Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: MEDIZIN UND SPIRITUALITÄT - DIE TAGESPOST, 12.02.2005
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Medizin und Spiritualität 

Auch die beste Versorgung der Patienten hat Grenzen: Bei der Frage nach den letzten Dingen können Glaube und Religion im ärztlichen Alltag eine wichtige Brücke zum Kranken sein 

Von Professor Linus S. Geisler 
Ein Blick auf die Vereinigten Staaten zeigt, dass dort trotz Hochtechnisierung eine deutlich spirituell geprägte Medizin praktiziert wird. Die Amerikaner erscheinen häufig als ein besonders religiöses Volk. Je nach Untersuchung glauben bis zu 95 Prozent an Gott. Der überwiegende Teil gibt an, täglich bis wöchentlich zu beten. Dass Ärzte ihren Patienten anbieten, mit ihnen gemeinsam zu beten, ist in den Vereinigten Staaten keine Seltenheit - und in Deutschland praktisch undenkbar. Immerhin beten, so eine deutsche Studie, zwanzig Prozent der befragten deutschen Psychoanalytiker für ihre Patienten.

In der angelsächsischen Literatur existieren mehr als 200 Studien, die eine positive Bedeutung von Spiritualität und Religiosität für Krankheitsbewältigung, den Verlauf körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität von Kranken belegen. Gläubige Menschen neigen weniger häufig zu seelischen Verstimmungen und Neurosen und sind seltener drogenabhängig. Es kann als gesichert gelten, dass spirituelle Erfahrungen starke vorbeugende Effekte gegenüber psychischen Belastungen entfalten. Auch wenn nicht alle Studien wissenschaftlichen Kriterien standhalten: Die heilende Wirkung von Spiritualität und Gebet ist nicht zu bezweifeln.

Natürlich lassen sich amerikanische Verhältnisse, was Religiosität und Spiritualität angeht, nicht unkritisch auf europäische Gesellschaften übertragen. Aber unverkennbar besteht eine Nachfrage nach "spirituellen" Heilverfahren auch in Deutschland. Volkshochschulen und andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung bieten in steigendem Maße Kurse an, in denen so genannte spirituelle Entspannungstechniken - Yoga, Meditation - vermittelt werden.

Kann da vielleicht sogar von einer boomenden Spiritualität gesprochen werden? Hier ist eine differenziertere Betrachtungsweise und eine möglichst präzise Begriffsbestimmung von "Spiritualität" unerlässlich. Wer heute mit Google im Internet unter dem Stichwort "Spiritualität" sucht, stößt auf über 700 000 Fundstellen. Im Großen Brockhaus vor rund einhundert Jahren (1906) findet sich nur eine sehr allgemeine Definition: "das geistige Wesen, innere Leben...". Spiritualität ist mehr als nur eine der "neuen" Denkweisen, welche sich vor allem auf mystische Traditionen und auf fernöstliche Spiritualität beziehen. So ist beispielsweise New Age nach innen gerichtet und zielt auf Selbstfindung und Selbsterfahrung. Spiritualität im eigentlichen Sinne hingegen betrifft eine wesentliche und zeitlose Dimension des Menschseins. Sie stellt über das eigene Ich hinausgehende Fragen nach einer transzendentalen Ebene und dem eigentlichen Sinn des Daseins.

Rückkehr des Religiösen in der westlichen Welt

Der Mensch sei "unheilbar religiös", hat der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew konstatiert. Dieser "Befund" lässt sich nur zeitweise verdecken, um dann, je nach den soziokulturellen Szenarien, immer wieder hervorzubrechen.

Viele Beobachter glauben, dass sich zurzeit eine "Rückkehr der Religionen" abzeichnet. Folgt man den Forschungsergebnissen über die so genannten Neuen Religiösen Bewegungen, so hat die Zahl der Religionen und der Gläubigen im 20. Jahrhundert erheblich zugenommen (2. Auflage der World Christian Encyclopedia). Nicht nur das Erstarken des Islam in seiner fundamentalistischen Ausprägung, sondern auch das Gefühl einer universellen terroristischen Bedrohung nach dem 11. September 2001, Naturkatastrophen unvorhergesehenen Ausmaßes, das immer neue Auftauchen bislang unbekannter ethischer Probleme - Embryonenforschung, Klonen, genetische Manipulation - mögen weitere Triebfedern einer religiösen Neubesinnung in der westlichen Welt bilden. Religionen scheinen zum Fluchtpunkt zu werden, in dem sich Fragen an das Selbstverständnis des Menschen und an die Spielregeln des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert bündeln. Vielleicht erkennen die Menschen auch, dass eine immer weiter getriebene Individualisierung kein Ersatz für den Urwunsch nach Transzendenz darstellt.

Von dieser Öffnung zu Religiosität und Spiritualität bleibt auch die moderne Medizin nicht unberührt. Gerade die Hightech-Medizin mit ihrem Allmachtsgehabe akzentuiert an ihren Grenzen besonders deutlich die Sterblichkeit als unüberwindbare anthropologische Konstante. An diesen Grenzen treten dann die Fragen nach Sinn und Ziel des Daseins, nach dem "Danach", jene "letzten Fragen" also, drängend in das Bewusstsein. Wenn "Hightech" zurückweichen muss, um "Highcare" im Sinne zuwendungsintensiver Fürsorge den Vorrang zu geben, öffnet sich vielleicht der Weg in eine über das unmittelbare Ich hinausreichende Wirklichkeit. Dabei entsteht auch der Wunsch, in diesem Bestreben nicht unverstanden und unbegleitet zu sein.

So zählt spirituelle Begleitung zu den vordringlichen Bedürfnissen todkranker Menschen auf dem Weg zu einem "guten Tod". Für Palliativmedizin und Hospizarbeit gilt Spiritualität als tragende Säule. Die Weltgesundheitsorganisation WHO räumt in der Palliativmedizin der Berücksichtigung spiritueller Probleme höchste Priorität ein. Dies alles könnte dafür sprechen, dass die Zeit reif geworden ist, um spirituelle und religiöse Bedürfnisse auch in der Medizin deutlicher zu artikulieren und ihre Wahrnehmung und Durchsetzung stärker einzufordern. Spirituelle Sehnsucht gehört zur Conditio humana.

Es gilt als erwiesen, dass nicht wenige Patienten von ihren Ärzten und Pflegenden spirituellen Beistand erwarten, aber auch beklagen, dass ihre spirituellen Bedürfnisse nicht genügend wahrgenommen werden. Ebenso sind nicht wenige Ärzte ihrerseits überzeugt, dass spirituelle Betreuung für ihre Patienten hilfreich sein könnte, gestehen aber ein, dass sie zu wenig Erfahrung besitzen. Was also vordringlich erscheint, ist eine konkrete Antwort auf spirituelle Fragen und Nöte von Patienten zu finden und aufzuzeigen, wie ein Umgang mit spirituellen Krisen und Phänomenen geschehen könnte.

Entscheidend ist die Sensibilität des Arztes

Patienten artikulieren ihre spirituellen Bedürfnisse, Erwartungen oder Erfahrungen selten spontan und so gut wie gar nicht im Beisein anderer. Die Wahrnehmung von Spiritualität setzt von Seiten des Arztes/Therapeuten eine spezifische Sensibilität voraus. Diese bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen Welt des Patienten. Ist diese Sensibilität für Spirituelles etwas Naturgegebenes oder lässt sie sich schärfen, eventuell sogar schulen?

Auch hier sind die Vereinigten Staaten in gewisser Hinsicht Vorbild. An den medizinischen Hochschulen werden Studenten angehalten, am Krankenbett auch nach der religiösen Vergangenheit und den spirituellen Bedürfnissen und Ressourcen der Patienten zu fragen, also eine "spirituelle Anamnese" zu erheben. An die siebzig universitäre Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität beschäftigen, existieren in den Vereinigten Staaten. Eine Möglichkeit, auch bei uns die Sensibilität für spirituelle Fragen zu wecken, könnte zum Beispiel in der Ausbildung zur Palliativmedizin verankert werden.

Spirituelle Anamnese als Schritt zur Krisenbewältigung

Das American College of Physician (ACP), einer der größten Zusammenschlüsse von Ärzten in den Vereinigten Staaten, geht davon aus, dass zunächst vier einfache Fragen zur Erfassung spiritueller Bedürfnisse ernsthaft erkrankter Patienten genügen: "Ist Glaube (Religion, Spiritualität) für Sie in dieser Krankheit wichtig?" "Hat Glaube zu anderen Zeiten in Ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt?" "Haben Sie jemanden, mit dem Sie über religiöse Belange sprechen können?" und: "Möchten Sie religiöse Anliegen mit jemandem besprechen?"

Ärzten und Pflegekräften mit geringer oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann dieses Neuland Angst bereiten. Aber zunächst ist nicht mehr erforderlich, als sich bewusst zu machen, dass die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der spirituellen Bedürfnisse und Nöte von Patienten genauso wichtig ist, wie die Beachtung körperlicher, seelischer oder sozialer Nöte. Die Wahrnehmung spiritueller Nöte im Konzept einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des kranken Menschen ist unverzichtbar. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Erhebung der spirituellen Anamnese bereits ein wichtiger Schritt sein kann, um eine Krisenbewältigung einzuleiten.

Für das Gespräch gelten die Grundprinzipien der guten Kommunikation: aktives Zuhören und empathische Zuwendung. Wahrscheinlich ist es nicht einmal immer erforderlich, dass spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen. So heißt es schon in der Bhagavadgita, einem altindischen religiösen Lehrgedicht: "Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich es, der antworten wird."

Die Befassung mit der Spiritualität der anvertrauten Patienten kann schließlich für das Selbstverständnis und die eigene spirituelle Ausrichtung des Therapeuten oder Begleiters von großem Gewinn sein.

Die Frage nach den "Wirkmechanismen" von Glauben und Spiritualität hat weniger Gewicht als oft angenommen. Jede Heilung, auch wenn wir glauben, sie in einem linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu verstehen, bleibt bei genauer Betrachtung immer etwas Unbegreifliches. Welcher Anteil daran im Einzelfall spirituellen Phänomenen zuzurechnen ist, wird sich kaum bestimmen lassen.

Spirituelle Erfahrungen sind nicht zu erzwingen. Sie ereignen sich oder auch nicht. Manchmal sind sie ein Geschenk. Am Anfang steht dabei nicht mehr und nicht weniger als die Offenheit des Begleiters für ihre möglichen Wirkungen. Spiritualität, Glaube und Gebet beinhalten ein bedeutsames therapeutisches Potenzial. Was sollte uns hindern, es angemessen zu nutzen?

 

Der Autor ist Internist und war von 1976 bis 1999 Chefarzt der Medizinischen Klinik am St. Barbara-Hospital Gladbeck. Er ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Bonn und Sachverständiger der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages. Seine Arbeitsgebiete: Bioethische Zeitfragen, Arzt-Patient-Kommunikation, Innere Medizin. Professor Geisler ist Autor zahlreicher medizinischer Fachbücher. Informationen finden sich auch im Internet (www.linus-geisler.de).


Geisler, Linus S.: Medizin und Spiritualität 
DIE TAGESPOST, 58. Jahrgang, Nr. 18, 12. Februar 2005, S. 17-18
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2005/200502dt-medizin_spiritualitaet.html

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