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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Das Gespräch mit dem suizidalen Patienten
Erkennen und beurteilen der Suizidalität
Gespräche nach dem Suizidversuch
Das Gespräch mit dem suizidalen Patienten
Der Umgang mit suizidalen Patienten ist keine Domäne der Psychiatrie. Der niedergelassene Arzt erlebt den suizidalen Patienten in der präsuizidalen Phase, der Kliniker in der Regel nach einer aktuellen Suizidhandlung. Eine Schweizer Studie hat ergeben, dass 92% der "Suizidversucher" und 86% der "Suizidvollender" in den letzten 6 Monaten vor dem Ereignis in ärztlicher Behandlung waren, häufig bei mehreren Ärzten, rund die Hälfte regelmäßig. Die meisten Patienten (76% der Suizidversucher bzw. 58% der Suizidvollender) waren vor der Suizidhandlung beim Hausarzt. Häufig kannten sich Arzt und Patient über Jahre, dennoch war mehr als ein Drittel der Ärzte von der Suizidhandlung "überrascht".

In der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich rund 250 000 Patienten wegen einer Suizidhandlung in Krankenhäuser eingewiesen.
14 000 Menschen begehen Selbstmord, darunter befinden sich schätzungsweise 3 000 Patienten mit endogener Depression. 16% aller Patienten mit einem überstandenen Suizidversuch begehen im Folgejahr einen erneuten Suizidversuch. Das Rezidivrisiko nach einem Suizidversuch liegt im 1. Jahr am höchsten. Fast 85% aller Suizidanten einer internistischen Intensivstation können innerhalb kurzer Zeit entlassen werden,15% müssen wegen weiterbestehender akuter Suizidalität oder einer endogenen Psychose in eine psychiatrische Klinik verlegt werden (H. L. WEDLER, M. PHILIPP, H. J. BOCHNIK).

Selbstmörder zählen bei Ärzten und Schwestern zu den "unbeliebtesten Patienten". Dementsprechend ist die psychosoziale Versorgung von Suizidpatienten außerordentlich defizitär. Die negative Einstellung gegenüber dem Suizidpatienten hat viele Gründe. Häufig wird vermutet, dass der Patient "es gar nicht ernst gemeint hat". Eine Chance, ernst genommen zu werden, haben meist nur Patienten, die einen schweren Suizidversuch unternehmen. Diese immer noch hartnäckig vertretene Unterteilung in den demonstrativen Selbstmordversuch auf der einen und den "ernstgemeinten" Versuch auf der anderen Seite vernachlässigt völlig die subjektive Seite des Patienten. Vielen Ärzten fällt es schwer, Suizidversuche als Hilferufe an- und ernst zu nehmen, mit denen der Patient signalisiert, dass er mit seinen Mitteln vorübergehend nicht mehr weiterkommt (C. H. REIMER).

Die unbefriedigende Versorgung von Suizidpatienten hat eine Reihe von Ursachen: Der Umgang mit Suizidpatienten wird im Medizinstudium und in der Ausbildung der Pflegeberufe so gut wie nicht gelehrt. Die psychosoziale Versorgung von Suizidpatienten wird häufig delegiert (Psychologe, psychiatrischer Konsiliararzt). Dies führt automatisch zum emotionalen Rückzug vor dem Patienten - mit entsprechenden Konsequenzen für die Kommunikation. Suizidpatienten lösen beim Gegenüber eine Fülle von Ängsten aus: Ängste vor Aggressionen, vor Überforderung und Versagen, vor der eigenen Instabilität und dem eigenen Tod. Hinzu kommen Probleme durch die oft mangelhafte Compliance des Suizidpatienten. Manche Patienten weigern sich, über den Selbstmordversuch zu sprechen, und drängen auf sofortige Entlassung. Dies löst bei den Helfern das Gefühl aus, abgelehnt zu werden.

Der Suizidpatient stellt den Arzt im wesentlichen vor 2 Aufgaben:

  1. das Erkennen und Beurteilen der Suizidalität. Sie sind Voraussetzung einer möglichen Verhütung des Selbstmords. Diese besonders schwierige Aufgabe fällt häufig dem am wenigsten geschulten Arzt (Hausarzt, Allgemeinmediziner, niedergelassener Internist) zu.
  2. die Versorgung nach dem Selbstmordversuch liegt vorrangig in den Händen des Krankenhausarztes.


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Erkennen und beurteilen der Suizidalität
Von H. J. BOCHNIK, Professor am Zentrum für Psychiatrie der Universität Frankfurt, stammt der Vorwurf, dass wahrscheinlich 7 000 Selbstmorde in der Bundesrepublik Deutschland jährlich vermieden werden könnten, wenn nicht so viele Fehler in der Erkennung und Behandlung suizidaler Patienten, insbesondere Depressiver, begangen würden.

Das Erkennen der Suizidalität und des Suizidrisikos gehört zu den verantwortungsvollsten Aufgaben, die sich dem Arzt stellen können. Es bereitet selbst den suizidologisch Erfahrenen nicht selten große Probleme. Hier kann nicht auf testpsychologische, psychologisch-psychiatrische und psychologisch-soziologische Methoden zur Abschätzung der Suizidalität eingegangen werden, zumal ihre Effizienz durchweg kritisch zu beurteilen ist. Vielmehr soll versucht werden aufzuzeigen, welche Möglichkeiten der psychiatrisch-psychologisch nicht geschulte Arzt in der Praxis hat, um die Suizidalität abschätzen zu können. Der suizidalen Handlung geht, abgesehen von Kurzschlusshandlungen, in der Regel eine präsuizidale Entwicklung voraus (W. PÖLDINGER). Sie verläuft schematisch in 3 Stadien:

  • 1. Stadium: Erwägung
  • 2. Stadium: Ambivalenz
  • 3. Stadium: Entschluss 
Stadien
Stadien der suizidalen Entwicklungen (nach W. PÖLDINGER)

Im 1. Stadium (Erwägung) wird der Selbstmord als mögliche Problem- oder Konfliktlösung in Betracht gezogen. Dabei spielen einerseits psychodynamische Faktoren, wie Aggressionen, die nicht nach außen abgeführt werden können und sich daher nach innen wenden, eine Rolle, andererseits auch suggestive Momente (Suizide in der Umgebung). Dies erklärt beispielsweise die Beobachtung, dass Meldungen über Suizidhandlungen Prominenter in den Medien die Selbstmordquote in der Bevölkerung erhöhen können. So sank die Selbstmordquote in Boston (USA) während eines 6wöchigen Zeitungsstreiks deutlich ab.

Im Stadium der Ambivalenz entwickelt sich ein Kampf zwischen selbsterhaltenden und selbstzerstörerischen Kräften. In dieser Phase kann es zu direkten oder indirekten Suizidankündigungen kommen (Andeutungen, Drohungen, Voraussagen), die als Hilferufe und Kontaktsuche zu interpretieren sind. Diese Appelle müssen ernst genommen werden. Die Vorstellung: "Wer von Selbstmord spricht, tut dies nicht, und wer es tun will, spricht nicht davon", hat sich als irrig erwiesen. Etwa 80% aller Menschen, die Selbstmord begehen, haben vorher ihre Selbstmordabsicht angekündigt. Selbstmordabsichten werden häufig dann nicht ernst genommen, wenn der Betreffende damit einen Druck auf andere ausüben will.

Im 3. Stadium kommt es zum Entschluss, entweder für die Selbstmordhandlung oder für das Weiterleben. Der Umwelt fällt auf, dass sich der Patient "beruhigt" hat und nicht mehr über Selbstmordabsichten spricht. Es wäre trügerisch, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Selbstmordgefährdung nun nicht mehr gegeben ist. Vielmehr kann es sich um die "Ruhe vor dem Sturm" handeln. Es ist daher notwendig, denjenigen, der vom Selbstmord gesprochen oder damit gedroht hat und es nun nicht mehr tut, zu fragen, warum er jetzt leben will. Wer tatsächlich weiterleben will, wird dafür ohne weiteres einen Grund angeben können, während der zum Selbstmord Entschlossene zu keiner befriedigenden Antwort fähig ist.

Besteht der Verdacht, dass ein Patient suizidal ist, ohne Selbstmordabsichten zu äußern (Depression, Lebenskrise), ist es besser, ihn direkt auf mögliche Selbstmordabsichten anzusprechen, als sich in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen. Dies gilt vor allem für den Hausarzt, der den Patienten seit vielen Jahren kennt, da sich gezeigt hat, dass die lange Bekanntschaft mit einem Patienten eine fehlerträchtige Illusion sein kann. Auch der Arzt, der einen Patienten seit Jahren kennt, kennt immer nur einige Seiten des Kranken. Ist Suizidalität zu erwägen, so ist auch jahrelange Bekanntschaft kein Ersatz für das Gespräch.

Für die Einschätzung suizidaler Handlungen ist es wichtig zu berücksichtigen, dass es in der Psychodynamik, die zum Selbstmord und zum Selbstmordversuch führt, Unterschiede gibt. Bei der Selbstmordhandlung steht die Selbstaggression und Selbstzerstörung im Vordergrund. Der Selbstmordversuch kann tatsächlich ein missglückter Suizid sein, aber auch eine parasuizidale Handlung (N. KREITMAN, W. FEUERLEIN, zit. N. PÖLDINGER). Bei der parasuizidalen Geste handelt es sich nicht wirklich um einen missglückten Selbstmordversuch, sondern um eine suizidale Handlung, bei der die Appellfunktion ganz im Vordergrund steht. Es ist eine Form von averbaler Kommunikation, die angewendet wird, weil keine verbale Kommunikation mehr möglich ist. Dies ist auch die Erklärung dafür, dass bei jüngeren Menschen mehr Suizidversuche und bei älteren mehr Selbstmorde zu beobachten sind.

Abb.: Altersverteilung bei Suiziden und Suizidversuchen (nach DOTZAUER et al., 1963)

In der Bundesrepublik Deutschland steigt die Zahl der Selbsttötungen und Selbstmordversuche bei Jugendlichen weiter an. Bei jungen Menschen zwischen 12 und 15 Jahren steht der Suizid bereits an 2. Stelle der Todesursachen. Bei den 15 - 19jährigen machten Selbstmorde zwischen 1974 und 1983 12% aller Todesfälle in dieser Altersgruppe aus. Viele Suizidpatienten werden mit Trennungserlebnissen schwer fertig. In vielen Schulsystemen haben Jugendliche oft ab dem 15. Lebensjahr keinen intakten Klassenverband mehr, weil sie von einem Kurs zum anderen hetzen und kaum noch Kontakt zu Mitschülern haben. Ereignen sich dann noch familiäre Krisen (z.B. Scheidung der Eltern), so kann dieser Verlust von Bezugspersonen den Jugendlichen in den Selbstmord treiben.

Die andere besonders selbstmordgefährdete Gruppe sind alte Menschen. Aus der Statistik geht hervor, dass alleinstehende ältere Menschen (Verwitwete oder Geschiedene) besonders suizidgefährdet sind, vor allem wenn sie von dem Verlust eines langjährigen Partners betroffen sind. Vereinsamung und Isolierung begünstigen besonders bei alten Menschen den Entschluss zum Selbstmord. Einsam und isoliert können auch alte Menschen sein, die in einem Altenheim leben. Nicht die Zahl der sozialen Kontakte, sondern die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen ist ausschlaggebend.

Im übrigen sind Ärzte keineswegs gegen einen Suizid besonders gefeit. Die Suizidrate bei Ärzten liegt sogar höher als in der Gesamtbevölkerung. Möglicherweise ist dies einer der Gründe für die Hemmungen, mit suizidgefährdeten Patienten zu sprechen.

W. PÖLDINGER nennt 4 Punkte, auf die sich die Abschätzung der Suizidalität stützen sollte:

  1. Risikogruppen
  2. Krisen, Krisenanlässe und -anfälligkeit
  3. suizidale Entwicklung
  4. präsuizidales Syndrom
Nach Untersuchungen von KIEV und WILKINS besteht folgende Reihenfolge der Risikogruppen für Selbstmordhandlungen:
  1. depressive Patienten
  2. Alkoholiker, Medikamenten- und Drogenabhängige 
  3. Alte und Vereinsamte
  4. Personen, die durch Suizidankündigungen oder -drohung aufgefallen sind
  5. Personen, die schon einen Suizidversuch durchgemacht haben
Die Krise ist häufig der Vorläufer der suizidalen Handlung. Als Krise werden Ereignisse und Erlebnisse aufgefasst, die der Betroffene nicht mehr sinnvoll verarbeiten und bewältigen kann (HÄFNER, 1974). Die Suizidhandlung ist dann eine mögliche Strategie zur Lösung der Krise, und die Erkennbarkeit solcher Krisen stellt eine Möglichkeit zur Abschätzung der Suizidalität dar. Allerdings ist die Krisenanfälligkeit des einzelnen sehr unterschiedlich. Krisen können sich aus "normalen" Lebensveränderungen (Verlassen des Elternhauses, Heirat, Ruhestand) entwickeln oder aus (schicksalhaften) Ereignissen wie Tod eines Nahestehenden, schwere Krankheit, sozialer Abstieg etc. Ein Großteil der Krisen wird offensichtlich im sozialen Umfeld befriedigend gelöst. Andererseits kann die Reaktion der Umwelt Krisen aktualisieren und chronifizieren. Einer der wesentlichsten Gründe für den Selbstmord scheint aber das Nichtreagieren der Umwelt auf eine Krise zu sein.

Wird die Krise nicht gelöst, so besteht die Gefahr, dass sich ein präsuizidales Syndrom (E. RINGEL) entwickelt. Diese in 3 Stadien ablaufende Entwicklung stellt eine wichtige Möglichkeit zur Abschätzung der Suizidalität dar. Die Komponenten des von RINGEL (1969) erarbeiteten präsuizidalen Syndroms sind in der Tabelle aufgeführt.
 

Das präsuizidale Syndrom (nach RINGEL, 1969)
  1. Zunehmende Einengung: situativ, dynamisch, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Wertwelt.
  2. Aggressionsstauung und Wendung der Aggression gegen die eigene Person.
  3. Selbstmordphantasien (zunächst aktiv heraufbeschworen, später sich aufdrängend).

Die Einengung, insbesondere die affektive Einengung, ist relativ leicht zu erkennen. Sehr viel schwieriger ist das Erfassen einer gegen die eigene Person gerichteten Aggressivität. Suizidgedanken und Todeswünschen, insbesondere wenn sie sich dem Patienten aufdrängen, kommt eine große Bedeutung zu. Um die Erfassung des präsuizidalen Syndroms zu erleichtern, hat W. PÖLDINGER einen einfachen Katalog von Fragen an suizidale Patienten entworfen.

Fragen an suizidale Patienten (nach W. PÖLDINGER, 1982)
 

Suizidalität Haben Sie auch schon daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?
Vorbereitung Wie würden Sie es tun? Haben Sie schon Vorbereitungen getroffen? 
(Je konkreter die Vorstellungen, desto größer das Risiko)
Zwangsgedanken Denken Sie bewusst daran oder drängen sich derartige Gedanken, auch wenn Sie es nicht wollen, auf? 
(Sich passiv aufdrängende Gedanken sind gefährlicher)
Ankündigungen Haben Sie schon über Ihre Absichten mit jemandem gesprochen? 
(Ankündigungen immer ernst nehmen)
Aggressionshemmung Haben Sie gegen jemanden Aggressionen, die Sie unterdrücken müssen? 
(Aggressionen, die unterdrückt werden müssen, richten sich gegen die eigene Person)
Einengung Haben Sie Ihre Interessen, Gedanken und zwischenmenschlichen Kontakte gegenüber früher eingeschränkt und reduziert?

Das Erkennen der Suizidalität ist der 1. Schritt in Richtung Suizidprävention, die Aufdeckung der Gründe (Konfliktsituation, Depression) der nächste.
Die Erkennung einer ausgeprägten Depression bereitet in der Regel keine Probleme. Sie imponiert als generelles "Losigkeitssyndrom" (Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Trostlosigkeit, Antriebslosigkeit, Schlaflosigkeit usw.). Problematischer ist die Erfassung einer larvierten Depression, die ihrem Wesen nach nicht ohne weiteres an den Klagen und deren Inhalten erkannt werden kann. Der Ausschluss eines entsprechenden organischen Korrelats auf der einen und eine häufig bilderreiche, mit Vergleichen operierende Ausdrucksweise ("als ob mir ein Schälchen mit Galle auf die Zunge ausgegossen wird ...") sind weiterführende Hinweise (P. KIELHOLZ, 1973, L. S. GEISLER, 1973).

MEERWEIN betont, dass die affektive Gegeneinstellung des Arztes zum diagnostischen Wegweiser bei Depressionen werden kann. Verspürt der Arzt bei der Schilderung der Beschwerden des Patienten selbst ein depressives Gefühl oder eine depressive Verstimmung, kann darin ein Hinweis auf das Vorliegen einer larvierten Depression gesehen werden.

Ist eine Depression anzunehmen, so muss frühzeitig eine Behandlung mit geeigneten Antidepressiva (und nicht mit Psychopharmaka vom Benzodiazepin-Typ) eingeleitet werden. Es hängt von der Schwere der Depression und der Erfahrung des Therapeuten im Umgang mit Depressiven ab, ob er die Behandlung selbst durchführen kann, oder ob sie vom Facharzt übernommen werden sollte. Beim geringsten Zweifel, insbesondere wenn eine deutliche Suizidalität erkennbar wird, ist die psychiatrische Therapie anzustreben.

Es gibt eine Reihe allgemeiner Regeln für das ärztliche Gespräch mit Depressiven: Eine Entlastung kann in erster Linie dadurch erreicht werden, dass der Arzt dem Patienten signalisiert, dass er dessen Depression versteht. Meist ohne Wirkung ist der Versuch, den Patienten "zu trösten", da der Depressive "trostlos" und damit auch untröstbar ist. Ebenso wirkungslos sind alle vordergründigen und oberflächlichen Aufmunterungsversuche ("Spannen Sie am Wochenende mal richtig aus", "Reißen Sie sich kräftig zusammen"). Der Depressive ist weder in der Lage, sich wirklich zu entspannen, noch gelingt es ihm, durch Mobilisierung seiner Kräfte Mut und Antrieb zu gewinnen. Das Sich-Zusammenreißen wird zum "Sichzusammenreißen" im buchstäblichen Sinne, weil das Misslingen der Anstrengungen die Depressivität noch weiter verstärkt. Auch Ablenkungsversuche (Reisen, Urlaub, Kino- und Theaterbesuche) sind wenig nützlich. Ebenso verfehlt sind alle "Schulterklopfmethoden" ("Das wird schon wieder werden" usw.). Entscheidend ist, dass sich der Depressive mit seinen Symptomen angenommen und verstanden fühlt. Der Hinweis, dass erfahrungsgemäß Depressionen sich so auflösen können, wie sie gekommen sind, kann entlastend wirken.



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Gespräche nach dem Suizidversuch
Die Betreuung des Patienten nach einem Suizidversuch erfolgt in der Regel im Allgemeinkrankenhaus. Die Realität sieht so aus, dass sich die Versorgung meist auf die somatische Therapie ("Entgiftung") beschränkt. Bei dieser Versorgungsform wird der Patient mit seiner ungelösten Problematik wieder entlassen und noch zusätzlich belastet durch den "Makel" des gescheiterten Selbstmordversuchs. Auch die Hinzuziehung eines Konsiliarpsychiaters hat häufig nur die Funktion, Patienten mit akuten Psychosen oder psychiatrisch dringlich behandlungsbedürftigen Krankheitsbildern herauszufiltern. Die Mehrzahl der Suizidpatienten (90—95%) bleiben auch bei diesem System unzureichend versorgt. Kann ein sogenannter Liaison-Psychiater beigezogen werden, der das medizinische Team im Umgang mit dem Suizidpatienten berät und ggf. Sozialarbeiter, Psychologen und Theologen hinzuzieht, so kann eine umfassende Versorgung des Suizidpatienten zustandekommen. Das System des Liaison-Psychiaters ist jedoch meist an eine angeschlossene psychiatrische Abteilung gebunden. Ganz selten stehen nach amerikanischem Muster konzipierte spezialisierte Kriseninterventionseinheiten zur Verfügung. Mit anderen Worten: Die Betreuung des Suizidpatienten im Krankenhaus wird in den meisten Fällen von nicht speziell geschulten Ärzten durchgeführt. Ihnen fallen im wesentlichen folgende Aufgaben zu (GOLL und SONNECK, 1980):
  • Herstellung einer Beziehung: effektives Erstgespräch, Vermittlung von Präsenz, Verständnis, Hilfsbereitschaft und Zuversicht, Entängstigung und Beruhigung.
  • Abschätzung des Zustands des Patienten, des Schweregrads der Problematik und der Suizidalität.
  • Klärung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, dementsprechend weiterleiten an eine geeignetere Organisation (aber kein "Wegschicken"!).
  • Erstellen eines Hilfsplans gemeinsam mit dem Patienten, der möglichst viele Kurzetappen umfasst, da die Ziele der Intervention kurzfristig realisierbar sein sollten. Diese Hilfe zur Selbsthilfe wird über verschiedene Wege vermittelt: Der Patient muss vom emotionalen Druck durch Aus- und Besprechen von Ängsten, Schuldgefühlen, Aggressionen und Suizidgedanken entlastet werden. Eine Distanzierung von der Krisensituation kann durch Reflexion des auslösenden Ereignisses sowie der damit verbundenen Gefühle, Vorstellungen und möglichen Konsequenzen angestrebt werden. Die Eigeninitiativen des Patienten sollten gefördert werden. Die soziale Reintegration ist rasch anzustreben.
  • Ein vorbereitender Verhaltensplan für eventuelle neue Krisenanlässe ist auszuarbeiten.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass dem Erstgespräch nach einem Suizidversuch eine entscheidende Rolle zukommt. Jedes Wort und jede Reaktion, die ein erwachender Patient zuerst am Krankenbett erfährt, kann für sein weiteres Schicksal bestimmend werden! Denn dieser Erstkontakt stellt aus der Sicht des Suizidpatienten die erste Antwort der Umwelt auf seinen Selbstmordversuch dar. Deshalb kann es für die weitere Verarbeitung seiner Konflikte und seines gescheiterten Selbstmordversuchs entscheidend sein, ob der Kranke auf freundliche Akzeptanz und Hilfsangebote oder auf Ablehnung, Verurteilung oder indirekte Bestrafung stößt. Dazu Hans Ludwig WEDLER: "Die Art und Qualität der ersten verbalen wie nichtverbalen Kommunikation am Krankenbett entscheidet somit wesentlich darüber, ob ein Patient wieder Vertrauen zu der Realität fassen kann, aus der er flüchten wollte, und auch über seine 

Bereitschaft, weitere Hilfe anzunehmen. Ein Lächeln des Arztes und der Schwester, ein freundliches Wort - das ist schon positive Krisenintervention."

Das Ziel der Krisenintervention nach dem Selbstmordversuch ist die richtige Weichenstellung für das weitere Leben. WEDLER nennt 7 Schritte im Umgang mit Suizidpatienten, die der Krisenintervention dienen:
1. Schritt: frühzeitige Kontaktaufnahme (Wichtigkeit des Erstgesprächs!);
Inhalt: "Ich bin bereit, dich zu akzeptieren." 
2. Schritt: Gelegenheit geben zum Sich-Aussprechen;
Inhalt: "Ich bin bereit, dir zuzuhören."
3. Schritt: Wiederherstellung sozialer Beziehungen (zu Pflegepersonal, Ärzten, Mitpatienten);
Inhalt: "Soziales Übungsfeld in neutraler Atmosphäre." 
4. Schritt: Einzelgespräche, Analyse der psychosozialen Situation und der Krisenentwicklung; Gespräch mit Bezugspersonen; Paar-, Familiengespräche.
5. Schritt: Weichenstellung zur Weiterbehandlung und Nachsorge; Motivierung des Patienten; Vermittlung.
6. Schritt: Versuch einer Einordnung des suizidalen Verhaltens im psychosozialen Bezugssystem des Patienten (Metakommunikation).
7. Schritt: Relativierung der eigenen Helferrolle.

Diese Form der Krisenintervention ist ohne einen gewissen Zeitaufwand nicht möglich. Nach Analysen von WEDLER erfordert eine vollständige Krisenintervention im Durchschnitt 5 - 6 Einzelgespräche mit dem Patienten und 1 - 2 Gespräche mit Angehörigen.

Die Krisenintervention kann durch 2 psychologische Begrenzungsfaktoren mehr oder minder stark erschwert werden (M. PHILIPP):
Die Mehrzahl der Suizidpatienten auf internistischen Intensivstationen durchlebt ein mehrstündiges bis mehrtägiges Durchgangssyndrom in der Nachentgiftungsphase. Meist ist das Durchgangssyndrom diskret und beschränkt sich auf leichte Störungen der Merkfähigkeit und auf eine affektive Labilität. Dies bedeutet, dass Gespräche, Ratschläge und Hinweise in der Nachentgiftungsphase nicht selten wegen dieser amnestischen Komponente vergessen werden. Damit wird die Wichtigkeit mehrfacher Einzelgespräche unterstrichen.

Eine weitere psychologische Barriere auf der Intensivstation ist die Verdrängungs- und Verleugnungsneigung des Suizidpatienten. Sie wurzeln häufig in einer prämorbiden Fehlentwicklung des Selbstwertsystems. Dieses äußert sich in einem überhöhten Ich-Ideal und einer vermehrten Kränkbarkeit. Der fehlgeschlagene Suizidversuch und das Ausgeliefertsein auf der Intensivstation wirken dann als zusätzliche erhebliche Selbstwertkränkungen des Patienten, denen er durch Verleugnung und Verdrängung zu begegnen versucht. Dies ist auch der Grund, warum frühere Suizidversuche gerne (auch von den Angehörigen) verschwiegen werden. Ausdruck dieser Verleugnungshaltung ist beispielsweise das starke Drängen auf rasche Entlassung und die Ablehnung einer psychologischen oder psychiatrischen Betreuung.

In der Gesprächsführung mit Suizidpatienten ist es daher besonders wichtig, alle abwertenden Formulierungen und kritischen Äußerungen zum Selbstmordversuch zu vermeiden. Die Wichtigkeit dieser Grundeinstellung sollte auch den Angehörigen klargemacht werden. Das Ziel der Gesprächsführung mit Suizidanten ist neben der Aufarbeitung der Problematik die Stärkung des gestörten Selbstwertgefühls. Dieses Ziel ist am ehesten durch eine Grundeinstellung zu erreichen, die den Suizidanten ohne Vorbehalte akzeptiert und ihm das Gefühl vermittelt, dass man bereit ist, ihn in seiner Handlungsweise zu verstehen. M. PHILIPP: "Nicht das Ausreden der Suizidabsichten und das Bagatellisieren der Probleme, sondern das Ernstnehmen der subjektiven Erlebensweise des Suizidanten ist hilfreich."

Die meisten Lebenskrisen laufen in den Phasen Schock, Reaktion, Bearbeitung und Neuorientierung ab (CULLBERG, 1978). Der suizidale Patient befindet sich in der Phase des Schocks. Das Wesen jeder Betreuung von Suizidpatienten lässt sich daher auf eine Formel bringen: "Bezogen auf die Phasen der Krise ... steht zum Zeitpunkt des Schocks die Präsenz im Vordergrund, das Da-Sein und Zur-Seite-Stehen (die 'stellvertretende Hoffnung sein')" (G. SONNECK).
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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