Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: IDEALBILD / Der mündige Patient. RHEINISCHER MERKUR vom 22. Mai 2003
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IDEALBILD / Der mündige Patient

Jagd nach einem Phantom

Autor: Linus S. Geisler
Hippokrates kannte ihn nicht, den mündigen Patienten. Seine Verordnungen traf er "zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil", aber auch nach ihrem Willen? Die klassische paternalistische Haltung bestimmte über Jahrhunderte die Beziehung zwischen Arzt und Patient, eine "Father knows best"-Medizin, geleitet von Fürsorge und Zuwendung. 

Erst die sich seit den siebziger Jahren rascher wandelnde Medizin verdeutlichte die möglichen dunklen Punkte des Modells: Bevormundung und Entmündigung. Der Wille des Patienten löste das Prinzip des Wohls des Kranken als oberstes Gesetz ab. Die Autonomie des Patienten gewann Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge. Das Ideal eines neuen Gegenentwurfs war konzipiert: der "mündige Patient", der aufgeklärt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien seiner Behandlung vorgibt, erhoben in den Rang eines "Koproduzenten" seiner Gesundheit.

Schon ist gar nicht mehr vom Patienten, sondern vom Kunden die Rede, von Leistungen statt Engagement, von Verträgen statt Vertrauen. Am Ende stehen sich "Health-Care-Consumer" und "Leistungserbringer" in nüchternem Umgang gegenüber, jeder berechnend, je nach Interessenlage. Mit immer stärker wachsender Patientenautonomie geriet der Arzt als Informationsbeschaffer zur Hintergrundfigur.

Ein neues Gespenst tauchte nun auf: die ins Extrem getriebene Selbstbestimmung des Patienten als purer rechtlicher Absicherungsrahmen in einem weitgehend emotionslosen, arztfreien Raum. Ernüchternd die Erkenntnis: Der allwissende, zu allen Entscheidungen befähigte Patient ist ein rares Wesen, ein hoch kompetenter, aber, wie der klinische Alltag erweist, einsamer Einzelgänger, der unversehens in eine neue Abhängigkeit geraten ist. Damit stellt sich die Frage: Haben gesundheitspolitische Reformen, die auf einem solchen Menschenbild gründen, überhaupt eine Chance auf Durchsetzung?

Rechnung ohne Wirt

Eine verabsolutierte Patientenautonomie ist der typische Fall einer Rechnung ohne den Wirt. Fundamentale Fragen im Vorfeld der Etablierung dieses Modells wurden nicht oder nur unzulänglich gestellt: Wie viel Autonomie will der kranke Mensch überhaupt, und wie viel verträgt er? Kann Mündigkeit Vertrauen ersetzen? Viele Patienten ziehen eine vertrauenswürdige Arzt-Patient-Beziehung der autonomen Selbstbestimmung vor. In einer neueren Untersuchung wurde die Aussage: "Ich bin sicher, dass die mich behandelnden Ärzte die richtigen Entscheidungen für mich treffen. Der Arzt soll für mich entscheiden", von 73 Prozent der Patienten bejaht, nur 17 Prozent verneinten sie. 

Auch ist Autonomie keine statische, sondern eine plastische Eigenschaft. Je kränker, je leidender, je hilfloser der Patient, desto mehr schwindet seine Fähigkeit zu selbstbestimmten Entscheidungen, beim bewusstlosen Notfallpatienten ist sie gar nicht gegeben. Wie autonom kann ein Suchtkranker sein? Von wie viel Autonomie zeugt die Klage eines hochgestellten Richters gegen einen Schokoriegel-Hersteller und eine Limonaden-GmbH, deren Produkte er für seine Zuckerkrankheit verantwortlich macht? Ist das Optimum der Autonomie nur etwas für junge Gesunde?

Auch der Weg zu selbstbestimmtem Verhalten wirft Fragen auf. Stimmt die Formel: Je mehr Wissen, desto größer die Mündigkeit? Patienten haben heute durch das Internet die Möglichkeit, Informationen anzuhäufen. Das Web mit seinen zahllosen Gesundheitsportalen bleibt kaum eine Antwort schuldig. Doch die Gewichtung der Auskünfte und die Prüfung ihrer Zuverlässigkeit überfordert viele Patienten. Andererseits kann die Wahrnehmung des verbrieften Rechts auf Nichtwissen, wenn es beispielsweise um genetische Daten geht, Ausdruck einer besonders ausgeprägten Selbstbestimmtheit sein.

Zurück nach vorn

Erfreulicherweise zeichnen sich Gegenströmungen zum Prinzip einer überzogenen Patientenautonomie ab, die den Arzt zum Wissensvermittler degradiert und den Kranken in die Isolation einer fiktiven Mündigkeit abdrängt. Das "Shared Decision Making"-Modell versetzt in einem schrittweisen Vertrauens-, Informations- und Diskursprozess Patient und Arzt in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren. Der Ansatz einer relationalen Autonomie bezieht das Fürsorgeprinzip wieder mit ein und berücksichtigt die Verletzlichkeit und Abhängigkeit in Krankheit und Leiden. Das so genannte deliberative Modell sieht im Arzt einen Lehrer und Freund, der sich mit dem Patienten über die besten Handlungsmöglichkeiten austauscht. Unsere Vorstellung einer "gestützten Autonomie" geht davon aus, dass der Patient seine Autonomie oft erst durch das stützende Engagement seines Arztes auf verschiedenen Ebenen wahrnehmen kann. 

Die Einsicht in dieses neue (und doch alte) Prinzip des Arzt-Patient-Verhältnisses, das dem Patienten Selbstbestimmung ermöglicht, soweit er sie beanspruchen kann und will, Fürsorge praktiziert und Geborgenheit ebenso vermittelt wie kompetente Entscheidungshilfe, ist freilich nicht umsonst zu haben. Sie setzt eine Ausbildung zum Arzt voraus, die gleichrangig mit naturwissenschaftlichem Wissen auch Dialogfähigkeit, einfühlendes Verstehen und lebendiges Interesse an dem Patienten lehrt. Diese Qualifikation ist das Nadelöhr aller Reformbestrebungen in der Medizin. 

Prof. Dr. med. Linus S. Geisler ist Internist und berät als Sachverständiger unter anderem die Bundestags-Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen Medizin".


Geisler, Linus S.: Idealbild - Der mündige Patient. Rheinischer Merkur, Nr. 21, 22. Mai 2003, S. 8
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/0522rm-patient.html

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