Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: WARUM EMBRYONEN FÜR FORSCHER TABU SEIN MÜSSEN. GESUNDHEIT, Ausgabe Mai 2002
Download / Druck: PDF-Version (11 kb) PDF-Version
Warum Embryonen für Forscher tabu sein müssen

Niemand hat das Recht, menschliche Embryonen zu töten. Schon gar nicht für Heilsversprechen, die vielleicht nie einzuhalten sind, sagt Professor Linus Geisler

CONTRA
Herr Professor Geisler, warum sind Sie gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen?

Humane embryonale Stammzellen werden aus menschlichen Embryonen gewonnen, die dabei getötet werden. Der Embryo, auch in diesem frühen Entwicklungsstadium, ist bereits ein heranwachsendes menschliches Wesen. Er verfügt über das volle Potential zur Entwicklung einer Person. Er hat Anspruch auf eine eigene Biographie. Wer könnte befugt sein, dieses Leben auszulöschen? Diese Frage stellt sich noch drängender, berücksichtig man das wachsende therapeutische Potential adulter Stammzellen. 

Sollte man nicht wenigstens jene Embryonen für die Forschung freigeben, die bei künstlichen Befruchtungen "übrig" blieben?

Diese Embryonen unterscheiden sich in nichts von jenen, die sich im Leib einer Mutter zu einem Kind entwickeln können. Das Ziel muss sein zu verhindern, dass die so genannten "überzähligen" Embryonen überhaupt entstehen. Aus guten Gründen verbietet das deutsche Embryonenschutzgesetz, pro Zyklus mehr als drei Embryonen zu erzeugen und sie einer Frau einzupflanzen.

Sind Sie auch gegen den Import bestehender Stammzellen, wie ihn der Bundestag erlaubt hat? Dafür müssen ja keine Embryonen mehr getötet werden.

Der Import von bestehenden Stammzellen bedeutet, das Unrecht der Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken im nachhinein gutzuheißen. Wer sich gegen die Tötung von Embryonen für die Forschung in Deutschland ausspricht, aber Stammzellen für die Forschung importiert, die aus getöteten Embryonen stammen, setzt sich dem Vorwurf der Doppelmoral aus.

Ist es gerechtfertigt, einen aus etwa hundert Zellen bestehenden Embryo um jeden Preis am Leben zu halten und damit die Chance auf Therapien für Millionen Menschen zu verspielen?

Es ist völlig offen, was die Forschung mit embryonalen Stammzellen jemals für die Behandlung kranker Menschen wird leisten können. Nicht einmal im Tierexperiment sind die fundamentalen Probleme des Umgangs mit embryonalen Stammzellen – wie die Entwicklung bösartiger Tumoren oder die Übertragung infektiöser Erreger – bisher zu beherrschen. Es steht also das Leben menschlicher Embryonen gegen hypothetische Heilsversprechen. Sicher würde niemand der Tötung eines Erwachsenen oder eines Säuglings zu Behandlungszwecken zustimmen, selbst wenn sich dadurch das Leben eines Kranken retten ließe. Wo aber ist eine Grenze nach unten zu ziehen? Und wer darf sie bestimmen? 

Könnten Sie einer vorübergehenden Erlaubnis zur Forschung an embryonalen Stammzellen zustimmen, wenn diese lediglich Erkenntnisse für eine spätere Therapie mit "adulten" Stammzellen liefern sollte?

Entweder hält man die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken für ethisch verwerflich oder für zulässig. Diese Haltung gilt dann auch für eine zeitlich begrenzte "Übergangstechnologie", denn es gibt keine "Übergangsethik".

Müssten Sie nicht konsequenterweise dafür eintreten, die Verhütung mit der Spirale zu verbieten, weil dabei die Einnistung lebender Embryonen in die Gebärmutterschleimhaut verhindert wird?

Neueren Untersuchungen zufolge verhindern Spiralen möglicherweise durch eine chronische Entzündung der Gebärmutterschleimhaut bereits die Befruchtung, unterbinden also nicht erst die Einnistung des Embryos. Hier spielt auch das Selbstbestimmungsrecht einer Frau, die aus zwingenden Gründen nicht schwanger werden möchte, eine Rolle. Ob es sinnvoll und kontrollierbar wäre, die Spirale zu verbieten, ist fraglich. Keinesfalls aber kann die Spirale eine Legitimation für die aktive Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken sein.

Ist es nicht Doppelmoral, die Abtreibung menschlicher Föten unter bestimmten Umständen zu dulden, das Abtöten von Embryonen für die Forschung in einem viel früheren Entwicklungsstadium aber zu verbieten?

Hier wird oft ein unbegründeter Wertungswiderspruch konstruiert. Bei einer Schwangerschaft muss zwischen dem Wohl, möglicherweise der Gesundheit oder sogar dem Leben der Frau und dem Leben des Embryos abgewogen werden – und dies in einer einzigartigen Situation von biologischer Verbundenheit. Fast immer liegt eine ernste Konfliktsituation vor. Bei der Stammzellforschung wird das Leben des Embryos gegen einen allenfalls hypothetischen Heilungserfolg abgewogen. Hier steht Lebensschutz gegen Forschungsfreiheit. Eine Konfliktsituation, die nur durch die Tötung des Embryo zu lösen wäre, besteht dabei nicht.

Gesetzt den Fall, Forscher würden eine Therapie mit embryonalen Stammzellen entwickeln. Könnte die Gesellschaft überhaupt darauf verzichten?

Ich selbst könnte eine solche Therapieform für mich nicht akzeptieren. In einer pluralistischen Gesellschaft müsste diese Gewissensentscheidung aber jeder für sich selbst treffen. Allerdings bin ich mir fast sicher, dass die Therapie mit Stammzellen in Zukunft für keine Krankheit die einzig wirksame Behandlung sein wird. Und noch eine Anmerkung: Wie wir mit Embryonen umgehen, wird zwangsläufig auch den Blick auf den Menschen am Ausklang seines Lebens bestimmen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass dies zu trennen ist.
Link:
Apotheken-Magazin GESUNDHEIT: http://www.gesundheit-pro.de/PGA/pga.htm?line=1&ressort=10900&rubrik=10903&heft=2&akt=1  -  Externer Externer Link 


Geisler, Linus: Warum Embryonen für Forscher tabu sein müssen. Interview in Apotheken-Magazin GESUNDHEIT, Ausgabe Mai 2002, S. 19f
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/05gp-stammzellen.html

Start  <  Artikelübersicht  <  dieser Artikel