Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: SUCHE NACH EINEM VERLORENEN IDEAL - ÄRZTE ZEITUNG vom 22.12.2004
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Der gute Arzt - ist das ein antiquiertes Ideal für Mediziner, deren Handlungsspielräume so eng gesteckt zu sein scheinen wie nie zuvor? Der Internist Professor Linus S. Geisler ist zuversichtlich, daß die Kunst des guten Arztes für jeden Arzt zu erlernen ist. Eine Suche, die sich lohnt.
Suche nach einem verlorenen Ideal

Der gute Arzt kennt Mut und Demut / Empathie und vorurteilsloses Sich-Einlassen auf den anderen, über das bloße Verstehen des Kranken hinaus

Von Linus S. Geisler
Sich Gedanken zu machen über die Figur des guten Arztes bedeutet, sich mit einer Abfolge stets neu auftauchender Fragezeichen auseinanderzusetzen.

Zunächst drängt sich die Frage auf, was das Wesen des Arztberufes überhaupt ausmacht. Die Antworten darauf fallen durchaus uneinheitlich aus. Der Münchener Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner hat einmal über den ärztlichen Beruf gesagt, er sei wunderlicher Natur, und immer wieder würden geistvolle Köpfe darüber nachdenken, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft, das Wesentliche sei...

Die Frage nach dem guten Arzt wird vielfach gestellt. Aber warum fragt keiner nach der guten Ärztin? 
Ist die gute Ärztin vielleicht der bessere gute Arzt?
Die Approbationsvoraussetzungen für Ärztin und Arzt sind zwar die gleichen, aber die Ausübung ihres Berufs ist unterschiedlich. Bei Problemlösungen arbeiten Männer bevorzugt rational und operieren mit direkten Lösungsansätzen und Ratschlägen, Frauen hingegen streben nach Einfühlung und Nähe und bevorzugen den Diskurs (Buller und Buller). Das wird uns von linguistischer Seite versichert. Ist also die gute Ärztin vielleicht der bessere gute Arzt?

Wer überhaupt stellt die Frage nach dem guten Arzt? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die AOK, der Patient im Rollstuhl, Ulla Schmidt, die reifere Dame, die ihr Seelenheil in der Anwendung von Botox sucht, und die Pharmaindustrie unterschiedliche Idealbilder vom guten Arzt präferieren.

Die Patienten sind zwar die größte Gruppe, aber die Krankenkassen die mächtigste, und die Pharmaindustrie ist die reichste. Daneben existieren ausgesprochen marginale Gruppen wie die eigene Arzt-Familie, deren Vernachlässigung sich allerdings auf die Dauer, wie fast jeder weiß, bitter rächen kann. Überdurchschnittlich hohe Scheidungsraten bei Ärzten sind ein indirekter Hinweis.

Jede dieser Gruppen legt andere Bewertungsmaßstäbe an. Für die Krankenkassen zum Beispiel definiert sich ein guter Arzt durch kurze Arbeitsunfähigkeitszeiten der Erkrankten, sparsame Verordnung und pünktliche Beantwortung sämtlicher Anfragen. Die alte alleinstehende Dame mit Diabetes hingegen ist vielleicht weniger an einem optimalen HbA1c interessiert, als an der Gelegenheit, im Gespräch mit ihrem Arzt Kindheitserinnerungen zu beschwören und angenehmere diätetische Freigrenzen auszuhandeln.

Das in den Medien gezeigte Arztbild schließlich neigt, so der Ethiker Giovanni Maio, wenn es um ethische Fragen geht, zu einer Art Hollywoodisierung der Moral, die das Problemfeld nicht im Horizont des ethischen Diskurses interpretiert, sondern im Horizont des Kinos.

 
So steht der Arzt im Spannungsfeld vieler Interessengruppen. Dennoch: was den guten Arzt ausmacht, definiert sich aus der Beziehung zu seinen Patienten. Die Stunde der Wahrheit wird in dieser Interaktion zweier Menschen offensichtlich, in der sonst kaum gekannte Grade menschlicher Annäherung möglich sind.

Um die Frage nach dem guten Arzt perspektivisch einzukreisen und systematisch anzugehen erscheint es sinnvoll, an drei partizipierende Gruppen die Frage nach dem guten, dem idealen Arzt zu stellen:

  • Medizinstudenten 
  • praktizierende Ärzte und last not least 
  • Patienten
An der Universität Regensburg wurden alle vorklinischen Studenten der Jahre 1997-2001 (816 Studenten) im ersten und zweiten Semester gebeten, die Frage: "Wie stellen Sie sich den idealen Arzt vor?" zu beantworten. Insgesamt zeigte sich, daß die Studenten ein recht homogenes und differenziertes Bild vom idealen Arzt hatten. Im Vordergrund standen seine Kompetenz, seine Aufmerksamkeit gegenüber dem Patienten und sein Interesse an ihm. Sensibilität, Freundlichkeit und sympathische Ausstrahlung erschienen ebenfalls als wichtig, kamen aber erst an zweiter Stelle. 

In einer Studie 1999 über die ärztlichen Wunsch- und Leitbilder bei niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen in Abhängigkeit von der Dauer der Beruftätigkeit schälte sich heraus, der ideale Arzt solle kompetent, engagiert und verständnisvoll sein. Daneben wurden häufig Fähigkeiten wie Zuhörenkönnen, Empathie und Fürsorge genannt. Ärzte mit der längsten Berufserfahrung fanden die Vorstellung einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung besonders wichtig. Sie nannten als ihr Ideal am häufigsten die menschliche Zuwendung.

In einer europäischen Gemeinschaftsstudie führte das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) eine schriftliche Befragung unter Patienten von zwölf Praxen, acht aus den alten und vier aus den neuen Bundesländern durch. Gefragt wurde, wie sie ihren Hausarzt sehen wollten, aber auch wie er nicht sein sollte. 

In den 435 auswertbaren Fragebögen rangierten neben der Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Hausarztes folgende Antworten an bevorzugter Stelle: Verläßlichkeit, Vertrauen, Information und Kommunikation, Fachkompetenz, emotionale Unterstützung und Beratung. Nicht minder interessant sind die Angaben, wie der Hausarzt auf keinen Fall sein sollte, nämlich unfreundlich, ungeduldig, überheblich, unpersönlich, kalt und ohne Interesse.

Noch aufschlußreicher erscheint mir eine kürzlich veröffentlichte Befragung von über 12 600 Patienten aus 51 Krankenhäusern in den USA. Sie wurden nach ihrer Entlassung gebeten, mögliche Hauptgründe zu nennen, um ein Krankenhaus weiter zu empfehlen. Die Antwort lautete: mit Respekt und Würde behandelt zu werden und den Ärzten vertrauen zu können.

Diese Studien sollten nicht daran hindern, kritisch die Frage nach der grundsätzlichen Definierbarkeit des guten Arztes zu stellen. Klaus Dörner, der sich wohl die differenziertesten Gedanken zum Phänomen des guten Arztes gemacht hat, schreibt am Ende seines Buches "Der gute Arzt": "Ich schließe mit einer Art Scherz, nämlich mit einer Definition des "guten Arztes", was natürlich Unsinn ist, da dies zum nichtdefinierbaren Teil der Wirklichkeit gehört."
Es ist relativ leicht, Arzt zu werden, aber schwer, ein guter Arzt zu sein.
Natürlich bleibt Dörner dem Titel seines Buches verpflichtet und fährt fort: "Dem guten Arzt ist bei geöffneten medizinischen Augen der ärztliche Augenaufschlag eigen; er hört - getrennt voneinander - die Wünsche und das Wohl der Patienten beziehungsweise der Angehörigen; er ist - ihn berührend - vom Anderen berührt; er ist darauf aus, das Hirnkonzept des Menschen in die größere Weisheit seines Leibes einzubetten; und sein schon waches Können und Wissen ist von seinem Gewissen verändert, angerufen, geweckt."

Bis zum Verstehen oder schließlich Akzeptieren eines solchen Konzeptes ist allerdings ein weiter Weg zurückzulegen. Es wäre vermessen zu behaupten, dieser Vortrag könnte ein Wegbereiter sein. Viel wäre schon mit der Erkenntnis erreicht, daß ein solcher langer Weg - sicherlich als einer unter mehreren - existiert. Denn es ist relativ leicht, Arzt zu werden, aber schwer, ein guter Arzt zu sein (von Troschke).

Damit taucht die nächste Frage auf: Kann man überhaupt lernen, ein guter Arzt zu werden? Wenn der gute Arzt die Verkörperung einer bestimmten Grundhaltung darstellt - wie kommt man zu so einer Haltung, die offensichtlich in keinem Studienplan als Ausbildungsziel verankert ist?

Die der Ausbildungsordnung für Ärzte (AOÄ) vorangestellte Präambel entwirft kein klares Bild des guten Arztes. Dort heißt es lakonisch: "Ziel der ärztlichen Ausbildung ist der wissenschaftlich und praktisch in der Medizin ausgebildete Arzt, der zur eigenverantwortlichen und selbständigen Berufsausübung, zur Weiterbildung und zur ständigen Fortbildung befähigt ist."

Klaus Dörner beginnt sein Buch über den guten Arzt mit den Worten: "Jeder Arzt denkt im Stillen, im Selbstgespräch, ständig darüber nach, wie er ein ,guter Arzt‘, wie er zu einem ärztlich ,guten Leben‘ kommen könne ... Kein Arzt kann nicht darüber nachdenken."

Ist das wirklich so? Wenn der junge Arzt, durch ein naturwissenschaftlich kopflastiges Studium im günstigsten Fall in seinem Altruismus noch relativ unbeschädigt seinen Beruf aufnimmt, greifen dann nicht ganz andere Überlegungen in seinem Denken Raum? Das Unbehagen, nicht nur eingesetzt, sondern auch ausgesetzt (ausgebeutet) zu werden? Die Sorge um die nächste Vertragverlängerung? Die Erkenntnis, daß das System, in dem er arbeiten muß, kaum etwas mit seinen Idealen von früher zu tun hat?

Auf hohes soziales Prestige und üppiges Auskommen kann der junge Arzt in Zukunft nicht mehr rechnen. Ein kaum entrinnbares Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und Pressionen tut sich auf. In den Krankenhäusern wird mit der Etablierung der sogenannten Fallpauschalen der Vorrang der Ökonomie vor der Humanität mit Nachdruck durchgesetzt. Arbeitszeiten von 60 Stunden pro Woche und mehr, überholte Hierarchien und eine kaum zu bewältigende Arbeitsdichte sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen sind mäßig, besonders für Ärztinnen... Wen wundert, daß rund ein Drittel der heutigen jungen Ärzte nicht wieder den Arztberuf ergreifen würden.

Eine Art vorauseilende Distanzierung zum Patienten zeichnet sich bereits im Verhalten der zukünftigen Ärzte ab. Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab. Viele wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später nicht als Arzt arbeiten. Der angehende Medizinstudent erwartete vor ein oder zwei Generationen nichts sehnlicher als den ersten Kontakt mit einem Kranken. Heute dagegen gehen die Hälfte der neuen Ärzte auf Abstand zum Patienten.
Wer den Klinikalltag tretmühlenhaft erlebt, schleift sich selbst allmählich bis zur Farblosigkeit ab.
Auseinanderfallende Menschenbilder und Verstörungen im Rollenverständnis irritieren die Suche des Arztes nach seiner Identität. Sie zu artikulieren erscheint im System einer hochtechnisierten Medizin immer schwieriger. Das Resultat ist eine auffallende Konturlosigkeit der Handelnden und ein kompensatorisches Getriebensein mit Tunnelblick. So beschreibt sich der amerikanische Klinikarzt Frank Huyler in seinem Buch "Notaufnahme. Geschichten zwischen Leben und Tod" als wenig hervorstechende Figur: "Keine großen Einsichten, keine besondere Freundlichkeit, keine ungewöhnlichen Fähigkeiten, kein Anzeichen von Zufriedenheit oder Einsamkeit, keine Spur von Visionen oder Träumen ."

Weltweit ist in der Tat ein alarmierendes Phänomen zu beobachten: das Phänomen des unglücklichen Arztes. Eine aktuelle Untersuchung an Allgemeinärzten in England ergab eine deutliche Abnahme der beruflichen Zufriedenheit. Sie sank, gemessen an einer Sieben-Punkte-Skala, von durchschnittlich 4,64 Punkten 1998 auf 3,96 Punkte 2001. Die Zahl der Ärzte, die sich in den nächsten fünf Jahren aus der direkten Patientenversorgung zurückziehen wollen, stieg im gleichen Zeitraum von 14 auf 22 Prozent.

Ein Editorial des "British Medical Journal" vom April 2002 widmet sich ausschließlich dem weltweiten Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy doctors"). Arbeitslast und als unzureichend wahrgenommene Bezahlung scheinen allerdings das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet die Analyse im BMJ einen Wandel im Verhältnis zwischen Beruf, Patienten und der Gesellschaft, der Ursache dafür ist, daß der Arztberuf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich erwartet hatten.

Nicht besser ergeht es den niedergelassenen Ärzten in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen und durch die Einflußnahme der Politik beziehungsweise der Kassen auf die Patientenversorgung belastet (NAV-Virchow-Bund). 59 Prozent sind "ausgelaugt", ebenso viele fühlen sich am Tagesende "völlig erledigt".

Individuation und Sozialisation der deutschen Ärzte führen, so der Arzt und Politologe Ruebsam-Simon im "Deutschen Ärzteblatt", zu einem isolierten und autistischen Verhaltensmuster. Die Wirklichkeit wird mit medikalisiertem "Tunnelblick" unter Ausblendung politischer und sozialer Wirkfaktoren wahrgenommen. Angstgesteuertes Verhalten statt Selbstbewußtsein und Zivilcourage wird mehr und mehr zum dominierenden Verhaltensmuster.

Diese Phänomene sind aber mit Sicherheit kein spezifisch deutsches Problem. Einschränkung der Autonomie, massive externe Kontrollen, Zunahme berufsfremder Tätigkeiten und sinkende Einnahmen sind in weiten Teilen der westlichen Welt - so der Internationale Kongress für Ärztegesundheit im Oktober 2002 in Vancouver - das hervorstechende Charakteristikum ärztlicher Arbeitsbedingungen.

Sie finden ihren Niederschlag unter anderem in einem erhöhten Suizidrisiko (das wiederum Ärztinnen besonders betrifft), in Depressionen und Abhängigkeitsproblemen (Alkohol, Sedativa, Opiate). Das Privatleben leidet; 69 Prozent der niedergelassenen Ärzte bezeichnen es als unbefriedigend und nur 21 Prozent haben genügend Zeit für eigene Interessen. Trennungs- und Scheidungswahrscheinlichkeit liegen bei Ärzten über dem Durchschnitt.

Alles ungünstige Vorzeichen für die Entwicklung zum guten Arzt, denn können unglückliche Ärzte glückliche Patienten haben? Können die Patienten unzufriedener Ärzte selbst zufrieden sein? Mit Sicherheit nicht, denn zwischenmenschliche Kommunikation läuft regelhaft als zirkulärer Prozeß ab.

Eine von der Bertelsmann Stiftung initiierte und vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen wissenschaftlich betreute Befragung (Ende 2001/Mitte 2002) unter rund 3000 Bürgern über ihre Erfahrungen in Arztpraxen und Kliniken ergab, daß fast jeder dritte Befragte (31 Prozent) schon einmal den Hausarzt gewechselt hatte, weil er mit dessen Behandlung nicht einverstanden war. 

Über die Hälfte der Kassenpatienten halten die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland für verbesserungsbedürftig, was gut im Einklang mit der Meinung der behandelnden Ärzte selbst steht: Etwas mehr als die Hälfte von ihnen ist überzeugt, daß die Qualität der Behandlungen nicht dem neuesten medizinischen Standard entspricht. Im Vergleich mit den Staaten der Europäischen Union belegt die Patientenzufriedenheit in Deutschland nur einen mittleren Platz.
Heute steht nicht das Wohl, sondern der Wille des Patienten im Vordergrund - ein Paradigmenwechsel.
Heute steht nicht das Wohl, sondern der Wille des Patienten im Vordergrund. Ein Paradigmenwechsel vom Modell der Fürsorge zum Modell der Autonomie hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren vollzogen und damit auch eine deutliche Verlagerung von Verantwortung in Richtung des Patienten. 

Der gute Samariter von heute klärt seinen Patienten umfassend, wenn es sein muß schonungslos auf (informed consent), zeigt ihm alle vernünftigen diagnostischen und therapeutischen Optionen, sichert sich damit rechtlich weitgehend ab und überläßt am Ende dem Kranken die Entscheidung. Jetzt wird dem Patienten alles gewährt, was er will und nichts was er nicht will - aber auch alles, was er wirklich braucht?

Hat dies noch irgendetwas zu tun mit der "Idee des Arztes", die Karl Jaspers 1953 konzipierte. Der Arzt müsse "anders werden, wie Menschen sonst sind". Das Höchste, was dem Arzt gelingen könne "ist schicksalsgefährdet zu werden mit dem Kranken". In nicht vorausberechenbaren Grenzfällen könne zwischen Arzt und Krankem "Freundschaft" entstehen...

Wer nach dem guten Arzt fragt, müßte auch nach dem "guten Patienten" fragen. Vielleicht ist auch er nur ein Phantom, eine Projektionsfläche des kranken Menschen, das sich komplementär zur Welt des guten Arztes verhält. In Wirklichkeit aber, so wird eingewandt, dominiert heute eher der sogenannte "fragmentierte Patient" (Walter Böker). Die konventionelle Gesprächstechnik der Ärzte zerlegt die Patientenäußerungen in Einzelbeschwerden und blendet das Selbstbild des Kranken, seine Deutung und Auslegung der Krankheit aus.

Die auf dieser Grundlage in Gang gesetzte, oft rational letztlich gar nicht begründbare umfangreiche Diagnostik liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das Leiden des Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben. Was resultiert ist der fragmentierte Patient. Der Arzt, der sich diese Herangehensweise an den Kranken langfristig zu eigen macht, wird schließlich zum fragmentierten Arzt, unfähig seinen Patienten in der Ganzheit seines Leidens wahrzunehmen.

Es ist unverkennbar, daß dieser fragmentierte Arzt als Gegenstück des guten Arztes zu begreifen ist. Er freilich ist wiederum das Resultat einer ärztlichen Ausbildung, die das dialogische Prinzip als Urelement des Umgangs von Arzt und Patient sträflich vernachlässigt, den klinischen Blick als Hantieren mit weichen Daten abtut und auf die unlimitierte Erhebung harter Daten setzt.

In diesen Datenbergen, die manchmal nicht mehr als Datenfriedhöfe sind, ist der Patient mit seiner individuellen Leidens- und Lebensgeschichte nur noch auszumachen, wenn der Blick auf Person und Persönlichkeit nicht durch sie restlos verstellt wird.
Reicht es, sich mit einem entidealisierten Arztbild zu begnügen, das im Mainstream nirgendwo aneckt?
Es wird beklagt und trifft in vielem zu, daß der heutige Arzt sich häufig als hilfloser Akteur im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen und Politik tief verunsichert erlebt. Richtlinien, Grundsätze und Empfehlungen zum Beispiel der BÄK zu aktuellen Fragen wie Sterbebegleitung, Transplantationsmedizin oder Fortpflanzungsmedizin geben seinen Handlungsspielraum vor. 

Diagnose und Therapie bei verschiedensten Krankheitsbildern, von der Hypertonie bis zur Fußmykose, erheben in Form von Leitlinien diverser Fachgesellschaften den Anspruch normierter Handlungsanweisungen. Die evidenz-basierte Medizin (EBM) versteht sich als Grundlage ärztlichen Handelns, ein Anspruch, der völlig verkennt, daß Medizin bei aller Naturwissenschaftlichkeit ebenso Erfahrungswissenschaft ist, und verschweigt, daß EBM selbst nicht evidenz-basiert ist.

Internationale Abkommen wie der Nürnberger Kodex von 1947, die Deklaration von Helsinki 1964 oder die EU-Biopatentrichtlinie von 1998 stellen weitere bioethische Rahmenrichtlinien dar, ohne daß hier eine weltweit verbindliche ethische Sprachregelung, ein moralisches Esperanto gelungen wäre.

Hinzu kommt, daß im biotechnischen Zeitalter Menschenbilder das gegenwärtige Ethos des Heilens dominieren, deren therapeutische Optionen vorwiegend auf Reparatur, regenerative Eingriffe und Ersatz ausgerichtet sind.

Niemand kann ernsthaft verkennen, daß ärztlichen Entfaltungsmaßnahmen und Handlungsspielräumen dadurch in einer bisher kaum bekannten Weise Grenzen gesetzt werden. Bedeutet dies aber auch, daß der Arzt nur noch in schachfigurenhafter Manier, gelenkt von Systemen, die er nur noch unvollständig durchschaut, zu agieren vermag? Ist dies der fast unmerklich schon vollzogene Abschied von einem nostalgischen Relikt, nämlich dem guten Arzt von gestern?

Oder reicht es, sich mit einem den Zeitverhältnissen angepaßten, quasi entidealisierten Arztbild zu begnügen, das im Mainstream eines vorwiegend ökonomisch ausgerichteten Gesundheitswesens nirgendwo mehr aneckt?

Die These, die dem heutigen Arzt zwar eine Suche nach neuer Identität zugesteht, deren Ergebnis aber nicht mehr der gute Arzt ist, sondern allenfalls der bessere Arzt, quasi eine rudimentäre Plusvariante des unhappy doctors, überzeugt nicht. Denn der gute Arzt, so schwer er auch definitorisch festgemacht werden kann, eines ist er auf keinen Fall: eine Kompromißfigur im Spannungsfeld diverser Interessengruppen.

Ein wesentlicher Charakterzug des guten Arztes sind seine Fähigkeit und seine Bereitschaft, sich auf seinen Patienten einzulassen. Sich auf den Patienten einzulassen, bedeutet auch, sich ihm auszusetzen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas beschreibt diese Beziehung vom anderen her in einem eindringlichen Bild: "Es sind die sprechenden Augen des ungeschützten Antlitzes des Anderen, die mich dazu bewegen, mich ihm auszusetzen."

Die Sprache dieser Augen läßt sich nicht in einem binären Code erfassen. Sie zu verstehen und in einer für den Patienten verstehbaren Sprache antworten zu können, macht eine essentielle Fähigkeit des guten Arztes aus. Dieser Dialog hat sich wahrscheinlich in seinem Kern nicht verändert, seit es Ärzte und Patienten gibt, auch wenn er sich in einem gewandelten technischen Umfeld vollzieht.

Die Einmaligkeit der Begegnung zwischen Arzt und Patient als einer Interaktion von Ich und Du, die im Extremfall schicksalsbestimmend sein kann und eine Vertrautheit voraussetzt, die sonst nur zwischen Ehepartnern oder freundschaftlich tief verbundenen Menschen gegeben ist, bleibt weitgehend unberührt von den Machbarkeitspotentialen der jeweils vorherrschenden Medizin. Der gute Arzt ist sich dessen, zumindest intuitiv bewußt. Nicht umsonst gehört Martin Bubers Buch "Ich und Du" von 1923 zur Pflichtlektüre von Harvard-Studenten.

Was bisher in diesen Überlegungen zum guten Arzt nicht auftaucht, ist eine bindende Definition. Aber kann es sie überhaupt geben? Viele charakteristische Eigenschaften des guten Arztes sind bereits genannt worden.

Aber wäre es nicht geradezu kontraproduktiv angesichts der Vielfalt ärztlicher Persönlichkeiten, ihrer unterschiedlichen Philosophien, ihrer individuellen Erfahrungen eine in Erz gegossene Figur des guten Arztes schaffen zu wollen, die am Ende statisch und erhaben kaum mehr etwas mit der komplexen Wirklichkeit einer patientenzentrierten Medizin zu tun hat? Insofern kann man Jürgen von Troschke zustimmen, wenn er sagt, schließlich könne jeder Arzt nur auf seine Weise ein guter Arzt werden und sein.

Vielleicht ist es daher erlaubt, den guten Arzt einfach zu beschreiben als den Arzt, den wir als Ärzte uns selbst wünschen, wenn wir krank geworden sind und Hilfe brauchen. Kein untauglicher Weg, denke ich, denn es hat sich gezeigt, daß der Arzt, trotz seines Wissens und Könnens, wenn er selbst krank wird, sich kaum anders verhält als seine Patienten: Er will ernst genommen werden, er erwartet neben Fachkompetenz Einfühlung, Fürsorge und Respekt. Er wünscht sich einen dialogfähigen Arzt, der seinen Blick von Skalen, Zahlen und Monitoren lösen kann und ihm in die Augen sieht, sich ihm aussetzt und seine eigenen Grenzen kennt.
Der gute Arzt hat den Mut, sich einem Wandel des ärztlichen Selbstbildes auszusetzen.
Dieser Arzt geht der Beziehung zu seinem Patienten nicht aus dem Weg und weiß, daß diese Beziehung nur aus einer empathischen Haltung und einem vorurteilslosen Sich-Einlassen auf den anderen entstehen kann. Sie reicht über das bloße Verstehen des Kranken hinaus und zielt auch darauf ab, daß dieser sich selbst versteht. In dieser Beziehung sind ärztliches Krankheitsverständnis und die Selbstauslegung von Krankheit durch den Patienten nicht sich ausschließende sondern komplementäre Wirklichkeiten.

Der gute Arzt kennt Mut und Demut. Er hat den Mut, sich einem Wandel des ärztlichen Selbstbildes auszusetzen, und ist tapfer genug, sich drohenden institutionellen Einbindungen und Zwängen nicht kampflos zu unterwerfen. Er ist bemüht, zwischen vernünftigen Zukunftsvisionen der Wissenschaft und Utopien zu unterscheiden, die gegen Menschenwürde und menschliches Leben gerichtet sind. Er ist bemüht, in seinem Wirkungsbereich gerecht zu sein, obgleich er in einer globalisierten Welt leben muß, in der die gerechte Verteilung knapper Güter nur unzulänglich gelingt. Er ist demütig genug, seine eigenen Grenzen und die seiner Profession anzuerkennen.

Ich bin zuversichtlich, daß die Kunst des guten Arztes nach wie vor erlernbar ist. Es ist mein brennender Wunsch, daß gerade die junge Ärzteschaft sich für diese Zuversicht öffnet, auch wenn ihr ärztlicher Alltag nicht selten im Kontrast zu dieser Hoffnung zu stehen scheint.

Meine Zuversicht leitet sich ab von der Erkenntnis, daß die "sprechenden Augen" des ungeschützten Angesichts des Anderen uns wie eh und je ansehen und uns bewegen können, sich diesem Anderen auszusetzen.

Auszug aus einem Vortrag, gehalten im März bei einem Symposium in Werneck

Weiterführende Links: 
Ärzte Zeitung vom 22. Dezember 2004
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2004/12/22/234a1401.asp?cat=   - Externer Externer Link
Vortrag vom 24. März 2004 mit Literaturangaben
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0403guter_arzt.html   - Interner Interner Link

Geisler, Linus S.: Suche nach einem verlorenen Ideal
ÄRZTE ZEITUNG vom 22.12.2004. Nr. 234. 23. Jahrgang. S. 14-16
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412aez-verlorenes_ideal.html

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