Sichert, wie es der Soziobiologe
Edward Osborne Wilson annimmt, Religion einen Überlebensvorteil? Kann
Glauben heilen und Spiritualität eine wichtige Rolle bei der Bewältigung
von Krankheiten spielen? Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Religiosität
und der Lebenszufriedenheit, ja sogar der Fähigkeit das Leben zu bewältigen?
Oder ist Spiritualität eine Droge mit Abhängigkeitspotenzial
und der Mensch, wie der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew
konstatiert, "unheilbar religiös"? Linus S. Geisler gibt Antworten.
Spiritualität in der Medizin
Arznei - Placebo - Droge?
Linus S. Geisler
Die letzten Lebensjahre Heinrich
Heines waren eine unablässige Qual. Heine, bettlägerig, gelähmt
und von schmerzhaften Krämpfen gepeinigt, nannte sein Leiden den "lebendigen
Tod". Ärzte hatten ihm vier Wunden in die Haut gebrannt, die künstlich
offen gehalten wurden, um sie mit linderndem Opiumpulver zu bestreuen.
Heine, der in seinem Wintermärchen den Himmel den Engeln und den Spatzen
überlassen hatte, kehrte nun zum Gott der hebräischen Bibel zurück,
freilich nicht ohne Zynismus: "Gottlob, dass ich jetzt wieder einen Gott
habe, da kann ich mir doch im Uebermaaße des Schmerzes einige fluchende
Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist eine solche Labung nicht
vergönnt." [1]
Auch die Blasphemie kann
Dialog mit Gott sein, vielleicht sogar intensiver als die rituelle Lobpreisung.
Ja, noch mehr: Die Gotteslästerung mag sogar therapeutische Züge
tragen. Heine selbst nannte sie eine "Labung". In der Sprache der Religionssoziologie
könnte man von "religiösem Coping", von religiösem Bewältigungsverhalten
sprechen. [2] In dem Buch des Leids des iranischen Mystikers Farid od-Din
Attar (um 1200 n. Chr.) werden gerade diejenigen, die an Gott in verzweifelter
Blasphemie festhalten, als die wahrhaft Frommen beschrieben. [3]
Heines Krankheitserleben
ein spirituelles Geschehen? Einiges könnte dafür sprechen: Selbsttranszendenz,
Gottesbezug und heilende, zumindest lindernde Aspekte sind im Spiel. Das
wesentliche Kriterium von Spiritualität, nämlich die Erfahrung
einer transzendenten, das individuelle Ich übersteigenden Wirklichkeit
lässt sich ausmachen (Harald Walach [4]).
Die Gottesanrufung im Leiden
als Klage oder Anklage ist von biblischem Alter. Im 56. Psalm findet sich
die Anrufung: Sammle meine Tränen in einem Krug. Und im 30. Psalm
heißt es nach Errettung aus schwerer Krankheit: Da hast du in Reigentanz
gewandelt meine Klage. Allerdings kann Leid auch als "Fels des Atheismus"
erlebt werden. "Das leiseste Zucken des Schmerzes macht einen Riss in der
Schöpfung von oben bis unten", heißt es bei Büchner in
Dantons Tod [5]. Doch der Atheist im Versuch der beharrlichen Ablehnung
Gottes ist diesem manchmal näher als der nicht von Zweifeln gepeinigte
Gläubige.
Spirituelle Erfahrungen sind
demnach nicht grundsätzlich an Religion, Religiosität oder Frömmigkeit
gebunden, auch wenn Spiritualität das Herzstück jeder Religion
bildet. Selbst der Atheist kann von spirituellen Erfahrungen überwältigt
werden. In welchem Lager er sich danach wiederfindet, ist eine andere Sache.
Insofern ist die Frage von geringerem Gewicht, ob die verstärkte Beachtung
des Phänomens Spiritualität vor einem postsäkularen Hintergrund
und der viel zitierten "Rückkehr der Religionen" zu begreifen ist,
als der Disput um eine globale Resakralisierung und Respiritualisierung
annehmen lässt.
Wellness-Gläubigkeit
und Kuschelgott?
In säkularisierten Gesellschaften
scheinen regelhaft Prozesse abzulaufen, die zunächst zur "Entchristlichung",
dann zur "Entkirchlichung" und schließlich durch die Rationalisierung
aller Lebensbereiche zur "Entzauberung der Welt" führen (Max Weber).
[6]
Die Frage ist, ob Menschen
dauerhaft diesen Zauber entbehren möchten, ja können? In moderner
Diktion ist Spiritualität eine Systemeigenschaft des lebendigen Menschen,
der sich durch Subjektivität, Kommunikation und Selbsttranszendenz
auszeichnet (Eckhard Frick [7]). Spiritualität ist strukturell im
Menschen angelegt, sie erweist sich als anthropologische Konstante. Offenbar
geht von ihr jener Zauber aus, der in säkularen Gesellschaften vermisst
wird. So gesehen ist das Phänomen boomender Sehnsucht bei schrumpfenden
Kirchen, wenn diese die spirituellen Bedürfnisse von Menschen nicht
mehr stillen können, kein paradoxes Geschehen. Es wächst quasi
aus "moderner Säkularität moderne Spiritualität" [8], oder
anders: Religion verblasst, Religiosität hat Konjunktur (Joachim Kunstmann
[9]).
Die Perspektiven ändern sich dramatisch,
wenn bisher fest gefügte Wirklichkeiten über Nacht zerbersten,
Letztbegründungsfragen ins Leere gehen, im Abgrund der Angst weder
Hoffnung noch Rettendes aufschimmert. |
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Selbst säkulare Philosophen
wie Habermas anerkennen nunmehr die Wertebildung der Religion für
eine harmonische Gesellschaft, auch wenn sie persönlich nicht religiös
sind. Am 11. September 2001, so Habermas, sei die Spannung zwischen säkularer
Gesellschaft und Religion explodiert: "Als hätte das verblendete Attentat
im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite
in Schwingung versetzt, füllten sich überall die Synagogen, die
Kirchen und die Moscheen." [10]
Nach Forschungsergebnissen
von NRM (New Religious Movement) hat die Zahl der Religionen und der Gläubigen
im 20. Jahrhundert erheblich zugenommen [11]. Nicht nur das Erstarken des
Islam in seiner fundamentalistischen Ausprägung, sondern auch das
Gefühl einer universellen terroristischen Bedrohung, Naturkatastrophen
ungeahnten Ausmaßes, das immer neue Auftauchen bisher unbekannter
ethischer Probleme (Embryonenverbrauch, Klonen, genetische Manipulation)
werden als weitere Triebfedern einer religiösen Neubesinnung in der
westlichen Welt interpretiert. Neue Religiosität kann begriffen werden
als ein Protestphänomen gegen das geheimnislose Wirklichkeitsverständnis
der Moderne. [12] Insofern hatte André Malraux vorausschauend Recht,
als er in seinem Werk "So lebt der Mensch" 1933 schrieb: "Das einundzwanzigste
Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein." [13]
Revitalisierung von Religionen
bei gleichzeitiger fortschreitender Säkularisierung müssen nicht
als widersprüchliche Phänomene verstanden werden, sondern sind
vielleicht nur zwei Seiten desselben sozialen Transformationsprozesses.
Enorme Fortschritte, beispielsweise auf dem Gebiet der Medizin, vermitteln
einerseits das Gefühl ubiquitärer Kontrolle über bisher
schicksalhafte Bedrohungen und Risiken, andererseits entstehen daraus gleichzeitig
neue Dimensionen von Machtlosigkeit und Risiken, die zur Quelle neuer religiöser
und spiritueller Gruppierungen und Strömungen werden können (Martin
Riesebrodt [14]).
Aber ist, wo "Religion" draufsteht,
auch Religion drin? Neue Religiosität als Megatrend entpuppt sich
bei genauerem Hinsehen häufig als Megatrend der Gottvergessenheit.
Sie ist dem Vorwurf der Wellness-Gläubigkeit ausgesetzt, der Wohlfühlreligion,
die einem unverbindlichen "Kuschelgott" dient (Kardinal Meisner [15]).
Glaubensbereitschaft als Willen zum Glauben bedient sich der Attitüde
des Glaubens selbst. Christliche Großereignisse wie Papstwahl, gigantische
Kirchentage oder der katholische Weltjugendtag in Köln sollen nicht
mehr sein als religiöses Fast Food, nicht Spiritualität, sondern
lediglich Event [16]. Alles nur "religioides" Gehabe, während wir
bereits in einem postreligiösen Zeitalter leben? Vielleicht ist alles
ganz anders. Die Säkularisierungsthese, wonach die Menschheit immer
unreligiöser, zweckrationaler und diesseitiger wird, gilt als widerlegt.
Favorisiert wird die These vom "Religionserhaltungssatz", so wie es in
der Physik einen "Energieerhaltungssatz" gibt. Die Summe aller Energie
bleibt konstant und ändert nur ihre Form. In diesem Sinne scheint
es auch eine religiöse Grundenergie im Menschen zu geben. Sie schlüpft
in verschiedene Gewänder, aber macht keine Anstalten zu verschwinden
(Hans-Dieter Mutschler [17]).
Neue Wirklichkeiten
Krankheit, Leiden und Sterben
von Menschen sind keine Events. Die Perspektiven ändern sich dramatisch,
wenn bisher fest gefügte Wirklichkeiten über Nacht zerbersten,
Letztbegründungsfragen ins Leere gehen, im Abgrund der Angst weder
Hoffnung noch Rettendes aufschimmert. In der spirituellen Krise bekommt
die Kierkegaard‘sche Erkenntnis existenziellen Sinn: "Der Spaß, ein
Menschenleben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß, der
Ernst ist, selig zu sterben." C. G. Jung nennt in seiner Autobiographie
als entscheidende Frage für den Menschen: "Bist du auf Unendliches
bezogen oder nicht?" [18] In der Palliativmedizin ist wahrscheinlich schon
das Äußerste erreicht, falls es gelingt, wenn nicht selig, so
doch versöhnt zu sterben.
Die Schweizer Psychotherapeutin
und Psychoonkologin Monika Renz hat bei der Hälfte ihrer Krebspatienten
und Schwerstkranken spirituelle Erlebnisse und Erfahrungen registriert.
Neben einer Linderung körperlicher Symptome konnte sie bei ihren Patienten
vor allem eine versöhntere Beziehung zu ihrer Krankheit beobachten
(Monika Renz: Grenzerfahrung Gott). [19]
Spirituelle Erfahrungen sind
nicht ohne weiteres der sprachlichen Konkretisierung zugänglich, denn
es geht um Beschreibungen einer völlig neuen Wirklichkeit. Doch lassen
sich Grundmuster spiritueller Erfahrungen herausarbeiten: Eins-Sein mit
dem "Anderen", Gegenübererfahrungen mit einem Äußersten,
Numinosen, einem überwältigenden Gegenüber, das auch väterliche
oder mütterliche Züge tragen kann, schließlich direkte
Gotteserfahrungen.
Allerdings ist nicht jede
außergewöhnliche Erfahrung spiritueller Natur, wie zum Beispiel
ekstatische, visionäre oder auditive Ereignisse, parapsychologische
oder okkulte Phänomene oder Erlebnisse von "Dekonstruktion und Ichauflösung".
Die scharfe Abgrenzung gegenüber psychopathologischen Erfahrungen
kann gelegentlich schwierig sein. [20] Auch die New-Age-Bewegung ist nicht
eigentlich spirituell, sondern eher nach innen gerichtet, und zielt auf
Selbstfindung und Selbsterfahrung und nicht auf Transzendenz ab. [21]
Religion ist der Versuch
einer Antwort auf die radikale Zufälligkeit und Ungesichertheit menschlichen
Daseins (Eugen Drewermann [22]). Soziobiologen wie Edward Osborne Wilson
machen es sich zu leicht, wenn sie Religion lediglich als Überlebensvorteil
deuten. Lebewesen, die sich einen Gott vorstellen, der ihnen ein ewiges
Leben und unsterbliches Glück garantiert, sollen evolutionsbiologisch
die besseren Karten haben. Religion als nützliche Illusion? Doch spirituelle
Erfahrungen sind mehr als Illusion. Sie sind Wirklichkeit, völlig
neuartig und oft überwältigend. Aus dieser beziehen sie ihr existenzielles
Gewicht.
Gott als biometrischer
Faktor?
Vor allem in der angelsächsischen
Literatur findet sich eine Vielzahl von Belegen für die positive Bedeutung
von Spiritualität für Krankheitsbewältigung, den Verlauf
körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität
von Kranken mit konkreten Bezügen zur klinischen Medizin.
-
In dem amerikanischen "Handbuch
für Religion und Gesundheit" sind mehr als 1200 Studien erfasst, die
zwischen körperlicher Gesundheit und persönlichem Glauben einen
positiven statistischen Zusammenhang belegen, den man kausal interpretieren
kann. Wer glaubt, ist gesünder, verfügt über mehr Bewältigungsstrategien,
genießt eine höhere Lebenszufriedenheit und sogar eine höhere
Lebenserwartung. [23]
-
In Zwillingsstudien, in denen
sieben Dimensionen der Religiosität einbezogen wurden, zeigte sich,
dass bestimmte religiöse Faktoren mit einem geringeren Risiko für
Angst- und Panikstörungen sowie für Suchterkrankungen verbunden
waren. [24]
-
In einer Meta-Analyse von 147
Studien mit rund 100 000 Personen zum Zusammenhang zwischen Religiosität
und Depressivität wurde deutlich, dass stärker ausgeprägte
Religiosität mit weniger depressiven Symptomen einhergeht. [25]
-
Eine andere Meta-Analyse (29
unabhängige Untersuchungen an 126 000 Personen) ergab: Religiöses
Engagement ist mit einer längeren Lebensdauer verbunden. [26]
Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) räumt der Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse
in der Palliativmedizin hohe Priorität ein. Spirituelle Begleitung
zählt zu den vordringlichen Bedürfnissen todkranker Menschen
auf dem Weg zu einem "guten Tod". Für Palliativmedizin und Hospizarbeit
gilt Spiritualität als tragende Säule. So kann es als gesichert
gelten, dass spirituelles Wohlbefinden (spiritual well-being) den wichtigsten
Faktor für die Lebensqualität von Patienten mit Krebs im Endstadium
bildet. [27]
Allerdings bleibt kritisch
zu hinterfragen, was solche Studien tatsächlich aussagen und wo ihre
grundsätzlichen methodischen Grenzen liegen. Beschreiben auch methodisch
einwandfreie Arbeiten nicht doch nur Zusammenhänge, die auf dem Hintergrund
eines materialistischen Weltbildes erklärbar sind? Spirituelle Phänomene
nach den Kriterien einer evidenzbasierten Wissenschaft zu bewerten, beinhaltet
die Gefahr eines grundsätzlichen Kategorienfehlers. Werden nicht die
wesentlichen Wirkprinzipien von Spiritualität durch Methoden, die
bei doppelblinden, kontrollierten Studien zur Arzneimittelwirksamkeit Standard
sind, vielleicht eher verschleiert als enthüllt und Religion für
eine vordergründige Körper-Reparatur-Medizin instrumentalisiert?
[28]
Verschiedene Untersuchungen
zeigen, dass religiöse Menschen weniger gefährdet sind, an Depression
zu erkranken oder Selbstmord zu begehen. Religionen leben aus dem Ritual,
ihren Regeln und ihrer Tradition. Sie sind sozial in hohem Maße prägend
und verbindend. Die Frage ist, ob Religiosität gesundheitliche Effekte
entfaltet, die mehr institutionell als spirituell bedingt sind. Können
Religionen nicht schon durch diese Konstituenten positive Auswirkungen
auf Gesundheit und Krankheit entfalten? Eine Reihe von Hypothesen scheint
diese Annahme zu stützen (Sebastian Murken, 1998 [29]): Das Leben
in Glaubensgemeinschaften begünstigt gesundheitsförderliches
Verhalten und entfaltet positive Wirkungen durch den Puffer-Effekt sozialer
Beziehungen. Der Glaube bietet kognitive Prozesse an, die eine kognitiv-emotionale
Stimmigkeit der Lebenswelt ermöglichen (Kohärenzhypothese). Bei
kritischen Lebensereignissen haben religiöse Menschen einen Bewältigungsvorteil,
indem ihnen bewährte Copingstrategien zur Verfügung gestellt
werden (Coping-Hypothese). Eine intensive Gottesbeziehung verstärkt
psychische Prozesse, welche den Selbstwert aufbauen und regulieren (Selbstwert-Hypothese).
Doch zeigen sorgfältige Untersuchungen, dass die Wirkung von Spiritualität
über diese eher unspezifischen Effekte von Religiosität hinausreicht.
USA-Import Spiritualität?
US-amerikanische Verhältnisse
können, was Religiosität und Spiritualität angeht, nicht
unbesehen auf europäische Gesellschaften übertragen werden. Die
US-Amerikaner erscheinen häufig als ein besonders religiöses
Volk. Sie leben schließlich in gods own country. Je nach Untersuchung
glauben bis zu 95 Prozent an Gott. Der überwiegende Teil gibt an,
täglich bis wöchentlich zu beten. 85 Prozent besuchen sonntags
einen Gottesdienst (in Deutschland 5-7 Prozent). Es gilt der Slogan: Smart
people pray.
An die siebzig universitäre
Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität beschäftigen,
existieren in den Vereinigten Staaten. Dementsprechend ist dort die Medizin
trotz ihrer Hochtechnisierung wesentlich stärker spirituell geprägt
als bei uns. Dass Ärzte ihren Patienten anbieten, mit ihnen gemeinsam
zu beten, ist in den USA keine Seltenheit, in Deutschland jedoch kaum denkbar.
Immerhin beten, so eine deutsche Studie, 20 Prozent der befragten deutschen
Psychoanalytiker für ihre Patienten. [30]
Die Kehrseite der Medaille
Kann Spiritualität auch
unerwünschte gesundheitliche Effekte entfalten? Tönung und Qualität
der Gottesbeziehung entscheiden über ihre Auswirkungen. Der amerikanische
Religionspsychologe Pargament unterscheidet zwischen den "bitteren und
süßen" Auswirkungen von Religiosität: Während eine
verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion, die auf einer vertrauensvollen
Gottesbeziehung beruht, sich positiv auf das seelische Wohlbefinden auswirkt,
beeinträchtigen eine rein anerzogene und unreflektierte Religion sowie
eine schwach ausgeprägte Gottesbeziehung das Wohlbefinden. [31] Allport
hat zwischen extrinsischer und intrinsischer Religion unterschieden. [32]
Extrinsische Religion ist durch von außen auferlegte oder erzwungene
Verhaltensmuster gekennzeichnet, während intrinsische Religion das
Ausüben von Religion aus eigenem Antrieb und Bedürfnis meint.
Günstige gesundheitliche Auswirkungen sind nur von intrinsischer Religion
zu erwarten, während extrinsisch religiös orientierte Menschen
zum Beispiel verstärkt zu Depressionen neigen. [33] Ein negatives
Gottesbild und eine von Angst geprägte Religiosität, ein strafender
Gott und sozialer Druck wirken sich nachteilig auf die Lebensqualität
aus, wie zahlreiche Studien belegen. [34]
Für Descartes war der
Tod die große Unvorhersehbarkeit. Der Tod erscheint als das vollkommen
Andere und Fremde, das Unberechenbare schlechthin. Dies erscheint dem Menschen
der Moderne nicht hinnehmbar. Er strebt nach Risikokalkül im Leiden
und Sterben. Er will einen programmierten, berechenbaren Tod. Im Sterbeprozess
darf möglichst nichts Ungeplantes auftauchen. Patientenverfügungen
sind der fragwürdige Versuch der Vorausbestimmung der Sterbemodalitäten.
Der selbst organisierte Tod wird zum Ziel. "Wie willst du gestorben werden?",
fragt Marianne Gronemeyer. Die Neurowissenschaften suggerieren dem Menschen,
allein gelassen zu sein unter einem von Göttern gründlich leer
gefegten Himmel (W. Singer [35]). Gott wird allenfalls die Stelle eines
neuronalen "Hirngespinstes" zugewiesen.
Wo ist hier Raum für
spirituelles Erleben und spirituelle Erfahrung? Die Antwort liegt in der
Grundsehnsucht des Menschen nach einer Wirklichkeit, die die seines Ichs
übersteigt. Sie kann verdeckt oder verschüttet sein, verleugnet
oder vergessen. Sie taucht vielleicht erst wieder in Grenzsituationen und
extremen Erlebnissen auf. Es ist erwiesen, dass die meisten kritisch erkrankten
Patienten sich mit der Sinnfrage auseinandersetzen und rund die Hälfte
sich mit spirituellen Fragen beschäftigt. [36]
Für Jacques Lacan, Psychoanalytiker
und Philosoph, ist der Mensch immer zugleich "désir" (Sehnsucht)
und "manque" (Entbehrung). |
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Spirituelle Sehnsucht gehört
zur Conditio humana. Der Mensch sei "unheilbar religiös", hat der
russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew konstatiert. Diesem maßlosen
Sehnen kann er nicht entrinnen und es in diesem irdischen Leben nie ganz
stillen. Karl Rahner nannte das Leiden an der immer offenen Sehnsucht "Gottes
charmante Art, sich bei uns Gottvergessenen in Erinnerung zu halten". [37]
In einem weiteren Sinn, jenseits von Glaube und Religion, ist spirituelle
Sehnsucht die Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit, weil es Situationen
und Zustände gibt, in denen wir erfahren, dass die Alltagswirklichkeit
keine umfassende Antwort auf die Fragen gibt, die uns im Innersten bewegen.
Die spirituelle Wirklichkeit ist transzendentaler Natur. Sie ist nicht
weniger "wirklich" als die Alltagswirklichkeit. Alltägliche und spirituelle
Wirklichkeit sind komplementär in einem konstituierenden Sinne. "Existenz
ist nicht für sich allein und nicht alles; denn sie ist nur, wenn
sie bezogen ist auf andere Existenz und auf Transzendenz" (Karl Jaspers).
Es geht daher nicht um die Frage, ob Spiritualität in der Medizin
einen Stellenwert hat, sondern inwiefern sie zum Wesen der Medizin gehört.
Damit stellen sich rein pragmatisch
zwei Fragen: 1. Welcher Zugang ist für den Arzt, den Begleiter, den
Pflegenden zu der spirituellen Innenwelt des Kranken möglich? 2. In
welche Beziehung können Spiritualität und Wissenschaft zueinander
gebracht werden? Was den Zugang angeht, sind in den USA, unter anderem
vom American College of Physicians (ACP) [38], formalisierte Fragenkataloge
zur Erhebung einer "spirituellen Anamnese" entwickelt worden, die bereits
zu den Lehrinhalten im Medizinstudium zählen. Erste Modelle gibt es
auch bei uns (Weber und Frick). [39] Die Wahrnehmung von Spiritualität
setzt von Seiten des Arztes/Therapeuten eine gewisse Sensibilität
voraus. Sie bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen
Welt des Patienten, die sich keineswegs eines "spirituellen" Vokabulars
bedienen muss. Spiritualität kann viele Namen und Gesichter haben.
So heißt es schon in der "Bhagavadgita", einem altindischen religiösen
Lehrgedicht: Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich
es, der antworten wird."
Das Andere
Spiritualität und Wissenschaft
verfolgen das gleiche Ziel: die Wirklichkeit holistisch zu verstehen. Ihre
(Wieder-)Verbindung bewirkt den besten Zugang zu einem umfassenden Verständnis
der Welt. [40] Insofern ist Spiritualität nicht nur als Forschungsziel
attraktiv, sondern durch die Eröffnung von Inneneinsichten bereichernd
für die Wissenschaft. Der Weg dahin ist allerdings noch weit: 93 Prozent
aller befragten Wissenschaftler der National Academy of Science glauben
nicht an einen Gott oder an die Unsterblichkeit der Seele. Von den 7 Prozent
Gläubigen waren die meisten Mathematiker und Physiker. Das Schlusslicht
bildeten Biologen und Psychologen. [41]
Die Metapher von Glauben
und religiöser Aktivität als einer Art einzigartigem "kombinierten
Wirkstoff" simplifiziert vordergründig Spiritualität als "Wunderdroge".
Spiritualität ist jedoch weder Wundermittel noch Placebo noch Droge
mit Abhängigkeitspotenzial. Solche Kategorisierungen hießen,
Spiritualität mit den begrenzten Mitteln psychopharmakologischer Methoden
verstehen zu wollen. Sie verkennen das Wesen von Spiritualität als
innere Erfahrung eines transzendentalen Seins, die sich ereignet oder auch
nicht. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass in spirituellen Erfahrungen
und in spirituellem Erleben machtvolle therapeutische Ressourcen liegen.
Spiritualität lässt
sich allerdings nicht therapeutisch instrumentalisieren oder an Absichten
binden. Spiritualität kann nicht verordnet werden wie Penicillin,
obwohl in den USA die Frage "Sollen Ärzte religiöse Aktivitäten
verordnen?" in renommierten Fachzeitschriften ernsthaft diskutiert wird.
[42] Auf so genannte messbare Effekte kommt es nicht in erster Linie an,
sondern auf die Eröffnung von anderen Wirklichkeiten, in denen Gesundheit
und Krankheit in einem anderen Bezugssystem einer neuen Auslegung zugänglich
werden. Eine Medizin, die diese andersartige Realität auszublenden
versucht, muss sich dem Vorwurf aussetzen, defizitär zu sein.
Leseempfehlungen des Autors
Renz, M.: Grenzerfahrung
Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg 2003.
Utsch, M.: Religiöse
Fragen in der Psychotherapie. Stuttgart 2005.
Koenig, H. G.: Spirituality
In Patient Care. Why, How, When, and What. Templeton Foundation Press.
Philadelphia & London 2002.
Riesebrodt, M.: Die Rückkehr
der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen". München,
2. Auflage 2001.
Hempelmann, R., et al: Panorama
der neuen Religiosität. Gütersloh 2005.
Geisler, L. S.: Glaube als
wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung.
www.linus-geisler.de/vortraege/0510mw_glaube.html
- Interner
Literatur
[1] Heine H: Sämtliche
Schriften IV/1, 476
[2] Pargament, KI; Brant,
CR: Religion and coping, in: HG Koenig (Ed.), Handbook of Religion and
Mental Health, San Diego 1998, 111-128
[3] Kermani N: Attar, Hiob
und die metaphysische Revolte. München 2005
[4] Walach H: Spiritualität
als Ressource - Ein neues Forschungsfeld und seine Chancen und Probleme.
Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2005;37:4-12
[5] Büchner G: Dantons
Tod. 3. Akt. 1835
[6] Weber M: Wirtschaft und
Gesellschaft. Frankfurt/Main. 2005. S. 396
[7] Frick E: Glauben ist
keine Wunderdroge. Hilft Spiritualität bei der Bewältigung schwerer
Krankheit? Herder Korrespondenz 56 1/2002 S. 41-46
[8] Zulehner PM: Globalisierung
der Weltanschauungen. EZW Materialdienst 9/2005. S. 323
[9] Kunstmann J: Zur Lage
der Religion in der spätmodernen Gesellschaft. Bewusst gemacht. http://www.bewusst-gemacht.de/
- Externer
[10] Habermas J: Glauben
und Wissen. Dankesrede des Friedenspreisträgers. 10.10.2001. Habermas
spricht dort von einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das
"Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend
säkularisierenden Umgebung einstellt."
[11] Im Namen Gottes. Süddeutsche
Zeitung, 04.04.2002 (Feuilleton). Der Artikel nimmt Bezug auf die 2. Auflage
der World Christian Encyclopedia der amerikanischen Theologen David Barrett,
George Kurian und Todd Johnson
[12] Hempelmann R: Einführung.
In: Hempelmann R et al (Hg.): Panorama der neuen Religiosität. Gütersloh
2005.
[13] Malraux A: La condition
humaine. Paris 1933
[14] Riesebrodt M: Die Rückkehr
der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen“. 2. Auflage.
München 2001.
[15] Ein Gott zum Kuscheln.
Der Tagesspiegel. 10.04.2004
[16] Schnädelbach H:
Wiederkehr der Religion? Universitas. November 2005. Nummer 713
[17] Mutschler H-D: Der Gegensatz
zwischen Technik und Religion. In: Hempelmann R et al (Hg.): Panorama der
neuen Religiosität. Gütersloh 2005
[18] Jung C G: Autobiographie.
ETB. 1961. S. 327
[19] Renz M: Grenzerfahrung
Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder Spektrum 2003.
[20] Scharfetter C: Der spirituelle
Weg und seine Gefahren. Stuttgart 1997
[21] Bochinger, C: "New Age“
und moderne Religion. Gütersloh. 1995
[22] Drewermann E: Neurologen
sollen die Aufklärung fortsetzen. Interview in "bild der wissenschaft".
7/2005. S. 44
[23] Koenig, H; M McCullough,
D Larson: Handbook of Religion and Health, New York 2001.
[24] Kendler, KS et al.:
Dimensions of religiosity and their relationship to lifetime psychiatric
and substance use disorders. American Journal of Psychiatry 1 60 (2003),
No.3, 496-503.
[25] Smith, TB; McCullough,
ME; Poll, J: Religiousness und Depression, Psychological Bulletin 129 (2003),
No.4, 614-636
[26] McCullough, M.; Hoyt,
WT; Larson, DB; Koenig, HG; Thoresen, C: Religious involvement and mortality:
A meta-analytic review, Health Psychology 19 (2000), 211-222
[27] McClain, C; Rosenfeld,
B; Breitbart, W: Effect of spiritual well-being on end-of-life despair
in terminally-ill Cancer patients, Lancet 361 (2003), 1603-1607
[28] Bösch J: Spirituelles
Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern 2002, S.
137
[29] Murken, S: Gottesbeziehung
und psychische Gesundheit. Die Entwicklung eines Modells und seine empirische
Überprüfung. Münster. Waxmann. 1998.
[30] Demling JH, Wörthmüller
M, O’Connolly: Psychotherapie und Religion. Psychother Psychosom med Psychol
2001; 51:76-82
[31] Pargament K: The Bitter
and the Sweet: An Evaluation of the Costs and Benefits of Reliousness.
Psychological Inquiry 13 (3) 168-181. 2002.
[32] Allport GW: The individual
and his religion: a psychologic interpreation. New York Macmillan. 1950
[33] McCullough, ME; Larson,
D.: Religion and depression: a review of the literature, Twin Research
2 (1999) 126-136
[34] Pargament, K; Brant,
CR: Religion and coping, in: HG Koenig (Ed.), Handbook of Religion and
Mental Health, San Diego 1998, 111-128
[35] Singer, W: Ein neues
Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt/Main. 2003
[36] Büssing A, Ostermann
Th, Matthiessen PF: Spirituelle Bedürfnisse krebskranker Menschen
- Einstellung und Praxis. Deutsche Zeitschrift für Onkologie
2005;37:13-22
[37] Zulehner M: Denn du
kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor. Zur Theologie der Seelsorge
heute. Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner, Ostfildern 2003,
205ff
[38] Koenig HG: Spirituality
In Patient Care. Why, How, When, and What.Templeton Foundation Press. Philadelphia
& London. 2002
[39] Weber S, Frick E: Zur
Bedeutung der Spiritualität von Patienten und Betreuern in der Onkologie.
In: Sellschopp A et al (Hg): Manual Psychoonkologie. München. 2. Auflage.
2005
[40] Walach H, Reich KH:
Reconnencting science and spirituality: toward overcoming a taboo. Zygon
(2005) 40 (2), 423-442
[41] Larson, EJ; Witham,
L: Leading scientists still reject god, Nature 394 (1998), 31
[42] Sloan, RP et al: Should
physicians prescribe religious activities? New England Journal of Medicine
342 (2000), 1913-1916
|
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Link
zu UNIVERSITAS Online:
http://www.hirzel.de/universitas/
- Externer 
Geisler, Linus S.: Spiritualität
in der Medizin. Arznei - Placebo - Droge? |
Universitas, 61. Jahrgang, Nr. 716,
Februar 2006, S. 132-143 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2006/200602universitas-spiritualitaet_medizin.html |
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