Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DIE SELBSTÜBERSCHREITUNG DES MENSCHEN. UNIVERSITAS, Februar 2004
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Es herrscht Aufbruchstimmung mit Endzeittönung. Utopisten preschen voran, bemüht, die in ihren Sog geratenen Zauderer mitzuschleifen. Eine Aura, die sich in das Bild des Menschen jenseits seines Selbst zu entladen anschickt. Dieser taucht am Horizont auf, ein Entwurf, gigantisch aber konturschwach, eine Hohlform, beliebig auffüllbar. Selbstüberschreitung lautet das Programm. Was ansteht, ist die Überwindung der Wasserscheide zwischen humaner und "posthumaner" Geschichte im Sinne von Francis Fukuyama.
Die Selbstüberschreitung des Menschen

Müssen wir in Zukunft Roboter taufen?

Linus S. Geisler

Die Heidegger'sche In-die-Welt-Geworfenheit soll ihre Ablösung in den Entwürfen der Biotechnologen, Computerexperten und Hirnforscher finden. Kontingenz als ein Element der menschlichen Freiheit muss deterministischen Setzungen weichen. Von einer neuen Singularität ist die Rede (Ray Kurzweil), jenem Moment der Verschmelzung von menschlicher und maschineller Intelligenz. Es naht der Augenblick, ab dem es nicht mehr erlaubt ist, solche Maschinen abzuschalten, weil sie Bewusstsein erlangt haben, eigene Ziele verfolgen oder sogar Würde besitzen. Die Frage: "Müssen wir sie vielleicht sogar taufen?" beantwortet die Theologin Anne Foerster mit "Ja".
 
Muss man von einer neuen Sehnsucht reden, die sich gewaltsam in Szene setzt, weil sie glaubt, über die geeigneten Methoden zu verfügen? Oder ist es nur die posthumane Variante des uralten Homunculi-, Golem- und Androidenfernweh, das Prometheus ebenso erfasst hatte wie E.T.A. Hoffmann, Ovid wie Mephisto, und das aus den Fantasien genialer Filmemacher SF-Figuren wie Blade Runner, Rasenmähermann oder Neo (Matrix) entspringen ließ?
 
Bekanntlich endeten die meisten dieser alten Geschichten von der Überwindung des Menschen für ihre Schöpfer tragisch. Entweder waren die Meister gezwungen, ihr eigenes, immer gefährlicher werdendes Werk zu zerstören, oder es zerstörte sich selbst und oft den Schöpfer und andere Menschen zugleich mit. Doch die neuen Wesen der Zukunft verheißen grundsätzlich neue Qualitäten und garantieren ihren Erzeugern Immunität.
 
In den Basistexten zu den Umgestaltungen des Homo sapiens im Sinne des "social engineering" stößt man auf bemerkenswerte Parallelitäten. Schon in Leo Trotzkis Visionen geht der Mensch daran, "sich selbst zu harmonisieren", der erstarrte Homo sapiens wird "radikal umgearbeitet" und soll sich auflehnen gegen das "Gesetz der blinden Geschlechtsauslese". Sloterdijk postuliert den Abschied vom "Geburtenfatalismus" und die Umstellung auf die "optionale Geburt", damit sich der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginne. Ist das Neue also vielleicht nur der Rückfall ins Alte - und gerade deshalb so suspekt? Die Magie der Kontrolle des Menschen über den Menschen als Endlosschleife? Geht es um die immer neuen und doch gleichen Ausübungen von Macht, die, wie Canetti schrieb, stets Macht über Fleisch ist? Um Macht über Generationen? Um Macht, die selbst die Toten noch über die Lebenden ausüben? Oder zeichnet sich eine völlig andere Signatur der künftigen Natur des Menschen, genauer gesagt seiner Überschreitung, ab?
 
Really big stuff

Den Unwissenden öffnet Gregory Stock, Direktor des Programms für Medizin, Technologie und Gesellschaft an der UCLA (Los Angeles), auf seinen Reisen um den Globus die Augen und zeigt ihnen, wo wir stehen: an der Schwelle einer provozierenden wissenschaftlichen Götterdämmerung, bei der der Homo sapiens nicht das letzte Wort in der Evolution der Primaten ist. Wir sind gehalten, unsere gegenwärtige Gestalt und unser Wesen zu überschreiten. Wir brechen auf zu überwältigenden unerforschten Welten. Erweiterung, Übersteigerung, Überhöhung des Biologischen, kurz "enhancement" lautet der Leitbegriff, der genau besehen die Diskriminierung der Normalität anvisiert. "This is really big stuff", wird uns versichert.

Den Lohn dieser Anstrengungen begreift jeder und die meisten wollen ihn: Unsere Lebensspanne wird sich in Vitalität und Gesundheit verlängern. Der erste Mensch, der 150 Jahre alt werden wird, lebt bereits. Wir werden unseren Kindern Gene schenken, die ihre Intelligenz, Schönheit und athletischen Fähigkeiten unvorstellbar erhöhen. Wir werden eine nach oben offene Gesundheitsskala entwerfen. Und wir werden endlich nicht länger Sklaven der genetischen Lotterie sein, die doch so grausame Lose verteilen kann.

Die Techniken des posthumanen genetischen Superdopings sind bereits in Entwicklung und sollen in einigen Jahrzehnten perfekt sein. Das Einbringen ausgewählter Gene in die Keimbahn, beispielsweise in die befruchtete Eizelle, soll sich als ultimative Gentherapie erweisen. Superallele, also exquisite Varianten des gleichen Gens, werden ihre Träger mit unbeschreiblichen Begabungen segnen. Es lassen sich "DNA-Kassetten", also quasi molekulare Care-Pakete zusammenstellen und in das Erbgut einfügen. Reproduktionskliniken könnten bereits bei der In-vitro-Fertilisation das Hinzufügen von künstlichen Chromosomen in das Erbgut anbieten.

Das naturbelassene Kind erweist sich mehr und mehr als Auslaufmodell. Der Köder der Utopie, der jenes Überkind erträumen lässt, das alle eigenen Lebensbrüche und Versagensnarben vergessen macht, hakt sich immer tiefer in das Fleisch derer, denen gentechnische Optimierungskünste noch versagt geblieben sind. Das Überkind wird zur Projektionsfläche für entgrenzte Träume, zum Garant paradiesischer Zukünfte. Es wird, wie Peter Gross es genannt hat, zum "genetischen Christkind", das alle Wünsche erfüllt.

Eine Wahl haben wir nicht, so werden wir belehrt. Wenn wir es nicht tun, werden es andere mit schlechterem Know-how und geringer ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein tun, unkontrollierbare Akteure im biotechnologischen Untergrund. Die erforderlichen Technologien werden sowieso als Nebenprodukte im Mainstream der Forschung anfallen. Und schließlich: Es handelt sich nicht um nukleare Experimente, wo jeder Unfall den Tod Millionen Unschuldiger verursachen kann.

Technokratische Utopien sind Traumdeutungen. Aber es sind keine spontanen Träume, sondern sie werden mit dem Imperativ von Werbeslogans ("make your dreams come true") verordnet. Kollektive Bilder, die sich in unseren Schlaf einnisten sollen, so verführerisch, dass wir uns ihnen widerstandslos hingeben, archaische Sehnsüchte nach einer Zukunft ohne Leiden, Alter und Tod. Der Rückblick auf jenen überwundenen Menschen, der sich selbst als seine Grenze respektierte, löst dann allenfalls noch herablassendes Mitleid aus. Verschwiegen wird, dass diese Zukunft Endzeit ist, in der der Mensch nur als sein eigener Nachzügler vorkommt, ein antiquiertes Fossil. Der Humus dieser Träume ist freilich so alt wie der Mensch selbst: Als einziges Lebewesen möchte er stets ein anderer sein, als er ist.

Dämonen und Dystopien

In seinem Werk "Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten" beschrieb der Mathematiker Pierre Simon de Laplace 1814 den nach ihm benannten Dämon, Fiktion einer übermenschlichen Intelligenz, der, wenn er sämtliche materiellen Partikel des Universums in ihren jeweiligen Zuständen zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten und vollständig beschreiben könnte, auch in der Lage wäre, alle nur möglichen vergangenen und zukünftigen Ereignisse zu errechnen. Jener Laplace'sche Dämon, der vollkommene Prognosen über den zukünftigen Weltverlauf abzugeben vermag, scheint aus den biotechnologischen Laboratorien immer noch nicht vertrieben zu sein. Sein metaphysischer Determinismus, dessen Begründung von einem nach den Gesetzen der Mechanik funktionierenden Weltsystem abgeleitet war, ist jedoch für die Vorhersagbarkeit in der Genetik untauglich. Gene sind, anders als Chromosomen, keine materiellen Objekte, sondern Konzepte, die allerdings in den letzten Jahrzehnten viel historischen Ballast angesammelt haben. Es gibt mehr Eigenschaften als Gene und bestimmte Eigenschaften werden in der Regel von vielen Genen beeinflusst. Überspitzt ausgedrückt: Man wird vielleicht von keinem Gen jemals genau wissen, was es alles beeinflusst. Ein bestimmter Genotypus erlaubt keine zuverlässige Vorhersage über den daraus entstehenden Phänotypus. Genetische Entwicklungsprozesse, also etwa die Entwicklung einer befruchteten Eizelle zu einem fertigen Organismus, durchlaufen eine Unzahl von Prozessen, die zum Teil zufallsbedingt und an Phänomene der Selbstorganisation gebunden sind. Ferner führen ständige Mutationen zu einer Fluktuation des Genoms. Hier herrschen also keine kausal-linearen Bezüge.

Entscheidend ist schließlich nicht nur, welche Gene ein Organismus besitzt, sondern auch, ob diese Gene in einem aktivierten Zustand vorliegen oder durch bestimmte molekularbiologische Mechanismen inaktiviert worden sind. Die Epigenetik untersucht derartige Phänomene. Dies erklärt auch, warum Klonen keine Klone im Sinne von exakten Kopien hervorbringt. Die unterschiedliche Fellzeichnung des Klonkätzchens Copy Cat (im Dezember 2001 die weltweit erste geklonte Katze) und seiner genetischen Mutter Rainbow ist hierfür ein augenfälliger Beleg unter vielen.

[IMAGES] Copycat, das weltweit erste geklonte Kätzchen mit seiner Ersatz-Mutter (r.). Das Erbgut des Tieres, das von einer erwachsenen weiblichen Hauskatze (l.) stammt, ist in eine zuvor entkernte Eizelle übertragen worden. (picture-alliance/dpa)

Ebenso fragwürdig ist der Ansatz, mit dem Hinzufügen künstlicher Chromosomen das menschliche Erbgut in einem gewünschten Sinne optimieren zu können. Der Versuch würde zur Aneuploidie, das heißt einer veränderten Chromosomenzahl führen. Beim Menschen ist jedoch kein Zustand von Aneuploidie bekannt, der nicht zu schweren oder lebensgefährlichen Entwicklungsstörungen führt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Down-Syndrom ("Mongolismus") mit einem überzähligen Chromosom 21 (Trisomie 21). Das Auftreten von Aneuploidien bei Klonversuchen von Primaten ist, wie die Arbeitsgruppe um Gerald Schatten (University of Pittsburgh School of Medicine Pennsylvania) aktuell nachgewiesen hat, der Grund für die höchstwahrscheinlich prinzipielle Nichtklonierbarkeit des Menschen. Unterschlagen wird nicht selten, dass Manipulationen der Keimbahn den für alle Lebewesen unverzichtbaren Schutz durch die Artenbarriere außer Kraft setzen und tödliche Selektionsnachteile in der Zukunft bedeuten könnten.

Letztlich erweist sich das Genom als nur eine Organisationsebene des Lebendigen. Die biowissenschaftliche Deutungsmacht suggeriert allerdings dem Laien mit einem überfrachteten Begriff vom Gen nicht nur, wo auf ihrem Feld die Normalitäten, die Abweichungen und die Utopien zu orten sind, sondern greift damit zugleich in sein Selbstverständnis ein, das ausschließlich am genetischen Design festgemacht werden soll. Aber die hochkomplexen Modelle der genetischen und epigenetischen Regulation schließen exakt vorhersehbare und damit auch risikofreie Eingriffe in die Keimbahn definitiv aus. Das Physiom, das alle Beziehungen der Gene und ihrer Produkte untereinander und mit den Umgebungseinflüssen beschreibt, ist nach der Genom- und Proteomforschung das noch in weiter Ferne liegende Ziel der Wissenssuche. Ohne dass es nur im Ansatz verstanden worden ist, geht man daran, es durch Anthropotechniken zu verbessern.

Die gentechnisch intendierte Selbstüberschreitung des Menschen ist demnach allein schon biologisch eine Spekulation wider jede bessere wissenschaftliche Erkenntnis, einfach gesagt "schlechte Biologie". Das darauf erbaute Gebäude der Utopien ist bestenfalls ein Kartenhaus der Dystopien, eine zum Fehlschlag verurteilte Strategie der finalen Kontrolle des menschlichen Lebens.

Roboter und Rassisten

In dem Roman "Gottes Gehirn" von Jens Johler und Olaf-Axel Burow sagt Lansky, eine der beiden Schlüsselfiguren: "Wer einen intelligenten Roboter für ein minderwertiges Wesen hält, ist ein Rassist." Und für seinen Kollegen Jackson, der den Menschen für nichts anderes hält als ein Upgrade des Schimpansen, führt konsequenterweise das Upgrade des Menschen auf den Pfad zu seiner Selbstüberschreitung. Der seit Jahrzehnten dahindümpelnde Forschungszweig der künstlichen Intelligenz, deren suprahumane Ausweitungen dieses neue Gattungswesen erst ermöglichen sollen, erfährt, gespeist durch die Visionen der Neurobiologie, ungeahnte Impulse. Die Attacke auf das "letzte Naturreservat" (Stanislaw Lern), das Gehirn, ist angeblasen.

Dabei ist die neurophysiologische Basis der natürlichen Intelligenz noch nicht einmal im Ansatz verstanden. Aber nichts hindert den großen Aufbruch zum Computator sapiens, der emphatische Regungen, wie zum Beispiel das herablassende Mitleid mit dem Homo sapiens der Vergangenheit, längst überwunden hat, weil die neuen Geschöpfe der Neurowissenschaften nicht mehr in der menschlichen Natur wurzeln. Verschiedene Experten auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz wie Rolf Pfeifer, Leiter des KI-Labors an der Universität Zürich, halten es nicht für sinnvoll, überhaupt Roboter nach dem Vorbild des Menschen zu konstruieren. Erst im Durchlaufen einer eigenen Evolution liege die Chance, weit über den Homo sapiens hinauszugelangen. Gerade nicht anthropomorphen Robotern werden die besseren Chancen eingeräumt, unter anderem mit dem Hinweis, dass auch die Konstruktion von Flugzeugen erst gelang, als man die Nachahmung des Vogelflugs aufgegeben hatte.

Die Geburt der Superspezies, so verkünden dessen ungeachtet in den USA die Roboterforscher Hans Moravec und Ray Kurzweil, wird sich spätestens 2050 ereignet haben. Die dann aufziehende neue Ära nennt Kurzweil in einem schiefen Bild die "Singularität". Eine Verschmelzung von menschlicher mit maschineller Intelligenz, die etwas Größeres als sich selbst schaffen und der Wendepunkt der Evolution auf unserem Planeten sein wird. Gelingen soll dies durch eine heute noch kaum vorstellbare Steigerung von Rechnerleistungen. In diesem Denksystem kommt der Mensch nur als "rationaler Agent" vor, als Intelligenzwesen, dessen Natur ausschließlich auf der Annahme beruht, rational zu handeln, und dessen nicht-rationale Aspekte zu vernachlässigen sind. Die ins Extrem getriebene Computerisierung wird, so die These der philosophischen Vordenker des Computerzeitalters wie Luciano Floridi in Oxford ("Artificial Evil and the Foundation of Computer Ethics"), zwangsläufig mit dem Auftauchen einer neuen Ethik konfrontiert werden. Maschinen, die sich interaktiv, adaptiv und autonom verhalten können und über alternative Handlungsweisen verfügen, müssten als moralisch zurechnungsfähig eingestuft werden - freilich ohne dass sie zur Verantwortung gezogen werden könnten. Dieses neue Böse wird sich erst nach den Prinzipien einer Artificial Morality, einer künstlichen Moral beurteilen lassen. Aber solange noch Menschen die Programme schreiben, wird das neue Böse nichts anderes sein als das gute alte Böse und die Verantwortung zurückschlagen auf die Verfasser der Programme.

Imitation des Unbegreiflichen

Der schwedische Forscher Gerald Q. Maguire sieht in seinen cyberdelischen Visionen die Selbstüberschreitung des Menschen in Hirnimplantaten mit Schnittstellen zu virtuellen Räumen. Das "Uploaden" unseres Selbst in das Internet ermöglicht körperlose Telepräsenz und wird zum Garanten einer neuen Unsterblichkeit. Durch Herunterladen, Kopieren und "Verwerten" dieses Selbst wird die Entwicklung von "Parallelexistenzen" vorstellbar, bis schließlich, wie in der digitalen Fotografie, ein Original nicht mehr auszumachen ist. Der Cyberspace als Ort verbundloser multipler Persönlichkeiten?

Dieses Konzept ignoriert jedoch eine fundamentale Voraussetzung von Intelligenz und Bewusstsein. Als emergente Phänomene, die aus ihren Subsystemen nicht umfassend erklärbar sind, kommen Intelligenz und Bewusstsein in der Natur stets nur in einem Körper vor und können nur in ihm existieren. Dieses Embodiment, also die Einbettung des kognitiven Apparates in den Körper, ist als grundlegend zu verstehen. Denkende, fühlende, mit Ich-Bewusstsein ausgestattete Roboter sind ohne ein physikalisches Substrat, das als Embodiment für Intelligenz und kognitive Leistungen bereitsteht, nicht vorstellbar. Körperliche Repräsentanz ist in der Biologie die "Apriori-Verfassung" der Erfahrbarkeit eines Ich und seiner Welt.

Lebende Legenden der Roboterforschung wie Rodney Brooks vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) versuchen diese Grundprobleme der Robotik durch Entwicklung von "Living Machines" zu lösen, Robotern mit den Fähigkeiten lebender Systeme wie Selbstorganisation, Selbstreproduktion und Selbstreparatur. Aber selbst die Kreation solcher neuer Robotergenerationen, die vielleicht Adaptationsfähigkeit und gewisse soziale Kompetenzen entwickeln könnten, dürfte eher der Imitation von Intelligenz und Bewusstsein entsprechen, als einertatsächlichen begrifflichen Annäherung an emergente Phänomene. Emergente Phänomene sind gekennzeichnet durch die Eigenschaft, dass sie aus dem Substrat, dem sie entspringen, nicht zwingend erklärt und nur unzureichend auf die entsprechende Komplexität des mit diesen Eigenschaften ausgestatteten Organismus zurückgeführt werden können. Es ist sehr wahrscheinlich, dass in der Emergenz-Eigenschaft von kognitiven Leistungen und Bewusstseinsphänomenen eine grundsätzliche Barriere gegeben ist, die ihre artifizielle Hervorbringung unmöglich macht.

Der Berliner Neurophysiologe Emil Du Bois-Reymond sprach bereits 1872 in seinem Vortrag "Über die Grenzen des Naturerkennens" von jenem Punkt in der Entwicklung des Lebens, in dem etwas Unerhörtes und zugleich Unbegreifliches auftaucht: "Dieses Unbegreifliche ist das Bewusstsein." Auch die modernen Neurowissenschaften machen dieses Unbegreifliche nicht begreiflicher, wenn sie es in selbstreferenziellen Strukturen im Nervensystem lokalisieren. Sie entkräften damit zwar die Annahme eines Leib-Seele-Dualismus, weisen damit aber auch Seele und Körper die gleiche Sterblichkeit zu.

Waisenkinder der Natur

Wie wird "Natur" zu denken sein, wenn der Mensch sich selbst überschritten hat? Sicherlich nicht mehr als die gute, die gelungene Natur der Antike, die noch lineare Veränderungen anstrebte, ausgehend von einem festen Maß und Umriss. Sondern Natur, die beginnt, sich selbst zu verlassen, indem sie sich bis zur rigorosen Entfernung ihrer ursprünglichen Gestalt verändert, umbaut und deformiert, getrieben vom Fortschritt, dieser unendlichen Geschichte, in der die Protagonisten verdammt sind, sich ständig selbst zu überholen. Schließlich gibt der Mensch den archimedischen Punkt seines Selbstverständnisses auf. Ausgebrochen aus der Behütung seiner Gattung, wird er ein Wanderer auf der ewigen Suche nach jenem Äußersten, das sich immer entzieht, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr. "Waisenkinder der Natur" hat Alain Finkielkraut die optimierten Geschöpfe der Zukunft genannt. Der überwundene Mensch der Zukunft: Last exit für den desillusionierten Menschen der Gegenwart?

Vielleicht gilt für den Menschen ähnlich dem Axiom "man kann nicht nicht kommunizieren" auch, dass er sich nicht nicht utopisch denken kann. Gegen die Verführung, sich Utopien als den Gegenbildern der Gegenwart hinzugeben, scheint kein Kraut gewachsen zu sein. Zukunftssüchtigkeit erweist sich als unheilbares Leiden, das blind macht für das Elend der Gegenwart. Sie entzieht sich der Verantwortung, die Lebenswelt jenes nicht unerheblichen Teils der Menschheit zu verbessern, dem es durch Unterdrückung, Ausbeutung und Verteilungsungerechtigkeiten verwehrt ist, aus der jedem innewohnenden Vielfalt seiner Anlagen zu schöpfen. Täglich verhungern 30 000 "naturbelassene" Kinder bereits an der Schwelle ihrer Entwicklung, ohne jede Chance zur Entfaltung. Diesen Skandal erfolgversprechend anzugehen, bedarf es nicht utopischer, sondern bereits verfügbarer, freilich unspektakulärer Methoden - und eines von Hybris befreiten Menschenbildes.

Die Überschreitung des Menschen als technologisch inszenierte Inkarnation säkularer Erlösungsfantasien? Wenn die Optimierungsvisionen zurückgeholt werden auf die Realität des kalten Experimentiertisches, kommt eine ganz andere, eine erbarmungswürdige Kreatur ins Blickfeld: Der Mensch, der sich selbst als endloses Langzeit-Experiment instrumentalisiert, schutzlos allen Willküreingriffen und Phantasmen preisgegeben und dennoch unvollkommen bis zum Ende der Tage, ein Opfer des Trugschlusses, dass die immer weiter getriebene Manipulation des Imperfekten schließlich zur Perfektion führt. Für Heidegger war der Schrecken der Anfang der Philosophie. Aber hier ist es nicht jener aus der Philosophie geborene Schrecken, der uns zögern lässt, jeglichem Fortschreiten in den Wissenschaften unbesehen zuzustimmen. Es ist der Schrecken, der uns angesichts einer Machtfülle befällt, von der wir ahnen, dass ihre Steuerung an grundsätzliche Grenzen menschlicher Verantwortbarkeit stößt, weil sie unsere eigene Natur destruiert und uns in eine Orientierungslosigkeit ohne Umkehr entlässt.
 
 
Leseempfehlungen des Autors:
Kurzweil, R.: Homo sapiens. Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen? Köln 1999.
Stock, G.: Redesigning Humans. Our Inevitable Genetic Future. Houghton Mifflin, New York 2002.
Fukuyama, F.: Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution. Farrar, Straus & Giroux, New York 2002.
Honnefelder, L., P. Propping (Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Köln 2001.

 
Link zu UNIVERSITAS Online:
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Geisler, Linus S.: Die Selbstüberschreitung des Menschen - Müssen wir in Zukunft Roboter taufen?
UNIVERSITAS, 59. Jahrgang, Februar 2004, Nr. 692, S. 135-145
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/02universitas_selbstueberschreitung.html

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