Die ärztliche Ethik
verpflichtet heute nachdrücklicher |
als zuvor zu öffentlicher
Aufklärung darüber, dass |
Gesundheit nicht die
Abwesenheit von Störungen ist, |
sondern die Kraft, mit
ihnen zu leben. |
Dieter Rössler,
Arzt und Theologe
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Gespräche mit
dem chronisch Kranken
Das Handlungsfeld des Arztes wurde über
Jahrtausende durch die Behandlung akut Kranker bestimmt. Veränderungen
der Bevölkerungsstruktur, Zunahme der Lebenserwartung, die vielfältigen
lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen und Effekte der
High-Tech-Medizin haben hier zu einem gewaltigen Panorama- und Paradigmawandel
geführt. Noch 1901 starben 41% der Menschen an akuten Krankheiten,1955
nur noch 9,8%. Chronische Krankheiten waren 1901 bei 46% der Menschen Todesursache,
1955 jedoch bei 81,4%. Eine in norddeutschen Allgemeinpraxen durchgeführte
Studie (sogenannte Verden-Studie, zitiert nach F. HARTMANN) ergab, dass
das Krankengut des praktischen Arztes zu 68% aus chronisch Kranken besteht.
Der letzte Mikrozensus von 1982 beziffert bei 9,6 Millionen Kranken die
Zahl der chronisch Kranken am Stichtag mit 66%.
H. H. RASPE definiert chronische Krankheit
folgendermaßen: "Chronisch nennen wir eine Krankheit, die dem Betroffenen
(und meist auch anderen Personen) für den Rest seines Lebens eine
merkliche materielle und immaterielle Last aufbürdet." Diese Lasten
sind einerseits krankheitsspezifisch, wie beispielsweise rezidivierende
Luftnot beim Asthmatiker, Bewegungsbehinderung bei rheumatoider Arthritis,
andererseits gelten sie für jeden chronisch Kranken: anhaltende Therapie-
und Kontrollbedürftigkeit, soziale Isolation, Zukunftsunsicherheit,
beruflicher Abstieg, Schwierigkeiten mit und Kränkungen durch die
Umgebung, Belastungen durch Aufklärungsdefizite.
Akute und chronische Krankheit
Akute und chronische Krankheiten sind völlig
unterschiedliche
Formen des Krankseins. Die Kenntnis dieser Unterschiede ist eine Grundvoraussetzung
für das adäquate ärztliche Vorgehen und Verhalten. Sie berühren
auch das Selbstverständnis der eigenen Rolle als Arzt bei der
Betreuung chronisch Kranker. F. HARTMANN formuliert dies kurz und treffend:
"Für den chronisch Kranken ist sein ihn betreuender Arzt ,chronisch
Arzt'." HARTMANN fährt fort: "Was es bedeutet, erlebt jeder Arzt,
der über 10 oder 15 Jahre einen chronisch Kranken betreut hat, wenn
dieser stirbt. Dann merkt und fühlt der Arzt, wie sehr dieser chronisch
Kranke Teil seiner eigenen Identität geworden war. Er trauert um ihn,
und diese Trauerarbeit ist wie bei nahen Angehörigen wieder Ausgleich
eines Identitätsverlustes."
Die Sicht des Kranken
Aus der Sicht des Patienten wird chronisches
Kranksein durch folgende Merkmale bestimmt (L. R. SCHMIDT, F. HARTMANN):
-
Dauerhaftigkeit und Unabsehbarkeit
der
Erkrankung. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass dennoch ein großer
Anteil "hoch informierter chronischer Kranker" konkrete Hoffnungen auf
ein Ende ihres Krankseins hegt. HARTMANN gibt diesen Anteil bei chronischen
Rheumatikern mit 50% an.
-
Langfristigkeit von Bedrohung und Belastung,
häufig verbunden mit einer latenten Todesdrohung.
-
Wissen um die Nichtheilbarkeit und
dass bestenfalls eine Anpassung an ein irreparables Defizit möglich
ist.
-
Zurückbleiben von Dauerschäden,
die
mit einem Verzicht auf bestimmte berufliche Erfolge und einer Einschränkung
der Persönlichkeitsentfaltung verbunden sind.
-
Dauernde Notwendigkeit der Überwachung,
Beobachtung, Behandlung und/oder Pflege, d. h. die bleibende
Abhängigkeit von anderen Menschen und von Geräten und Maschinen
(z. B. chronische Dialysepatienten).
Auseinandersetzung mit dem chronischen
Kranksein
Es ist nahezu unmöglich, chronisch krank
zu sein, ohne Prozesse der Auseinandersetzung zu durchlaufen. Obwohl das
individuelle Repertoire der Auseinandersetzungsstrategien eine große
Variabilität aufweist, gibt es eine Reihe von Grundmechanismen universeller
Art, die sich unter dem Oberbegriff der Auseinandersetzung zusammenfassen
lassen (L. R. SCHMIDT). Ihre Kenntnis ist für die Betreuung chronisch
Kranker von großer Bedeutung. Es gibt zwei wesentliche Reaktionsmuster
der
Auseinandersetzung:
-
Abwehrmechanismen und
-
Bewältigung (coping).
Abwehrmechanismen sind Verarbeitungsprozesse,
die
meist unbewusst ablaufen, realitätsverzerrend sind und das Ziel haben,
Bedrohung und Angst zumindest vorübergehend zu bewältigen. Gelingt
die Abwehr, so entzieht sie sich häufig dem direkten Nachweis. Nur
indirekte Indikatoren lassen dann vermuten, dass Abwehrmechanismen wirksam
waren, so z. B., wenn bei einem Patienten eine auffallende Diskrepanz zwischen
ausgeglichener oder euphorischer Stimmungslage und Schwere bzw. Aussichtslosigkeit
seiner Erkrankung besteht.
Der wichtigste Abwehrmechanismus ist die
Verdrängung.Dabei
werden "vom Ich nicht zu bewältigende Motive, Affekte und Vorstellungen
in einem überwiegend unbewussten Prozess nicht ins Bewusstsein aufgenommen
oder von ihm abgespalten" (L. R. SCHMIDT). Der Patient ist dann nicht mehr
gezwungen, sich mit der Realität auseinander zusetzen, und bewegt
sich in der von ihm konstruierten heileren Welt. Das Extrem der Verdrängung
ist die Verleugnung, die häufig bei Krebskranken zu beobachten
ist. Der Verleugnungsprozess ist jedoch nicht kontinuierlich und vollständig
aufrechtzuerhalten, so dass ein für den Beobachter verblüffender
Wechsel zwischen "Wissen und Nichtwissen" resultieren kann.
Ein zweiter wichtiger Abwehrmechanismus
ist die sogenannte Regression. Darunter versteht man den "Ersatz
komplexer Befriedigungsformen von einem, mehreren und mitunter allen Motiven
in einer Person durch primitivere Befriedigungsformen. Anders gesagt, Regression
ist der Rekurs einer Person auf ein primitiveres (früheres) Niveau
der Motivationsentwicklung" (TOMAN, 1978). Regressionsphänomene lassen
sich häufig besonders gut bei Krankenhauspatienten während lange
dauernder stationärer Aufenthalte beobachten. Diese Patienten wirken
dann in gewisser Weise kindlich, abhängig und reduziert. Essen, Trinken
und Verdauung gewinnen einen dominierenden Stellenwert. Die sogenannte
"Krankenkarriere" kann als besonders weitreichende Regression verstanden
werden. Der Kranke unterwirft sich je nach Art von Erkrankung, Verlauf
und Krankheitsstadium einer bestimmten Rollenkonzeption, die seinen Handlungsspielraum
bestimmt und von ihm ein ungeschriebenes Rollenverhalten abverlangt.
Der Begriff Coping stammt aus der
angelsächsischen Literatur (englisch: to cope with = fertig werden
mit) und stellt einen anderen Prozess der Bewältigung dar. Unter dem
Oberbegriff Coping werden polare Haltungen wie einerseits Vermeidung, andererseits
Vigilanz subsumiert. Die Vermeidung ist dadurch gekennzeichnet,
dass der Patient sich mit den belastenden Aspekten seiner Krankheit nicht
mehr auseinandersetzt, sie (scheinbar) nicht wahrnimmt oder ihre Bedrohlichkeit
nicht realisiert. Im Gegensatz dazu ist Vigilanz gekennzeichnet
durch eine Tendenz, bedrohliche Aspekte der Krankheit besonders intensiv
wahrzunehmen und sich überstark mit ihnen zu befassen. Welche der
Strategien, Vermeidung oder Vigilanz, die "erfolgreichere" ist, lässt
sich nicht sicher entscheiden.
Wie vielschichtig die Auseinandersetzungsphänomene
und
Adaptationsanforderungen
bei
schweren chronischen Erkrankungen sind, lässt sich am Beispiel von
Dialysepatienten gut verdeutlichen. C. A. BALDAMUS (1986) nennt folgende
Adaptationsanforderungen bei chronischen Dialysepatienten:
-
Anerkennung der Erkrankung,
-
Überlebenswille,
-
Disziplin (Diät, Flüssigkeitszufuhr,
Medikamente, Dialyseregime),
-
berufliche Rehabilitation,
-
soziale Aktivitäten,
-
Familienbeziehungen,
-
psychische Verarbeitung.
Bei der Betreuung chronisch Kranker darf nicht
vergessen werden, dass parallel zur Krankheit sekundäre Prozesse ablaufen
können, die unbewusst der Aufrechterhaltung der Krankheit dienen.
Gerade Gesellschaftsstrukturen, die ein besonders hohes Maß an sozialer
Absicherung gewährleisten, fördern derartige Tendenzen. Denn
im Prinzip muss bei allen chronischen Krankheiten mit einem sekundären
Krankheitsgewinn gerechnet werden. Dieser ist um so höher, je
mehr Annehmlichkeiten (Freistellung von unangenehmen Arbeiten, Urlaubssonderregelungen,
erhöhte Aufmerksamkeit) mit der Krankheit verbunden sind.
Arzt und chronisch Kranker
Akute und chronische Krankheiten
stellen
grundsätzlich unterschiedliche Formen des Krankseins dar. Sie bedingen
daher auch unterschiedliche Formen der Gesprächsführung und der
Behandlungsstrategien.
Abb.: Die unterschiedlichen
Aufgabenbereiche des Arztes bei akut und chronisch Kranken (F. HARTMANN,
1986)
F. HARTMANN hat die Unterschiede von akuter
Krankheit und chronischem Kranksein einander gegenübergestellt
(s. Tab.).
Entsprechend der unterschiedlichen Natur
von akuter Krankheit und chronischem Kranksein ist auch die Verteilung
von Vertrauen und Verantwortung auf Arzt und Patient ganz unterschiedlich.
Während akute Krankheiten durch Fremdverantwortung und Fremdvertrauen
des Patienten gekennzeichnet sind, sind beim chronisch Kranken Selbstverantwortung
und
Selbstvertrauen
gefragt
(s. Abb.).
Abb.: Unterschiedliche
Verteilung von Vertrauen und Verantwortung zwischen Arzt und akut bzw.
chronisch Krankem (F. HARTMANN, 1986)
Folgende weitere Gesichtspunkte sind
bei der Betreuung chronisch Kranker zu berücksichtigen:
-
Der chronisch Kranke weist häufig ein
besonders intensives Informationsbedürfnis auf. Dies kann dazu
führen, dass er sich im Laufe seiner Erkrankung zum "Experten" entwickelt.
Dieses Expertentum findet dann manchmal den Niederschlag in ironischen
Bezeichnungen wie "Diplom-Asthmatiker". Dieses "Expertentum" muss als Teil
des Adaptationsprozesses akzeptiert werden und kann ein positives Element
in der Betreuung darstellen.
-
Der chronisch Kranke ist in hohem Maße
empfindlich
gegen Phrasen, Halbwahrheiten und trügerische Hoffnungen.
Sie
sind nicht selten die wirkliche Ursache des Wanderns von Arzt zu Arzt.
Werner ZENKER, ein chronischer Asthmatiker, schreibt in seinem Buch "Mit
Asthma leben lernen": "Können Sie sich vor schlechten Erfahrungen
mit Ärzten schützen? Eine Vorbedingung ist: Haben Sie keine übertriebenen
Erwartungen! Nur wenn Sie sich völlig sicher sind, dass Sie Ihren
Arzt nicht als Wunderheiler betrachten, sondern als Partner im Krankheitsprozess,
dann können Sie anhand von vielen konkreten Beobachtungen überprüfen,
ob Sie eine gute Arztwahl getroffen haben."
-
Chronische Krankheit kann zum "Spielinstrument"
werden,
das sich bewusst oder unbewusst vielfältig anwenden lässt: gegenüber
dem Lebenspartner, dem Arzt, den Kostenträgern, der Umwelt ganz allgemein.
Fast jeder chronisch Kranke unternimmt irgendwann
"Ausbruchsversuche" aus der sogenannten Schulmedizin und flüchtet
zu Außenseitermethoden. Der betreuende Arzt sollte dieses Verhalten
ohne persönliche Empfindlichkeit als notwendigen Lernprozess seines
Patienten akzeptieren, ihn aber bei gefährlichen Behandlungsmaßnahmen
über die Risiken sachlich aufklären.
Die Aufgaben und die Rolle des Arztes
bei
der Betreuung chronisch Kranker hat F. HARTMANN folgendermaßen zusammengefasst:
-
Vermeidung und Überwindung von Krisen,
-
Kontrolle der Krankheitssymptome,
-
Ausarbeitung von Verhaltensweisen und
Behandlungsplänen,
-
Verhütung und Beseitigung sozialer
Isolation,
-
Vorbereitung auf Änderungen des
Krankheitsverlaufs und auf Rückfälle,
-
Anregungen und Hilfen, sich wie ein "bedingt
Gesunder zu verhalten,
-
Findung und Bereitstellung von Mitteln:
soziale
Hilfen, Geld, Arbeit, Kur,
-
Entwicklung eines Arbeitsbündnisses.
Im Idealfall wird es dem Arzt gelingen, "einen
Kranken vom Status des chronisch Krankseins zum - auch wenn nur vorübergehend
- Status des bedingt Gesundseins zu verhelfen ..." (F. HARTMANN).
Leitlinien der Betreuung chronisch
Kranker
-
Chronisches Kranksein unterscheidet
sich grundsätzlich von akuter Krankheit.
-
Das Schwergewicht liegt mehr auf der Betreuung
als der Behandlung.
-
Verarbeitungsprozesse (Abwehrmechanismen,
Bewältigungsstrategien) müssen berücksichtigt werden. Wichtig
ist die Stärkung von Selbstverantwortung und Selbstvertrauen
des
Patienten.
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Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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