großen Teilen am Team selbst. Es hängt davon ab, ob
es sich der triadischen Beziehung bewusst ist und sich nicht als Monade
versteht und verhält.
Anmerkungen:
[1] Mitzkat, A.: Die Stellung
von Angehörigen in der Gesundheitsversorgung in Abhängigkeit
von Dritten. Berlin 2007
[2] Geisler, L. S.: Arzt
und Patient - Begegnung im Gespräch. Frankfurt am Main 2002, 4. Auflage
[3] Geisler, L. S.: Kommunikation
im Team. Online-Version des Vortrags vom 23. September 2006 in Hamburg
auf dem 6. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
www.linus-geisler.de/vortraege/0609kommunikation-team.html
[4] Müller, F. G.; Thywissen,
M.; Behrendt, W.: Der Intensivpatient und seine Angehörigen. In: Hannich,
H.-J.; Wendt, M.; Lawin, P. (Hg): Psychosomatik in der Intensivmedizin.
Stuttgart/New York 1983
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Geisler, Linus: Feind, Freund
oder Partner? - Angehörige im Krankenhaus |
DR. MED. MABUSE, Nr. 167,
Mai/Juni 2007, S. 23-26 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2007/200705mabuse-angehoerige.html |
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