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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Gesprächstechnik - Allgemeine Grundlagen
 
Die 4 Botschaften des Sprechens 
Anatomie der Nachricht
Metakommunikation
Die Nachricht hören
Man kann nicht nicht kommunizieren.
Watzlawick (1969)
Die 4 Botschaften des Sprechens
Sprechen ist immer mehr als der Austausch von Informationen zwischen einem Sender und einem Empfänger. Wenn ich (Sender) spreche, verschlüssele ich mein Anliegen in erkennbare Zeichen (Nachricht). Sie werden von meinem Gesprächspartner (Empfänger) entschlüsselt. Hat der Empfänger meine Nachricht "richtig" entschlüsselt, d.h., stimmen gesendete und empfangene Nachricht überein, hat eine Verständigung stattgefunden. Sprechen ist eben mehr als ein "Geschehen zwischen zwei EDV-Anlagen" (R. Lay).

Der Vorgang der Übermittlung einer Nachricht durch Sprechen enthält in der Regel nicht nur eine "Botschaft", nämlich die Mitteilung einer Information, sondern gleichzeitig 4 Botschaften. Sie lauten:

  1. Sachinhalt (Information)
  2. Selbstoffenbarung
  3. Beziehung (Kontakt)
  4. Appell
Ein einfaches Beispiel aus dem Alltag soll dies verdeutlichen: Die Mutter begrüßt ihren Sohn, der sie recht selten besucht, mit dem Satz: "Schön, dass du wieder mal da bist!"

Die Anatomie dieser Nachricht lässt rasch erkennen, dass in diesem Satz tatsächlich mehr als nur eine Botschaft steckt.

Abb.: Die 4 Seiten ("Botschaften") einer Nachricht (modif. nach F. SCHULZ VON THUN)
 
Lupe1 Abb.: Die 4 Botschaften der Nachricht "Schön, dass du wieder mal da bist" unter der kommunikationspsychologischen "Lupe" (modif. nach F. SCHULZ VON THUN)

Die 1. Botschaft ist die Mitteilung eines eindeutigen Sachinhaltes: Die Tatsache, dass du da bist, ist schön. Wir spüren aber natürlich sofort, dass dieser Satz mehr beinhaltet als nur eine einfache Feststellung.

Er sagt ebenfalls etwas über den Sender der Nachricht, die Mutter, aus. Mit dem Satz: "Schön, dass du wieder mal da bist" spricht die Mutter auch über ihre Gefühle und damit über sich selbst: Sie lässt erkennen, dass sie den Sohn vermisst hat, dass sie Sehnsucht nach ihm hatte und sich jetzt freut, ihn wiederzusehen. Sie lässt erkennen, wie ihr zumute ist. Diese Selbstoffenbarung ist die 2. Botschaft der Nachricht.

Die 3. Botschaft sagt etwas darüber aus, wie Mutter und Sohn zueinander stehen, wie ihre Beziehung ist. Meistens enthält die Botschaft "Beziehung" sogar zwei verschiedene Botschaften: Einmal drückt sie aus, was der Sender vom Empfänger hält, und zweites, wie das Verhältnis (Kontakt) zwischen Sender und Empfänger ist. In unserem Beispiel hat der Satz: "Schön, dass du wieder mal da bist" einen unüberhörbaren kritischen Unterton. Die Mutter will auch sagen: "Du kümmerst dich nicht genug um mich." Damit sagt sie etwas über den Sohn als den Empfänger der Nachricht aus. Gleichzeitig wird in dem Satz aber auch die Enge und Vertrautheit der Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn deutlich.

Die 4. Botschaft, die in dem Satz steckt, enthält einen eindeutigen Appell: Die Mutter will mit dem Satz auch zum Ausdruck bringen: "Du solltest mich öfter besuchen!"

Immer, wenn wir miteinander sprechen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Nachrichten, die wir austauschen, mehrere Botschaften gleichzeitig enthalten, die ein sehr unterschiedliches Gewicht besitzen können, und dass keineswegs die vordergründig wichtig erscheinende Botschaft - meist die Information - die entscheidende sein muss.

Kompliziert wird dieser Vorgang noch dadurch, dass Sender und Empfänger verschiedene Botschaften einer Nachricht für die wesentliche halten. So kann es passieren, dass der Empfänger den Sachinhalt für die entscheidende Botschaft hält, während es dem Sender vielmehr um die Beziehungsseite oder den Appell geht. Es liegt auf der Hand, dass sich daraus tiefgreifende Missverständnisse zwischen beiden entwickeln können, obwohl die gesendete Nachricht scheinbar völlig klar und unmissverständlich ist.

Wird in unserem Alltagsspiel der Sohn lediglich mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, dass seine Mutter sich über seinen Besuch freut, mehr aber nicht, und sie daher auch in Zukunft nicht häufiger besuchen, so wird diese Begegnung für die Mutter unbefriedigend sein, weil ihr Sohn offenbar die für sie entscheidenden drei anderen Botschaften, nämlich ihr Gefühl der Einsamkeit, ihre leise Kritik an seinem Verhalten und ihren Appell, sie öfter zu besuchen, "nicht verstanden hat." 

Eine Grunderkenntnis der Kommunikation lautet daher: Beim Sprechen geschehen in der Regel immer 4 Dinge:

  1. Wenn ich spreche, teile ich einen Sachverhalt mit - Information.
  2. Wenn ich spreche, spreche ich auch über mich - Selbstoffenbarung.
  3. Wenn ich spreche, sage ich meinem Gegenüber, was ich von ihm halte und wir zueinander stehen - Beziehung.
  4. Wenn ich spreche, versuche ich, Einfluss auf meinen Gesprächspartner zu nehmen - Appell.
Die Vielfalt der Botschaften soll ein anderes Beispiel, das dem klinischen Alltag entnommen ist, deutlich machen.
 
Lupe2 Abb.: Kommunikationspsychologische Betrachtung ("Lupe") der Nachricht "Ich habe immer noch starke Schmerzen" (modif. nach F. SCHULZ VON THUN)

Bei der morgendlichen Visite sagt die Patientin zum Arzt: "Herr Doktor, ich habe immer noch starke Schmerzen."

Es ist unverkennbar, dass auch diese scheinbar einfache Information mehrere Botschaften enthält: Die Botschaft: "Ich habe starke Schmerzen" (= Sachinhalt oder Information) ist für jeden unmissverständlich. Die 2. Aussage über die Sprecherin selbst (= Selbstoffenbarung). Wir können annehmen, dass die Patientin auch zum Ausdruck bringen will, dass sie enttäuscht ist über das bisherige Ergebnis der Behandlung, vielleicht auch entmutigt oder sogar verzweifelt. Die Tatsache, dass sie sich mit diesem Satz an den Arzt wendet, sagt auch etwas über ihre Beziehung zu ihrem behandelnden Arzt aus. Etwa in dem Sinn: ,Ich sage dir, dass ich starke Schmerzen habe, weil du derjenige bist, der etwas dagegen unternehmen kann‘. In dieser Botschaft ist aber auch etwas über das Verhältnis der Patientin zu ihrem Arzt enthalten: ,Ich wende mich mit meinen Schmerzen an dich, weil ich dir vertraue‘. Die Beziehungsbotschaft enthält demnach sowohl eine Aussage darüber, was die Patientin von ihrem Arzt hält, als auch darüber, wie sie zu ihm steht. Die 4. Botschaft schließlich, der Appell, ist unüberhörbar: ,Du sollst mir helfen!‘

Wenn also jemand mit mir spricht und ich den ganzen Gehalt dieser Nachricht erfassen möchte, so gelingt mir das am besten, wenn ich mir 4 Fragen beantworte:

  1. Was ist der Sachinhalt der Nachricht?
  2. Was sagt sie über meinen Gesprächspartner aus?
  3. Was will mein Gesprächspartner mit dieser Nachricht über mich und unsere Beziehung zueinander aussagen?
  4. Was möchte er erreichen?


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Anatomie der Nachricht 
Nachricht im Sinne zwischenmenschlicher Kommunikation ist die Gesamtheit der Botschaften, die der Sender dem Empfänger übermittelt. Sie ist "das ganze vielseitige Paket mit seinen sprachlichen und nichtsprachlichen Anteilen" (F. SCHULZ VON THUN).

Der Umfang einer Nachricht kann in weiten Grenzen variieren, ohne dass eine feste Korrelation zwischen Umfang und Informationsgehalt bestehen muss. So ist beispielsweise der Informationsgehalt der aus nur einem Wort bestehenden Nachricht: "Hilfe!" eines Ertrinkenden eindeutig höher als derjenige eines eine Seite langen Rundschreibens des Elektrizitätswerks, das, genaugenommen, nicht mehr aussagt, als dass der Strompreis in Kürze erhöht wird.

Selbst Schweigen als besondere Form des Nicht-Sprechens stellt eine Nachricht dar. Denn Schweigen ist nicht schlechthin mit Nicht-Sprechen gleichzusetzen, sondern Schweigen bedeutet, dass ich nicht spreche, obwohl ich sprechen sollte oder man es von mir erwartet. Das Phänomen Schweigen verdeutlicht sozusagen am Extrem das Grundgesetz der Kommunikation, das WATZLAWICK (1969) auf die Formel gebracht hat: "Man kann nicht nicht kommunizieren."

Die "Nachricht" Schweigen ist von Natur aus vieldeutig und daher für den Empfänger besonders schwer interpretierbar. Denn was bedeutet es beispielsweise, wenn ein Patient, der gefragt wird, wie es ihm geht, sich zur Wand dreht und schweigt? Die Selbstoffenbarungsseite der Nachricht lautet vielleicht: "Ich fühle mich so krank, dass ich es nicht sagen kann." Die Beziehungsbotschaften der Nachricht könnten lauten: "Du bist nicht für mich der richtige Gesprächspartner" - "Ich habe kein Vertrauen zu dir" - "Ich bin von der bisherigen Behandlung so enttäuscht, dass ich dir auch nicht sagen möchte, wie es mir geht." Die Appellseite der Nachricht heißt wahrscheinlich: "Lass mich in Ruhe!" – "Sprich nicht mit mir!"

Für das Verstehen des Gesprächspartners ist es wichtig zu klären, ob eine Nachricht nur explizite oder auch implizite Botschaften beinhaltet. Mit der expliziten Botschaft wird etwas ausdrücklich formuliert, während die implizite Botschaft nur indirekt etwas ausdrückt. Erschwerend kommt hinzu, dass es tatsächliche und scheinbare explizite Botschaften gibt.

Beispiel: Die explizite Botschaft "Ich gehe jetzt schlafen" ist unmissverständlich. Die Botschaft "Es ist schon viertel vor zwölf" enthält möglicherweise die gleiche Aussage, nämlich, "Ich möchte jetzt schlafen gehen." Vielleicht hat aber der Empfänger diese Aussage nur in die Botschaft "hineingelegt", während der Sender möglicherweise etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen wollte, z.B. "Es ist zwar schon viertel vor zwölf", aber ich bin noch so gut in Schwung, dass ich weiterarbeiten will."

Alle Botschaften einer Nachricht können explizit oder implizit sein, d.h. auf dem Feld der impliziten Botschaften ist die Gefahr von Missverständnissen besonders groß. Es ist lehrreich, ein x-beliebiges Alltagsgespräch auf seinen Anteil an expliziten und impliziten Botschaften zu untersuchen. In den meisten Fällen wird die Analyse zeigen, dass der Anteil impliziter Botschaften weitaus höher liegt als allgemein angenommen.

Zu den Grundfähigkeiten erfolgreicher Kommunikation gehört es, herauszufinden, welches die wirkliche Hauptbotschaft einer Nachricht ist. Ist es der ausdrücklich genannte Sachinhalt, oder steckt das Hauptanliegen in der implizit gesendeten Botschaft?

Das Nichterkennen impliziter Botschaften im Gespräch zwischen Arzt und Patient kann zu tiefgreifenden Kommunikationsstörungen führen. Die Angabe des Patienten "Von den roten Pillen bekomme ich so einen bitteren Geschmack im Mund" kann als rein explizite Botschaft mit eindeutigem Sachinhalt (subjektive Medikamentenunverträglichkeit) aufgefasst werden. Die impliziten Botschaften, die diese Nachricht - möglicherweise - auch oder sogar vor allem enthält, sind schwieriger zu identifizieren. Vielleicht wollte der Patient sagen "Ich halte Medikamente für Gift" oder "Ich werde diese Tabletten nicht mehr weiter einnehmen, weil sie mir nicht bekommen" - "Ich habe Zweifel, ob das das richtige Medikament für mich ist" - "Vielleicht schmecken die Tabletten so merkwürdig, weil die Diagnose überhaupt nicht stimmt" - "Ich habe kein rechtes Vertrauen in Ihre Behandlung" - "Ich möchte überhaupt nicht von Ihnen behandelt werden" - "Ich glaube, mir hilft überhaupt nichts mehr."

Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es, um eine Nachricht daraufhin abzuklopfen, ob sie auch implizite Botschaften enthält?

Eine Grundvoraussetzung ist das aktive Zuhören (siehe S. 42 Link). Ein weiterer Weg besteht darin, sich systematisch beim Zuhören auf das Erfassen impliziter Botschaften einzustellen, d.h. innerlich quasi eine "zweite Antenne" für die vom Patienten gesendeten Nachrichten aufzustellen, die auf implizite Botschaftsanteile einer Nachricht ausgerichtet ist. Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, sich bewusst darauf einzustellen, dass Nachrichten neben expliziten Botschaften hohe Anteile impliziter Botschaften enthalten können. Der 3. Weg ist die sorgfältige Beobachtung nonverbaler Nachrichtenanteile, d.h. die Analyse von Mimik, Gestik und Phonetik.

Die nonverbalen Nachrichtenanteile "qualifizieren" die Botschaften einer Nachricht. Dabei kann eine Nachricht jeweils kongruent oder inkongruent sein. Kongruent bedeutet, dass die Botschaften der Nachricht übereinstimmen und in die gleiche Richtung weisen, d.h., dass die Nachricht in sich "stimmig" ist. Bei der inkongruenten Nachricht stehen sprachliche und nichtsprachliche Signale in Widerspruch zueinander.

Beispiele: Das junge Mädchen, das ihrem Anbeter den Kuss verweigert und mit zur Seite gewandtem Gesicht sagt, "Nein, denn ich liebe dich nicht", sendet eine kongruente Nachricht aus. Der Mann hingegen, der nach einem Sturz vom Fahrrad mit schmerzverzerrtem Gesicht aufsteht und auf die Frage eines Passanten, wie es ihm geht, antwortet: "Das Leben ist wunderbar", sendet eine inkongruente Nachricht.

Leider ist es häufig nicht so leicht, wie in diesen beiden - zugegebenermaßen - überzeichneten Beispielen dargestellt, die Kongruenz bzw., was noch wichtiger ist, die Inkongruenz einer Nachricht zu erfassen. Auch kann der Widerspruch, in dem sprachliche und nichtsprachliche Anteile einer Nachricht zueinander stehen, nach außen hin relativ gering sein und nicht das volle Ausmaß der Inkongruenz widerspiegeln.



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Metakommunikation
Kommunikation läuft zwangsläufig immer auf zwei Ebenen ab: auf der Ebene der eigentlichen Mitteilung und der Ebene der Metakommunikation. Das Phänomen der Metakommunikation macht zusätzlich deutlich, wie komplex der Vorgang der Nachrichtenübermittlung in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist.

Metakommunikation bedeutet Kommunikation über Kommunikation, also eine "Auseinandersetzung über die Art, wie wir miteinander umgehen, und über die Art, wie wir die gesendeten Nachrichten gemeint und die empfangenen Nachrichten entschlüsselt und darauf reagiert haben". (F.SCHULZ VON THUN).

Metakommunikation kann ebenfalls explizit oder implizit ablaufen. Metakommunikation im eigentlichen Sinne ist explizite Metakommunikation. I. LANGER versucht, den Begriff der Metakommunikation durch ein Bild besser verständlich zu machen. Die Gesprächspartner begeben sich gleichsam auf einen "Feldherrnhügel", um Abstand von dem "Getümmel" zu nehmen, in das sie sich verstrickt haben. Auf diesem Feldherrnhügel der Metakommunikation machen Sender und Empfänger die Art, wie sie miteinander umgehen, zum Gesprächsgegenstand. Explizite Metakommunikation kann - sparsam eingesetzt - eine ausgezeichnete Methode sein, durch das bewusste Analysieren und Ansprechen von Störfaktoren in einem Gespräch das gegenseitige Verstehen der Gesprächspartner wieder zu ermöglichen.

Parallel zur Kommunikation auf der Mitteilungsebene läuft immer auch Kommunikation auf der Metaebene im Sinne einer implizierten Metakommunikation ab. Es ist der "So-ist-das-gemeint-Anteil" jeder Nachricht. Dadurch qualifizieren sich die Botschaften beider Ebenen gleichzeitig. J. HALEY (1978) unterscheidet dabei 4 Möglichkeiten, durch die Botschaften einander in kongruenter oder inkongruenter Weise qualifizieren können: Die Qualifikation durch den Kontext, die Art der Formulierung, durch Mimik und Gestik sowie den Tonfall.

Wenn die Fürstin in TOLSTOIS "Anna Karenina" in kühlem und trockenem Ton den jungen Ljewin mit den Worten verabschiedet "Wir werden uns freuen, Sie zu sehen", dann erlebt der so Verabschiedete ein klassisches Beispiel für implizite Metakommunikation. Er merkt, dass der Sachinhalt der Nachricht ("Wir werden uns freuen ...") eine leere Höflichkeitsfloskel ist, weil die eigentliche Botschaft durch den Tonfall der Verabschiedungsworte zum Ausdruck kommt.

Die richtige Entschlüsselung einer Nachricht ist daher auch wesentlich an die Fähigkeit gebunden, metakommunikative Inhalte zu erkennen. Das Wesen impliziter Metakommunikation lässt sich daher auf die kurze Formel bringen: "Wenn ich eine Nachricht sende, sende ich - ob ich will oder nicht - auch eine Botschaft, wie diese Nachricht gemeint ist" (F. SCHULZ VON THUN).



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Die Nachricht hören
Dass ein Sender das, was er mitteilen möchte, als Nachricht richtig verschlüsselt und der Empfänger die Nachricht wiederum so entschlüsselt, wie der Sender sie gemeint hat, kurzum, dass er also "versteht", scheint ein selbstverständlicher Vorgang zwischenmenschlicher Kommunikation zu sein. In Wirklichkeit ist es nahezu ein Glücksfall.

Schon die Erkenntnis, dass jede Nachricht 4 Botschaften enthält, die ihrerseits kongruent oder inkongruent, explizit oder implizit sein können, und dass neben Kommunikation auch Metakommunikation abläuft, lässt berechtigte Zweifel daran aufkommen, dass Miteinander-Reden und Sich-Verstehen ein einfaches Geschehen ist.

Die Komplexität dieses Vorgangs wird noch deutlicher, wenn wir uns klarmachen, dass die richtige Entschlüsselung der Nachricht durch den Empfänger voraussetzt, dass er für jede Botschaft einer Nachricht ein eigenes Ohr besitzt, also "vierohrig" (SCHULZ VON THUN) sein muss: Er benötigt ein Sachohr, ein Beziehungsohr, ein Selbstoffenbarungsohr und schließlich ein Appellohr (siehe Abbildung).

Abb.: Richtiges Verstehen setzt "Vierohrigkeit" des Empfängers voraus: a) Sachohr, b) Selbstoffenbarungsohr, c) Beziehungsohr, d) Appellohr (modif. nach F. SCHULZ VON THUN)

Das Sachohr prüft die Nachricht unter der Fragestellung: "Wie ist der Sachinhalt zu verstehen?" Mit dem Selbstoffenbarungsohr möchte der Empfänger etwas über seinen Gesprächspartner erfahren: "Was ist das für einer?" Mit dem - häufig sehr empfindlichen - Beziehungsohr fragt sich der Empfänger: "Wie steht mein Gesprächspartner zu mir? Was hält er von mir?" Und mit dem Appellohr horcht er die Nachricht auf die Frage hin ab: "Was will der Sender erreichen?"

Wie unterschiedlich die Nachricht "ankommt", je nachdem, auf welchem der 4 Ohren der Empfänger sie aufnimmt, zeigt wiederum ein einfaches Alltagsbeispiel: Beim Frühstück fragt der Mann seine Frau: "Wo hast du diese Wurst gekauft?"

Empfängt die Frau diese Nachricht auf dem Sachohr, wird sie antworten: "Im Kaufhaus." Hört sie nur mit dem überempfindlichen Beziehungsohr, dann wird sie die Frage als Kritik an ihren Hausfrauenfähigkeiten auffassen und antworten: "Du kannst ja auch bei euch in der Kantine frühstücken." War nur das Selbstoffenbarungsohr eingeschaltet, dann stellt die Frage eine erneute Bestätigung der Neigung ihres Mannes zum ständigen Kritisieren dar und wird vielleicht die Reaktion auslösen: "Musst du denn an allem herumnörgeln?" Versteht die Frau die Frage vorwiegend als Appell wird sie antworten: "Ich kann die Wurst ja beim nächstenmal beim Metzger statt im Kaufhaus kaufen."

Natürlich hört der Empfänger die Nachricht nicht nur auf einem Ohr, sondern empfängt - allerdings möglicherweise mehr oder minder gefiltert - alle 4 Botschaften der Nachricht gleichzeitig. Ein Grundproblem der Kommunikation besteht jedoch darin, dass es am Empfänger liegt, ob er bewusst oder unbewusst auf einem der 4 Ohren besonders hellhörig ist und auf welche Botschaften der Nachricht er reagiert.

Der gesprächsgeschulte Empfänger muss die Fähigkeit besitzen, die Nachricht, die der Sender ihm zukommen lässt, "vierohrig" zu empfangen. Hört er nur "einohrig", also beispielsweise nur mit dem Sachohr oder dem Beziehungsohr, weil er bewusst oder unbewusst die anderen Ohren verschließt, kann es zu erheblichen Kommunikationsstörungen kommen.

So neigen beispielsweise Männer in technischen oder akademischen Berufen dazu, selektiv mit dem Sachohr zu hören und außer dem Sachinhalt einer Nachricht keine der anderen Botschaften zu empfangen. Ehepaare hingegen, insbesondere, wenn sie sich in einer kritischen Phase befinden, empfangen nur noch auf dem Beziehungsohr und sind zu einer sachlichen Aussprache nicht mehr in der Lage. Sie liegen sozusagen ständig auf der "Beziehungslauer."

Für den Arzt ist ein gut geschultes Selbstoffenbarungsohr besonders wichtig. Es ist sozusagen sein diagnostisches Ohr, weil es aus der ankommenden Nachricht jene Anteile herausfiltert, die zu einem besseren Verständnis seines Patienten beitragen können. Auch werden beispielsweise emotionale Ausbrüche des Patienten, wenn sie statt mit dem Beziehungsohr mit dem Selbstoffenbarungsohr gehört werden, dem Arzt einen besseren Zugang zum Patienten ermöglichen.

Natürlich bedeutet dies nicht, dass der Arzt das Beziehungsohr grundsätzlich "abschaltet" und nur noch mit dem Sach- und dem Selbstoffenbarungsohr hört, denn dies würde bedeuten, dass er den Patienten nur noch als diagnostisches Objekt betrachtet und sich selbst der Fähigkeit, betroffen zu sein, beraubt.

SCULZ VON THUN hat auf eine weitere Gefahr hingewiesen, wenn ausschließlich das Selbstoffenbarungsohr gebraucht oder besser gesagt missbraucht wird, nämlich das Psychologisieren. Der Sachinhalt einer Nachricht wird gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, sondern nur noch unter dem Aspekt betrachtet, was für ein Mensch ist das, der hinter dieser Nachricht steckt. Der Empfänger bewertet alle Aussagen seines Gesprächspartners nur noch unter der Devise: "Der sagt das ja nur, weil er so und so strukturiert ist."

Für das aktive Zuhören ist ein gut geschultes Selbstoffenbarungsohr unerlässlich. Es gibt uns die Möglichkeit, uns in die Gedanken- und Gefühlswelt unseres Gesprächspartners einzufühlen, ohne ihn als bloßes Objekt zu betrachten oder ständig als Menschen zu bewerten.

Im Gespräch zwischen Arzt und Patient kommt dem Appellohr ebenfalls große Bedeutung zu. Viele Anliegen, Wünsche, Hoffnungen und Absichten unserer Patienten werden nicht direkt ausgesprochen und können, wenn das Appellohr nicht mithört und nur eine Analyse der Sachinhalte betrieben wird, gänzlich auf der Strecke bleiben.

Ein besonders verhängnisvolles Beispiel ist das "Überhören" von Suizidankündigungen, die - vielleicht zunächst noch - nur als Appell an die Umgebung gedacht sind. Ein geschärftes Appellohr bewahrt uns davor, insbesondere Appelle "auf leisen Sohlen" im Gespräch zu überhören.

Das Appellohr kann auch diagnostisch eingesetzt werden, wenn wir uns einer finalen Betrachtungsweise bedienen und nach dem Zweck einer Aussage oder Verhaltensweise fragen. Bereits Alfred ADLER bediente sich bei auffälligen Symptomen der Methode der "Wozu-Frage", also beispielsweise: "Wozu dient dir deine Migräne?".
 

Tabelle: Liegt eine Verständnisstörung vor, sollte der Empfänger folgende Checkliste durchgehen:
  1. Welche Botschaften enthielt die Nachricht?
  2. Welches war die Hauptbotschaft?
  3. Enthielt die Nachricht auch implizite Botschaften?
  4. War die Nachricht kongruent oder inkongruent?
  5. Was wurde auf der Ebene der Metakommunikation ausgedrückt? (der "So-ist-das-gemeint-Anteil" der Nachricht)
  6. Habe ich die Nachricht "vierohrig" oder nur "einohrig" empfangen?

Der Inhalt einer Nachricht, die der Sender abschickt, ist nicht wie bei einem Postpaket identisch mit dem Inhalt, der beim Empfänger "ankommt". Zutreffend nennt SCHULZ VON THUN die ankommende Nachricht ein "Machwerk" des Empfängers.

Was der eine gesagt und der andere gehört hat, ist vielfach nicht identisch. Wir nennen das ein Missverständnis und sind geneigt, nach der Schuld statt der Ursache zu suchen. Verstehen, aber auch Missverstehen, liegt im Wesen jeder Kommunikation.
 

Das Wissen, dass jede Nachricht verschiedene Botschaften enthält, und die Fähigkeit, Nachrichten vierohrig zu empfangen, sind der beste Garant dafür, dass Missverständnisse in der zwischenmenschlichen Kommunikation minimiert werden.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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